Kirchgemeinden haben zunehmend Mühe, ihre Räte und Präsidien zu besetzen
«Der Kirchgemeinderat plant und koordiniert die Tätigkeiten der Kirchgemeinde. Er legt Ziele und Schwerpunkte fest und unterstützt die Mitarbeitenden in der Erfüllung ihrer Aufgaben.» So sieht es die Kirchenordnung der reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn (Refbejuso) vor. Für dieses Milizamt wird nicht Schlange gestanden, im Gegenteil, verschiedene Kirchgemeinderäte in der Region sind nicht vollständig besetzt. In Huttwil und Melchnau ist das Präsidiumsamt vakant.
Kirchgemeinden · Die Freude in Trachselwald war gross, als nach anderthalb Jahren Vakanz der fünfte Sitz im Rat besetzt werden konnte (der «UE» berichtete). Doch nicht alle Kirchgemeinden können sich glücklich schätzen und wissen alle ihre Ratssitze besetzt: In Melchnau und Huttwil ist das Präsidium vakant, in mehreren weiteren Gemeinden in der Region fehlen Kirchenrätinnen und Kirchenräte. «Die Situation ist vergleichbar mit den politischen Gemeinden: Die Leute stehen nicht Schlange», weiss Ursula Trachsel. Die diplomierte Erwachsenenbildnerin und NPO-Managerin ist in der Refbejuso für den Bereich Behördenschulung zuständig und berät Kirchgemeinderäte. In einer Umfrage 2018 hätten 9 % der 217 befragten Gemeinden angegeben, Vakanzen in ihrem Rat aufzuweisen.
Tiefere Bereitschaft, kleinere Auswahl
Ursula Trachsel sieht einen Grund für die Schwierigkeiten beim Besetzen der Ämter die seit langem bekannte Tendenz, dass das Renommee des Milizamtes abgenommen habe. Dieser Einschätzung stimmt auch Andreas Kallweit zu. Der Vizepräsident der Kirchgemeinde Melchnau führt bis auf Weiteres die Gemeinde. Er sieht grundsätzlich eine tiefere Bereitschaft in der Bevölkerung, sich für die Allgemeinheit zu engagieren. «Und diejenigen, die beispielsweise für ein Amt im Kirchgemeinderat in Frage kommen, sind bereits engagiert, etwa in einem Verein oder einer anderen Behörde.» Thomas Eggler, Vizepräsident der Kirchgemeinde Huttwil, spricht eine weitere Tendenz an: «Der Kreis potenzieller Kirchgemeinderäte wird auf Grund aktiver Mitglieder und sinkender Mitgliedszahlen stetig kleiner.» Letzteres ist statistisch seit mehreren Jahrzehnten nachweisbar. Doch nimmt die Bereitschaft allgemein ab, sich kirchlich zu engagieren?
Verschwindet Religion vollständig?
Die Religionsforschung hat heute zwei Theorien zur Hand, um die sinkende Teilnahme am kirchlichen Leben zu erklären. Die Säkularisierungstheorie besagt, dass sich in der Schweiz (und allgemein in hoch entwickelten Staaten) die Religiosität im Niedergang befinde: Aufklärung und Moderne würden längerfristig dazu führen, dass die Religion ganz verschwinde. Die Wissenschaft könne die Welt erklären und der Wohlstand und hohe Lebensstandard führe zu einer Verringerung der Lebensrisiken. Gott wird als Erklärung und Anker überflüssig, der Glaube zunehmend aus der Öffentlichkeit verbannt. «Früher war Unglaube Privatsache, heute ist Glaube Privatsache», schreibt der Religionssoziologe Jörg Stolz im Buch «Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft» und umschreibt damit, dass auch die soziale Erwartung abgenommen habe, Teil einer Glaubensgemeinschaft zu sein. Statistische Daten scheinen dieser Theorie recht zu geben: Die Mitgliederzahlen der Landeskirchen nehmen ab, Klöster werden mangels Nachwuchses aufgelöst und am Gottesdienst nehmen weniger Gläubige teil.
Revolution der Institution
Gerade letztere Aussage ist nur teilweise richtig: Setzt man die Gottesdienstteilnahme in Relation mit der Anzahl Mitglieder, so nimmt die Teilnahme am reformierten Gottesdienst im kleinen Prozentbereich gar zu. Der Effekt ist damit zu erklären, dass diejenigen aus der Kirche austreten, die nicht oder nur selten am Gottesdienst teilnehmen. Die Verfechter der Individualisierungstheorie halten der Säkularisierungstheorie entgegen, dass sich die Religiosität verändere, aber nicht verschwinden werde. Der Rückgang der Mitglieder kirchlicher Institutionen «könnte bloss Anzeichen für einen sehr viel revolutionäreren Wandel sein: Die Ersetzung der institutionell spezialisierten Religion durch eine neue Sozialform der Religion», zitiert Jörg Stolz den österreichisch-amerikanischen Soziologen Thomas Luckmann. Das Individuum fühle sich unwohl in kirchlichen Institutionen, die über den eigenen Glauben und letztlich über die Lebensführung zu bestimmen scheinen, was zum Austritt führe. Statistisch gesehen nimmt die Religiosität, beispielsweise der Glaube an eine transzendente (eine die eigene Erfahrung und das Diesseits überschreitende) Macht oder eine Fortexistenz nach dem Tod, nicht ab, sondern bleibt konstant. Was abnimmt, ist die Zustimmung zum christlichen Glauben an einen allmächtigen, dreieinigen Gott oder eine Auferstehung nach dem Tod.
