• Renata Keller hat die Klappstuhlgespräche initiiert. Sie liebt den Dialog, aber auch die Stille. · Bild: Marianne Ruch

  • Von links: Sabine Rothenbühler, Renata Keller und Sabine Koch in der «Dorfmitti Lützelflüh». · Bild: Marianne Ruch

11.11.2022
Emmental

Klappstuhlgespräche – Dialog statt Diskussion

In der «Dorfmitti Lützelflüh» einen zweistündigen Dialog mit rund zehn wild zusammengewürfelten Personen führen, ohne Themenvorgabe. Reden diese Personen wirklich miteinander? Ja, sagt Renata Keller. Sie ist die Initiantin der Klappstuhlgespräche in Lützelflüh. Wie kam sie auf die Idee? Was möchte sie mit diesen Gesprächen erreichen?

Lützelflüh · Renata Keller ist Filmemacherin, arbeitet als Lehrerin an einer Berufsfachschule und ist auch eine leidenschaftliche Dialogbegleiterin. Seit über 20 Jahren begleitet sie Gespräche mit Erwachsenen und Jugendlichen mit Themen wie: Was bewegt uns und unsere Mitmenschen? Welche Ängste haben wir? Wie gehen wir mit unterschiedlichen Meinungen um? Wovon träumen wir? Wie wollen wir einander begegnen, miteinander leben? Wo wollen wir gemeinsam hin? Vor zehn Jahren absolvierte sie die Ausbildung zum «European Dialog Facilitator». Auf Deutsch: Dialogbegleiterin.

Menschen reden zu wenig miteinander
«Ich bin der Meinung, dass die Menschen viel zu wenig miteinander reden», meint die Dialogbegleiterin. So hatte sie vor Jahren ein Schlüsselerlebnis, welches ihr zeigte, was es bedeutet, wenn Menschen wirklich miteinander reden. «Ich war Teil einer philosophischen Gruppe mit Teilneh­menden aus rund zehn Ländern und wir redeten über unsere kulturellen Hintergründe. Ich habe da gemerkt, dass jede und jeder Einzelne seine eigene Geschichte hat, und es war eindrücklich zu sehen, dass mit dem ehrlichen Dialog so viel Akzeptanz und Angenommensein möglich ist», erzählt sie sichtlich bewegt. «Wenn wir alle ehrlich wären und einander wirklich zuhören würden, könnten wir viele Probleme, auch die unserer Vergangenheit, untereinander lösen. Denn dann merken wir, dass wir alle miteinander verbunden sind, auch wenn wir ganz verschieden sind», ist sie überzeugt. Alles Leben sei Beziehung, und die Menschen wollen in Beziehungen sein, ergänzt sie. Renata Keller wuchs in Peru als Tochter von Schweizer Eltern auf. Sie reiste viele Jahre durch die Welt, lebte jeweils mehrere Jahre an einem Ort, arbeitete und führte auch Dialogseminare. So hat sie viele Kulturen und Menschen kennengelernt. Diese Erfahrungen bestätigten ihr nur noch mehr: Im Grunde genommen sind wir alle gleich.
Kurz vor Corona ist sie 2020 von Berlin ins Emmental gekommen und lebt nun seither glücklich in einem alten Bauernhaus. Dennoch hat sie eine Fantasie, ja einen Traum: «Ich träume davon, mit einem Bus durch Europa von Dorf zu Dorf zu fahren, anzuhalten, meine Klappstühle auszupacken und dort mit den Menschen Dialoge zu führen, ihnen zuzuhören», strahlt die 58-Jährige. «Mitten im Dorf, so wie hier in Lützelflüh im Bistro in der ‹Dorfmitti›.» So könnte man meinen, Renata Keller rede dauernd und viel. «Oh nein, ich liebe die Stille, das Inmichgehen und die Ruhe, und ich kann sehr gut für mich alleine sein», sagt sie lächelnd. Miteinander reden sei wichtig, aber in sich zu gehen und einander zuzuhören, raus aus seiner eigenen Welt zu kommen, sei gleichermassen wichtig, meint sie. «Heutzutage wissen die Menschen immer weniger, was richtig ist und was falsch. Und da bin ich der Meinung, dass ‹ruhig werden› und bewusst und sorgfältig miteinander zu reden, helfen kann, neue friedlichere Wege zu finden. In dem man andere Meinungen wirklich respektiert und so Anregungen bekommt, die einem persönlich weiterhelfen können», erklärt sie. Man wird oft überrascht in einem Dialog und lernt viel über sich und andere Menschen.

