Leben mit MS ist auch ein Leben mit Hoffnung
«Gemeinsam Zuversicht teilen»: Dazu lud das Neurozentrum Oberaargau nach Langenthal zu einem Begegnungstag für Menschen mit Multipler Sklerose (MS), Angehörige und Freunde ein. Im Vordergrund stand dabei vor allem der persönliche Austausch unter den gegen 400 Gästen. Zwei Fachreferate zeigten zudem die neuste Entwicklung in der Behandlung von MS auf. Als besonderer Höhepunkt brachte die Eishockeytrainerlegende Arno del Curto das Leben mit Multipler Sklerose in Verbindung mit Sport unter dem Thema: «Kampf mit dem Kopf und dem Körper». Doch was bedeutet MS für
Betroffene? Die Oberaargauerin Daniela Spichiger gewährt einen Einblick in ihr Leben.
Oberaargau · Diese Öffentlichkeit hat die 58-jährige Oberaargauerin Daniela Spichiger wirklich nicht gesucht, gibt sie unumwunden zu. Aber sie hat sich dennoch bereit erklärt, über ihr Leben mit Multipler Sklerose zu sprechen, weil es für sie wichtig ist, dass MS nicht tabuisiert werden darf. «Diese Krankheit ist nicht mein Freund», platzt sie aber sogleich heraus. «Es gibt zwar etliche Prominente, die sagen, diese Krankheit sei ihr Freund. Da frage ich mich, wo die leben.» Ja, sie sei halt sehr direkt, sage frei heraus, was sie denke, und hat für MS deftige Bezeichnungen parat. «MS ist so perfid, das kann ich nicht schönreden.»
Geburtstag nie mehr gefeiert
Als sie 2003 die Diagnose erhielt, traf sie dies völlig unvorbereitet und heftig. 1999 hatte sie erstmals Anzeichen von Taubheit in ihren Händen festgestellt. «Mir wurde damals gesagt, das sei wegen den Nerven und dem Stress bei der Arbeit», erinnert sie sich ungern und fragt sich: «Was für einen Stress?» Erst vier Jahre später wurde ihr ein MRI bewilligt und dann kam der Hammer: Multiple Sklerose. «Was mein erster Gedanke war?» Sie schüttelt auf die Frage den Kopf, als ob sie die Erinnerung abschütteln will. «Sicher nichts Gutes. Ich bin unheilbar krank! Man kann doch jetzt nie mehr glücklich sein. Alles, was man sich für sein Leben vorgenommen hat, kann man auf einen Schlag vergessen. Ich kann keinen Sport mehr machen. Ich fahre doch so gerne Ski. Seit der Diagnose feiere ich meinen Geburtstag nicht mehr.» Damals stand sie zudem gerade am Beginn einer neuen Beziehung. «Wie geht das weiter?» Doch ihr Partner sagte ihr: «Ich habe dich so gerne, wie du bist.» Und das waren keine leeren Worte, hat die Beziehung doch bis heute Bestand. Den Kinderwunsch musste sie sich jedoch aus dem Kopf schlagen, nachdem sie sich in den ersten Behandlungsjahren einer Chemotherapie unterziehen musste. «Da gehen all die Pläne, die man für sein Leben geschmiedet hat, auf einmal die Aare hinunter.»
Doppelt fremdbestimmt
Nach dem MRI-Befund hatte sie gleich drei MS-Schübe miteinander und ist im Spital gelandet. «Und da beginnt das Kopfkino ununterbrochen zu laufen. Man fragt sich, zu was man noch fähig sein wird.» Doch hat nicht nur die Krankheit ihr weiteres Leben in den Griff genommen. «Man wurde damals auch in ein bestimmtes Schema hineingepresst.» So hiess es, sie dürfe künftig nicht mehr Auto fahren, Arbeiten sei wohl auch nicht mehr möglich. Fremdbestimmung hoch zwei. «Da fühlte ich mich nur noch als eine Nummer, als jemand, die nichts mehr wert ist.» Doch sie hat Tag für Tag gegen diese Schubladisierung gekämpft. Und die gelernte Hochbauzeichnerin, die aber schon seit längerem in der Logistikbranche tätig war, konnte noch bis vor rund sechs Jahren weiter berufstätig sein. Bis es die «Fatigue» (anhaltende und subjektive Empfindung von physischer und mentaler Erschöpfung, von dem über 3/4 aller MS-Patienten betroffen sind) nicht mehr zuliess. «Irgendwann magst du einfach nicht mehr, jeden Tag gegen dich und die Krankheit zu kämpfen, nur um arbeiten gehen zu können. Ich habe mich dabei zu fest unter Druck gesetzt und das hat mir gar nicht gut getan», resümiert Daniela Spichiger. «Man muss auf so vieles verzichten, was Lebensqualität und Abwechslung bringt.» Gerade jetzt im Frühling verspüre sie grosse Lust, im Garten anzupflanzen. Doch das könne sie nicht mehr. Nicht einmal mehr Staubsaugen, weil sie kein Gleichgewicht mehr habe. Sie sei halt nicht mehr so beweglich und der Rücken mache Probleme. Immerhin müsse sie aber nicht im Rollstuhl sein, sondern könne sich mit dem Rollator bewegen; und vor allem: «Ich kann noch Auto fahren», sagt sie mit Genugtuung.
