Landesstreik – auch der Oberaargau betroffen
«Das Ende des Ersten Weltkrieges 1918, der Generalstreik und seine sozialen Auswirkungen in der Schweiz.» Am öffentlichen Vortrag der Historischen Gesellschaft Langenthal zu diesem Thema beleuchtete Forschungsstipendiat Daniel Artho die Geschehnisse vor 100 Jahren und deren Folgen.
Der Traffeletsaal im Hotel Bären in Langenthal ist randvoll. Rund 70 Interessierte wollen von einem profunden Kenner erfahren, wie es vor 100 Jahren zum Landesstreik gekommen ist. Riccardo Mordasini (Vizepräsident der Historischen Gesellschaft Langenthal) spricht bei der Begrüssung von einem Schlüsselereignis, zumal 1918 ein Bürgerkrieg gedroht habe. Zum Glück sei der Streik abgebrochen und danach die Weichen für unsere heutige Demokratie gestellt worden. «Die Ängste spielten damals eine grosse Rolle», betont Kurt Aeschlimann, Organisator des Anlasses, und liest ein Gedicht vor, das er von einer Oberaargauerin erhalten hat und das exakt die Stimmung von damals wiedergibt.
Streik in Langenthal bei Ammann
Was nun Referent Daniel Artho bei seinem historischen Rückblick berichtet und dokumentiert ist hochspannend. Der Doktorand am Historischen Institut der Uni Bern gliedert den Ablauf in vier Teile: Der Landesstreik in Langenthal. Die Ursachen des Landesstreiks von 1918. Der Ausbruch des Landesstreiks. Die Streikforderungen des Oltener Aktionskomitees und die Folgen des Landesstreiks. Artho unterstreicht, dass auch Langenthal im November 1918 vom Landesstreik betroffen war – beispielsweise die Maschinenfabrik Ammann. Dort habe es jedoch keine Entlassungen gegeben, und die Löhne seien dann ohne Abzüge ausbezahlt worden. Im Elektrizitätswerk Wynau und bei der Eisenbahn sei die Arbeit ebenfalls verweigert worden – und im «Bedli» hätten sich 400 Arbeiter versammelt. Die Streikenden hätten allerdings Arbeitswillige nicht behindert, weshalb der Streik hier «in geregelten Bahnen» durchgeführt worden sei – «trotz kleiner Handgreiflichkeiten und Pöbeleien».
700 000 unter der Armutsgrenze
1918 hätten in der Schweiz 700 000 Menschen unter der Armutsgrenze gelebt, so der Referent. Die Lebenshaltungskosten seien rasch gestiegen, die Löhne hingegen hätten auf dem Vorkriegs-Niveau verharrt. «Entsprechend schlecht war in der Schweiz am Ende des Ersten Weltkriegs die Stimmung. Das Klima war vergiften.» Artho zeigt Fotos. Auf einem wird zur Teuerungsdemonstration nach Bern aufgerufen, eines zeigt Bedürftige in der Volksküche in Basel. Auf einem SP-Wahlplakat sind noble Herren mit aufgesetzten Zylinder-Hüten zu sehen. «Abe mit ne!», lautet die Botschaft dazu. Sozialdemokrat Robert Grimm (1881 bis 1958), Berner Stadtrat, Grossrat, Nationalrat, Präsident des Oltener Aktionskomitees und Chefredaktor der «Tagwacht», sei die treibende Kraft des Landesstreiks 1918 gewesen, so Daniel Artho. Es sei ein Kampf um politische Partizipation, soziale Sicherheit und gerechte Lastenverteilung entstanden.