Klappstuhlgespräche
Die Klappstuhlgespräche dauern jeweils zwei Stunden. Renata Keller ist keine strenge Moderatorin, sie begleitet die Gespräche und ist einfach dabei. «Am Anfang sage ich, was mir für das Gespräch wichtig ist. Ich richte mich nach sechs Dialoghaltungen, die unter anderem beinhalten, dass wir zuhören, eine lernende und neugierige Haltung einnehmen, radikalen Respekt zeigen, von Herzen sprechen und uns kurz fassen», erklärt sie. Die Teilnehmenden stellen sich kurz vor und geben ihren Grund an, warum sie an dem Klappstuhlgespräch teilnehmen. Danach werden Themen gesammelt, worüber sich die Gruppe unterhalten möchte. Es kristallisiert sich jeweils recht schnell heraus, worüber gesprochen werden soll. «Aktuell sind es die Themen, welche die ganze Welt beschäftigt: Corona, der Krieg, die Energiekrise und wie wir eine ganzheitlichere Gesellschaft schaffen könn­ten.».
Und dann wird der Dialog gestartet. Alle dürfen sich einbringen, ihre Meinung sagen. Es wird nicht gewertet, sondern angenommen und respektiert. Eben ein Dialog geführt. «Der Unterschied zwischen einer Diskussion zu einem Dialog besteht vor allen Dingen darin, dass ich im Dialog etwas herausfinden möchte. In der Diskussion weiss ich es bereits und verteidige es. Die Haltung in der Diskussion ist: Ich gewinne oder ich verliere. Im Dialog ist es: Wir sind neugierig und wir teilen miteinander», erklärt sie. Das Gespräch findet in einem Vertrauensraum statt, es wird anschliessend nichts nach aussen getragen.
«Die Teilnehmenden können sich herrlich in den Gesprächen verlieren», freut sie sich. Und so lässt sie die Gespräche einfach laufen. «Es kann schon vorkommen, dass ich eingreife, etwa dann, wenn eine Person ununterbrochen redet und die andern nicht mehr zu Wort kommen lässt. Aber ansonsten lasse ich dem Dialog freien Lauf.» Wenn die Nachfrage besteht, werden die Klappstuhlgespräche auch im nächsten Jahr weitergeführt. Die Gespräche finden aus privater Initiative von Renata Keller und in Verbindung mit der «Dorfmitti» statt. Sie hat ihre eigene Dialogpraxis, angelehnt an die Dialogmethoden von David Bohm (ein US-amerikanischer Quantenphysiker und Philosoph) und anderen Vorreitern, entwickelt. David Bohm sagt etwa: «Und wenn wir in der Lage sind, alle Ansichten gleichermassen zu betrachten, werden wir vielleicht fähig sein, uns auf kreative Weisen in eine neue Richtungen zu bewegen.»

Dorfmitti Bistro und Unverpackt-Laden
«Ich war öfters hier im Bistro in der ‹Dorfmitti› und eines Tages dachte ich mir: Das wäre ein perfekter Platz für meine Klappstuhlgespräche», erzählt Renata Keller. Sabine Ro­thenbühler, Inhaberin und Geschäftsführerin der «Dorfmitti Lützel­flüh», dem Unverpackt-Laden, war sofort begeistert. «Wir wussten zwar nicht, was auf uns zukommt. Aber die offene Kommunikation und dass jeder und jede hier willkommen ist, ist mir persönlich sehr wichtig, und so sagten wir spontan zu», erzählt die 35-Jährige. Sabine Rothenbühler ist zusammen mit Sabine Koch Inhaberin der «Dorfmitti Lüt­zelflüh», und die beiden haben schon einige Veranstaltungen und Vorträge in ihrem Bistro durchgeführt. So folgt bald etwa die Veranstaltung von «Füdeliwohl» für einen nachhaltigen, müllarmen und achtsamen Lebensstil mit einem Baby. «Für uns ist es bereichernd, solchen Anlässe eine Plattform zu bieten. Sie passen perfekt zu unserer Philosophie der Regionalität und Nachhaltigkeit», erklärt Sabine Rothenbühler. Sie hat selbst noch an keinem der Klappstuhlgespräche teilgenommen, war aber vor Ort. «Ich habe sofort die gute Stimmung gespürt. Und es war beeindruckend, die Teilnehmenden vor und nach dem Gespräch zu sehen.» So wird sie gerne an einem der nächsten Dialoge teilnehmen, wenn sie einmal frei hat. Sabine Rothenbühler erklärt zu ihrem Unverpackt-Laden: «Ich störte mich schon immer an dem vielen Abfall und eines Tages sagte ich mir, jetzt reicht’s. Leider fand ich damals in der Region kaum einen Unverpackt-Laden zum Einkaufen. Also sagte ich mir, mache ich eben selber einen auf. Sabine Koch und ich passen da wunderbar zusammen – wir leben die gleiche Philosophie von ‹regional› und ‹so wenig Abfall wie möglich›». Das gemütliche Bistro direkt im Laden lädt zum Verweilen ein und eben auch für gute Gespräche bei einem feinen Tee oder Imbiss.

Leidenschaftliche Filmemacherin
Renata Keller ist auch leidenschaftliche Filmemacherin. Für sie ist das Filmen ein weiterer kreativer Weg, mit Menschen ins Gespräch zu kommen und Gespräche anzuregen, neue Ideen zu entwickeln − mit den Protagonistinnen und Protagonisten und dem Publikum. Sie hat bereits mehrere Filme gemacht, unter anderen «Warum Frauen Berge besteigen sollten», «Echte Heilung findet in Freiheit statt», «Im Feuer der tanzenden Stille» und «Ein Hundeleben im Emmental». Nach den Filmveranstaltungen finden oft auch Gespräche statt, bei denen die Themen des Filmes vertieft werden. Derzeit arbeitet sie an ihrem nächsten Filmprojekt.

 Gut zu wissen
Die Klappstuhlgespräche finden jeweils samstags von 12 bis 14 Uhr, am 12. und 26. November, 10. und 24. Dezember, in dem Dorfmitti Bistro Lützelflüh, Dorfstrasse 9, Lützelflüh. Sie sind kostenfrei. Eine Konsumation im Bistro ist möglich. Maximal zehn Teilnehmende. Anmeldung und Info im Laden oder bei: keller.renata@posteo.de (Anmeldungen bis ein Tag vor dem Treffen). Weitere Infos: www.klappstuhlgespraeche.ch; www.dorfmittiluetzelflueh.ch

Von Marianne Ruch