Keine Zauberstäbe
Wer Recht behalten wird, ist aus heutiger Sicht schwer zu beantworten, beide Theorien argumentieren wissenschaftlich fundiert und scheinen statistisch Recht zu haben. Einig sind sie sich in einem Punkt bestimmt: Die Anzahl Menschen, die einer religiösen Institution angehören und sich engagieren, nimmt ab. Und damit wird das Finden von neuen Kirchgemeinderäten in Zukunft nicht einfacher. Was empfiehlt Ursula Trachsel in diesem Umfeld den Kirchgemeinden, die bei Ihr um Rat suchen? «Wir haben keinen Zauberstab, und Lösungen sehen je nach Gemeinde anders aus», nimmt Trachsel vorneweg. «Wichtig ist, dass die Thematik im Rat permanent prä-sent ist, etwa indem sich jemand ständig der Aufgabe annimmt.» Die öffentliche Wahrnehmung einer Kirchgemeinde sei nicht zu unterschätzen und wirke sich auch auf die Sucherfolge aus.
Regionale Zusammenarbeit
«Wir raten den Kirchgemeinden, ein breites Spektrum an Mitgliedern für freiwillige Projektarbeit anzufragen.» So intensiviere sich der Kontakt zu den Freiwilligen, die später für ein Amt angefragt werden können. Refbejuso empfiehlt weiter, die Aufgaben im Kirchgemeinderat klar auf alle Mitglieder zu verteilen. Damit kann die zeitliche Belastung eines Kirchgemeinderates/einer Kirchgemeinderätin besser eingegrenzt werden. Das Wissen um die Aufgaben sowie um die ungefähre zeitliche Belastung ist auch für die Gewinnung von neuen Rätinnen und Räten ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Ursula Trachsel betont: «Besonders wichtig sind professionell geführte Verwaltungen, die administrative Arbeit abnehmen und organisatorisch à jour sind und damit den Kirchgemeinderat entlasten können.» Darüber hinaus lohne sich die regionale Zusammenarbeit, administrative Arbeiten wie die Finanzverwaltung würden bereits heute erfolgreich in grösseren Gemeinden konzentriert. Auf die besondere Belastung eines Präsidiums angesprochen, betont Ursula Trachsel die Wichtigkeit der einzelnen Ressorts, die dem Präsidium viele Aufgaben abnehmen könnten. «Auch ein Co-Präsidium ist nicht ausgeschlossen, es gibt Gemeinden, die diese Organisationsform erfolgreich leben.»
Ja und Nein zum Co-Präsidium
Auf ein Co-Präsidium angesprochen reagieren die beiden vorläufig von den Vizepräsidenten geführten Kirchgemeinden Huttwil und Melchnau unterschiedlich: Der Melchnauer Andreas Kallweit begrüsst ein mögliches Co-Präsidium, an dem sich der Vater einer jungen Familie beteiligen würde. «Alleine ist Familie, Beruf und Präsidium für mich nicht möglich.» Obschon, bis auf Weiteres wird Vizepräsident Kallweit zusätzlich zu seinem Ressort die Sitzungen leiten und die Gemeinde nach aussen vertreten. Der derzeit vierköpfige Kirchgemeinderat hat sich zum Ziel gesetzt, bis im Sommer das Amt des Präsidenten zu besetzen. «Bis da organisieren wir uns rollend», schmunzelt Kallweit.
Anders in Huttwil: Vizepräsident Thomas Eggler hat seine bisherigen Ressorts den Ratskolleginnen und -kollegen abgeben können, damit er während einem Jahr als Vizepräsident die Gemeinde ad Interim führen kann. Dem Co-Präsidium oder der Verkleinerung des Rats als Lösung steht er kritisch gegenüber: «Bisher ist es immer gelungen, die neun Sitze zu besetzen. Eine Verkleinerung bringt mehr Aufgaben für den Einzelnen und ein Co-Präsidium halte ich für ungeeignet, um eine öffentlich-rechtliche Institution zu führen.» Bis Ende 2021, so ist Eggler zuversichtlich, wird sich eine neue Präsidentin oder ein neuer Präsident finden.
Kirchgemeinderäte als Gestalter
Gesellschaftliche Trends wie die Säkularisierung und Individualisierung gehen an der Kirche nicht spurlos vorbei. Ob der Glaube ganz verschwinden wird oder sich eine neue Sozialform etablieren kann, wird die Zeit zeigen. Fehlende Kirchgemeinderäte dürften aber wohl erst Vorboten tiefgreifender Veränderungen sein. Und trotzdem: «Wir müssen nicht die Last eines Amtes betonen, sondern sehr viel mehr deren Wirkung. Wer in einem Rat mitarbeitet, kann etwas erreichen und gestalten.» Das betont mit Thomas Eggler ein Insider, der auf mehrere Amtsjahre in seinem Kirchgemeinderat zurückblicken kann.
Von Patrik Baumann