«Der Bolschewik geht um»
Auf der «Nebelspalter»-Titelseite ist die Helvetia auf einem Pulverfass zu sehen. Auf einem Luzerner christlich-sozialen Wahlplakat steht: «Schweizer, der Bolschewik geht um!». Wichtige Gebäude in der Schweiz – auch das Bundeshaus – sollten, Gerüchten zufolge, gesprengt werden. Gezielt gestreute Falschmeldungen wie jene in der «Gazette de Lausanne» hätten die Gerüchteküche angeheizt, so Daniel Artho. Der Bundesrat bietet im November 1918 – um die Situation zu kontrollieren – 100 000 Soldaten auf. Arbeiter – angeführt vom Oltener Aktionskomitee – protestieren mit einem landesweiten Streik. In Zürich wird ein Soldat getötet, in Grenchen drei Unbeteiligte bei Protesten erschossen, als der Streik bereits beendet ist.
48- statt 60-Stundenwoche
Einige der Forderungen der Streikenden: «Sofortige Neuwahl des Nationalrats auf der Grundlage des Proporzes. Aktives und passives Frauenwahlrecht. Einführung der 48-Stundenwoche. Reorganisation der Armee im Sinne eines Volksheeres.» Tatsächlich ist damals die 60-Stundenwoche mit sechs Arbeitstagen die Regel. 1919 wird die 48-Stundenwoche, eine zentrale Landesstreik-Forderung, eingeführt. Im gleichen Jahr findet für den Nationalrat erstmals eine Wahl im Proporz-System statt, bei der die SP ihre Sitze auf 41 steigern und damit nahezu verdoppeln kann. Auch die damalige Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) ist im Nationalrat plötzlich mit 30 statt bisher 3 Sitzen vertreten – 16 allein im Kanton Bern. Die Freisinnigen bleiben mit 60 Sitzen stärkste Partei, müssen aber ein Minus von 43 Sitzen verdauen.
Rote Männer klauen Bauern Kühe
Der Unmut über Kriegsgewinner und Profiteure sei 1918 weit verbreitet gewesen, sagt der Doktorand am Historischen Institut der Uni Bern und zeigt ein Plakat von damals, das für eine Alters- und Hinterlassenen-Versicherung wirbt und ein eindrückliches Plakat gegen die Volksinitiative für die «Einmalige Vermögensabgabe aus dem Jahr 1922», auf dem rote Männer zu sehen sind, die versuchen, den Bauern die Kühe zu stehlen. Diese Steuer wurde mit 87 Prozent der Stimmen deutlich abgelehnt. Der Referent erinnert an Ernst Nobs, der Lehrer in Wynau und erster SP-Bundesrat war – gewählt im Dezember 1943. Die Zauberformel mit zwei Sitzen für die SP im Bundesrat gehe auf das Jahr 1959 zurück. Fast gleichzeitig wurde die Invalidenversicherung Tatsache, nachdem die AHV im Jahr 1948 verwirklicht wurde. Die SP, früher «als landesverräterische Partei zum Teil isoliert und als revolutionäre Umsturzpartei verschrien», sei zusammen mit den Gewerkschaften in die politischen Entscheidungsprozesse einbezogen worden. Arbeitsfrieden und Sozialpart-
nerschaft seien die Folge.
Lob für Kompromissbereitschaft
Bei der dem Referat folgenden Fragerunde, an der sich auch der Langenthaler Historiker Max Jufer aktiv beteiligt, wird die beidseitige Kompromissbereitschaft von Unternehmern und Arbeitern als «grossartig» bezeichnet und gelobt. Weil 1918 die Arbeiter im Gegensatz zu den Militärtruppen nicht bewaffnet gewesen seien, sei die Schweiz damals nicht am Rande eines Bürgerkrieges gestanden, wird betont. Aufgefallen ist den im Traffeletsaal Anwesenden, dass es primär SP und SVP seien, die mit verschiedenen Veranstaltungen des Landesstreiks vor 100 Jahren gedenken, was bei der CVP und der FDP kaum der Fall sei. Zuletzt gibt es für Daniel Artho viel Applaus, hat er es doch vorzüglich verstanden, der Zuhörerschaft die Geschehnisse vor 100 Jahren vor Augen zu führen. Riccardo Mordasini dankt für den spannenden Vortrag und empfiehlt den Besuch aktueller Ausstellungen in Zürich, Grenchen, Biel und Bern zu den Ereignissen vor 100 Jahren.
Von Hans Mathys