Das Schicksal fragt nicht
Von den Freunden und Bekannten habe sich niemand zurückgezogen. «Jeder ist hier überfordert, doch die Reaktionen waren eigentlich eher positiv, aber auch erschreckt: ‹Ausgerechnet› du? Doch das Schicksal stellt keine Auswahlkriterien, es bestimmt einfach», sinniert Daniela Spichiger. «Hingegen kann es sein, dass ich mich zurückgezogen habe.» Wenn man sich treffe, frage man, wie es einem geht. «Doch, was habe ich zu erzählen ? Ich habe jeden Tag den gleichen Ablauf. Ich stehe auf, trinke Kaffee und setze mich hin. Mein Alltag ist derart eintönig.» Da gebe es keine Neuigkeiten. «Ich bin eigentlich ein eher ernster Mensch. Aber damit ich nicht dauernd über meine Krankheit reden muss, bin ich vordergründig eher die Lustige, die Witze macht, um dem Thema aus dem Weg zu gehen. Ich will nicht dauernd über meine Einschränkungen und Beschwerden reden. Ich will nicht über meine Krankheit definiert werden. Eigentlich bin ich wertvoll und nicht Multiple Sklerose.» Wie sollen ihr die Menschen denn begegnen? «Sie sollen einfach so sein, wie sie sind. Ich lebe zwar seit über 20 Jahren mit MS, aber ich bin immer noch Daniela Spichiger.» Es gebe aber Momente, in denen es ihr absolut nicht gut gehe. «Und dann kommen einem schlimme Gedanken, die von einem psychisch sehr viel abverlangen.» Da dürfe man die Hoffnung nicht verlieren, die Hoffnung, dass man sich doch irgendwie durchbeissen kann. Was gibt ihr die dazu nötige Kraft? «Die Familie, das positive Denken.» Aber auch die Umgebung, wo sie jetzt wohnt. Das kleine Haus, die Geissen, Schafe, Katzen und vor allem die beide Hunde. «Die sind unser Ein und Alles.» Ein Hobby, das ihr gefällt. Und dann geniesst sie auch die Ruhe ihres Wohnorts.
«Es ist, wie es ist. Fertig!»
Sehr wichtig ist Daniela Spichiger auch das kleine Team, mit dem sie sich in Langenthal im Neurozentrum Oberaargau von Andreas Baumann regelmässig einmal im Monat trifft. «Wir haben alle die gleiche Form von MS und können uns so über unsere Erfahrungen austauschen.» Für sie hat sich seit 2011 einiges geändert, seit sie bei Andreas Baumann in Behandlung sei. «Bei ihm bin ich Daniela Spichiger und nicht nur irgendeine Nummer.» Seither hatte sie auch keinen MS-Schub mehr gehabt und weiterhin keine Schmerzen. «Hätte ich Andreas Baumann früher kennengelernt, hätte man vermutlich den Verlauf der Krankheit hinauszögern können und ich wäre vielleicht besser dran, das wäre schön. Doch ich will dem nicht nachtrauern, das hat keinen Sinn. Es ist, wie es ist. Fertig!», sagt Daniela Spichiger mit Nachdruck und beendet das Gespräch. Sie freut sich nun, am Begegnungstag ihre «Team-Gspändli» zu sehen und – als Sportaffine – vor allem auf den Auftritt von Arno del Curto.
Mentale Stärke ist entscheidend
Ihre Erwartungen an Arno del Curto dürften nicht enttäuscht worden sein. So enthusiastisch er als Eishockeytrainer war, so viel Herzblut war auch in seinen Worten spürbar zum Podiums-Thema «Kampf mit dem Kopf und dem Körper – was Eishockey mit der Multiplen Sklerose gemeinsam hat». Auf seine Verletzung ansprechend, die seine Spielerkarriere beendet hatte, fragte Andreas Baumann: «Wie schafft man es, sich neu zu orientieren, wenn plötzlich etwas nicht mehr so geht, wie vorher?» Arno del Curto: «Die mentale Stärke ist entscheidend. Wenn jemand handicapiert ist, kann er mit mentaler Stärke und Optimismus sicher mehr erreichen als jener, der sich gehen lässt, dem Schicksal ergibt. Wer über Stolz verfügt, wird Vollgas geben und am Ball bleiben, bis er das Ziel erreicht.» Das erfahre er auch in seinem Umfeld bei Menschen, die mit MS leben. Wichtig sei dabei, dass man sich Ziele setze. «Wenn ich ein Ziel habe, mache ich alles dafür mit Spass und voller Leidenschaft. Ich sehe alles in meinem Kopf, was ich tun muss – und das tue ich dann auch –, um das Ziel zu erreichen. Ich bin dann fast wie in Trance.» Diese mentale Stärke sei bei ihm wirklich sehr hoch. «Ich habe keine Ahnung wieso, das muss mir in die Wiege gelegt worden sein.» Seine Leidenschaft, sich für eine Sache voll und ganz einzusetzen, bewies er auch an diesem Begegnungstag. So verzichtete er nicht nur auf sein Honorar, sondern organisierte auch signierte Hockey-Trikots vom HC Davos, den Langnau Tigers und dem SC Bern, die am Abend versteigert wurden. Der Erlös samt Honorar fliesst dem allani Kinderhospiz Bern zu, der im Juni 2024 offiziell eröffnet wird. Dies ist das erste Hospiz für Kinder in der Schweiz und bietet acht Plätze für Kinder in der letzten Lebensphase und deren Familien, Angehörigen (rund 100 Familien pro Jahr). Es schafft ein Entlastungsangebot vom Alltag zu Hause. Gemäss Hochrechnung gibt es in der Schweiz rund 5000 kranke Kinder ohne Aussicht auf Heilung, von denen pro Jahr jedes zehnte stirbt. In der Schweiz gibt es ausserhalb der Spitäler zu wenig Angebote für Entlastung rund um die Uhr. Für viele Familien bedeutet die über Jahre notwendige hochkomplexe Betreuung eine hohe emotionale, finanzielle, administrative Belastung.
Von Thomas Peter