Krise wird Psychiatrie anhaltend fordern
Die Corona-Krise beschäftigt die Menschen in gesundheitlicher, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. Mit den Ängsten, die dadurch entstehen, werden sich auch psychiatrische Dienste auseinandersetzen müssen. Marieke Kruit, Leitende Psychologin bei den ambulanten psychiatrischen Diensten des Spitals SRO, bemerkt bereits jetzt eine drastische Veränderung des Arbeitsalltages.
Langenthal · Kurzarbeit im Job, ständiges Aufeinandersitzen zu Hause und das Fehlen von gewohnten sozialen Kontakten lösen derzeit bei vielen Menschen unbekannte Problemzustände aus. Nicht wenige wenden sich deshalb an einen Therapeuten. Das bemerken auch die psychiatrischen Dienste des Langenthaler Regionalspitals SRO. Insbesondere Anrufe beim Notfalltelefon haben deutlich zugenommen, weiss die Leitende Psychologin Marieke Kruit. «Oft genügt eine kurzfristige Unterstützung, beispielsweise ein Telefongespräch», so die Leiterin der ambulanten psychiatrischen Dienste. Gemeinsam werde dann über Ängste und Probleme diskutiert und nach Lösungen gesucht. Ob eine langfristige psychiatrische Behandlung nötig ist, wird sich meist aber erst später zeigen.
Bereits heute gehe sie davon aus, dass die Arbeit mit dem Ende der bundesrätlichen Massnahmen nicht abgeschlossen sein wird. «Die Probleme können in gewissen Fällen bestehen bleiben, weshalb wir erst zum Ende der verschärften Massnahmen eine Zunahme der Konsultationen erwarten», so Marieke Kruit. Eine Zunahme von Langzeitpatienten konnte bisher aber noch nicht festgestellt werden.
Tagesstruktur behalten und ablenken
Klar sei aber, dass Menschen auch in dieser Krise sehr unterschiedlich reagieren. Betroffen seien alle, nicht jeder brauche aber auch professionelle Hilfe. «Einzelne Menschen sind stressresistenter und können einfacher mit solchen Situationen umgehen. Manchmal genügt auch ein Gespräch mit Familienangehörigen. Hier muss jeder für sich entscheiden, wann er professionelle Hilfe in Anspruch nehmen will», erklärt Marieke Kruit und gibt sogleich ein paar Hinweise: «Wer beispielsweise konstant Mühe hat, zu schlafen oder stundenlang herumgrübelt und die negativen Gedanken nicht loswird, soll sich diesen Schritt überlegen.»
Den Patienten rate sie zu unterschiedlichen Lösungsansätzen. Wichtig sei in erster Linie, einen strukturierten Tagesablauf beizubehalten. «Auch jene, die nicht mehr arbeiten können, sollten wie gewohnt morgens aufstehen und sich anziehen. Ein Wochenende im Pyjama kann ja lustig sein, aber auf Dauer schafft das eher Probleme.» Wer aber weiterhin arbeiten darf, jedoch Mühe mit dem Alltag hat, der solle sich so gut wie möglich ablenken. «Beispielsweise ein altes Hobby reaktivieren. Backen oder Kochen. Sport treiben ist auch eine gute Idee.» Wichtig sei zudem das Aufrechterhalten von sozialen Kontakten, wenn auch mit der nötigen Distanz. «Eine Telefonkonferenz mit Fussballkollegen oder ein Anruf bei Verwandten kann einem schon viel geben.» Social Distancing sei deshalb eigentlich der falsche Ausdruck, um sich zu schützen. Vielmehr solle man sich physisch und nicht sozial von seinen Kontakten abgrenzen.
Grosse Ungewissheit
Besonders wichtig sei in der aktuellen Situation indes, die Probleme nicht zu verlagern. «Alkohol und Drogen sind kein Ausweg, um der Situation zu entfliehen», sagt Marieke Kruit. Dazu komme, dass Personen, die aufgrund solcher Abhängigkeiten in Behandlung sind, im Zusammenhang mit der Isolation umso stärker auf die Probe gestellt werden. «Auch deshalb sind wir weiterhin da für unsere Patienten. Vielen Menschen ist dieser persönliche Kontakt zu uns sehr wichtig. Er verleiht ihnen Stabilität.»
Wo zuvor jedoch Nähe aufgebaut wurde, gilt es nun, Distanz zu halten. So diente vor der Coronakrise beispielsweise die Begrüssung, das Händeschütteln als erste Kontaktaufnahme, die Nähe darstellt. Dies ist aber nicht mehr länger möglich. «Es ist eine Herausforderung, die auch bei uns den Alltag auf den Kopf stellt», weiss die Leitende Psychologin. Das führt auch dazu, dass dem Schutz der eigenen Mitarbeiter ein besonderer Wert beigemessen wird. «Sie alle sind von den Veränderungen persönlich ebenfalls betroffen. Es ist wichtig, dass auch sie mit der Situation umgehen können und gesund bleiben, damit wir weiterhin für unsere Patienten dasein können.» Hier halte man sich an die Vorgaben des SRO, nicht zuletzt auch, um Ansteckungen zu verhindern.
Noch keine Skype-Beratung
Eine Unsicherheit bleibe aber dennoch für beide Seiten, viele Patienten hätten deshalb bereits jetzt auf eine persönliche Konsultation zu Gunsten eines Telefongesprächs verzichtet. Zwar sei auch Internet-Therapie ein bereits zuvor diskutiertes Thema, über Skype wird vorerst aber noch nicht behandelt, verrät Marieke Kruit. «Komplett ohne Beratungstermine, die von Angesicht-zu-Angesicht stattfinden, wird es auch in Zukunft nicht gehen. Durch die aktuelle Siuation steigt aber die Sensibilisierung zu solch neuen Möglichkeiten», weiss die Bernerin. Und sollten die Massnahmen noch verschärft werden, wird auch der ambulante psychiatrische Dienst womöglich auf Innovationen angewiesen sein, um weiterhin für seine Patienten da zu sein. «Es ist die Ungewissheit, die viele Menschen derzeit nur schwer aushalten können», sagt Marieke Kruit. Niemand weiss, wie lange die Situation anhält und wie es weiter gehen wird. Vor allem auch deshalb seien die derzeit vorhandenen Ängste völlig normal und nachvollziehbar.
Von Leroy Ryser