Lebensgeschichten aus dem Zelgli
Werner Scheidegger besuchte während rund zwei Jahren Bewohnerinnen und Bewohner der Alterswohnsiedlung Zelgli in Madiswil und liess sie über ihr Leben erzählen. Mit Neugierde, viel Zeit und Musse hat er nachgefragt, zugehört und aufgeschrieben. Daraus entstand nun ein berührendes und lesenswertes Buch, «Gespräche am Küchentisch».
Madiswil · Man hört das oft, ab einem bestimmten Alter scheint man sich fast einig zu sein: Früher war alles besser. Diesen Eindruck bekommt man aber nicht unbedingt, wenn man die 22 Biographien im neuen Buch von Werner Scheidegger liest.
Viel ist von einer Kindheit in bescheidenen Verhältnissen die Rede, von strengen Eltern und von einem Leben mit vielen Entbehrungen. Sogar Hunger wird erwähnt. Es ist manchmal schwer zu glauben, dass diese Erlebnisse teilweise nur ein gutes halbes Jahrhundert zurückliegen.
Gewöhnliche Menschen wie wir alle
Werner Scheidegger hat in den letzten zwei Jahren mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der Alterswohnsiedlung Zelgli ausführliche Gespräche geführt und ihre Biographien aufgeschrieben. Die Frauen und Männer über 70 Jahre erzählten ihm über ihr Leben, über ihre Kindheit und den beruflichen Werdegang, über persönliche Schicksalsschläge und Krankheiten, über lebenslange Liebe und Zuneigung. Menschen, die sonst selten im Schweinwerferlicht stehen, werden in diesem Buch für einmal ins Zentrum gerückt. «Im Zelgli wohnen keine Staatsmänner und Manager. Es sind Menschen wie du und ich», schreibt dazu Werner Scheidegger. «Sie prägen den Alltag, und dank ihnen funktioniert unser Gemeinwesen und ist unser Dasein lebenswert».
Genau dies macht solche Einblicke in ihr Leben umso wertvoller. Fotografien vom Verleger Daniel Gaberell ergänzen die Beiträge wohltuend zurückhaltend mit einer Momentaufnahme. Das Buch gibt einen guten Eindruck davon, wie «gewöhnliche» Biographien im 20. Jahrhundert verlaufen konnten, geprägt von der grossen Wirtschaftskrise in den 1930er-Jahren und vom raschen technischen Wandel. Man wird sich beim Lesen bewusst, wie sehr der materielle Wohlstand und die technischen Annehmlichkeiten unsere Lebensumstände seither verändert und geprägt haben. Auch die damals noch oft patriarchal geprägten Partnerschaften mit der finanziellen Abhängigkeit der Frau stehen im Kontrast zur heutigen Gesellschaft.
Fehlende (Sozial-)Versicherungen konnten aus einem Schicksalsschlag die ganze Lebensexistenz in Frage stellen. Für Vreni und Hansueli Graber-Häusler war es nicht zuletzt finanziell eine bittere Zeit, als ihre Kühe 1965 die Maul- und Klauenseuche bekamen und der ganze Viehbestand geschlachtet werden musste.
Oder als sich zum Beispiel Hedy Rindlisbacher-Anliker von ihrem ersten Mann trennte, der Alkoholiker war und sie schlug, bedeutete es für sie noch mehr Arbeit für wenig Lohn, um die drei Kinder über die Runde zu bringen: Für zweihundert Franken pro Monat musste sie Schicht arbeiten. Der Vater von Elisabeth Meyer-Hubschmid starb nur ein Jahr nach ihrer Geburt, und ihre Mutter musste sich alleine mit den Kindern und ohne gelernten Beruf in einer ihr fremden Umgebung durchschlagen.
Kindheit in Kriegszeiten
In der Nähe vom deutschen Rostock starb Marie-Louise Tabone-Brincks Mutter kurz nach ihrer Geburt, und ihr Vater stand mit vier kleinen KIndern alleine da. Als dann auch dieser bei Kriegsbeginn 1939 in die Armee eingezogen wurde, lastete die ganze Verantwortung für den Hof auf ihrer Grossmutter. Viktor Hasler-Schweizer wiederum erzählt von der Einquartierung 30 polnischer Internierter um 1940 in Madiswil, und wie seine Kindheit hauptsächlich von Arbeit geprägt war. «Heute wird auch viel über die Verdingkinder jener Zeit geredet, wie die viel arbeiten mussten. Das mussten wir auch, mit dem Unterschied allerdings, dass wir zuhause bei unseren Eltern sein konnten.»
Doch trotz Armut und Rückschlägen dominieren in allen Biographien Optimismus und Dankbarkeit. Immer wieder wird von positiven Begegnungen berichtet. In der grössten Not wurde meistens eine helfende Hand gereicht. Diese kleinen Lichtblicke erscheinen in einer schweren Zeit umso heller. Jemand steckte zum Beispiel ein «Zwänzgernötli» zu, wenn es gar nicht mehr ging.
Hoffnung und Zuversicht, trotz allem
Doris Küng-Schwarz machte die Erfahrung, dass oft Leute, die selber
grosse Sorgen hatten, die freundlichsten und hilfsbereitesten waren. Sie erzählt, wie sie am Ende des zweiten Weltkriegs mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zu Fuss mit einem «Leiterwägeli» in 10 Tagen von Bayern zurück in den Schwarzwald gelaufen ist. Es sind unvorstellbare Zustände, die mit viel Kraft und Zuversicht gemeistert wurden.
Die Erzählungen machen deutlich, wie bedeutsam Zusammenhalt und Solidarität in schwierigen Zeiten sind. Immer wieder hat sich im Leben eine Tür geöffnet und ermöglichte etwas, was vorher nicht denkbar war.
Die im Buch gesammelten Texte bleiben letztendlich nur Ausschnitte aus vielfältigen und ereignisreichen Leben. Das Leben in seiner Einzigartigkeit lässt sich nicht zwischen Buchdeckel pressen. Doch ist es Werner Scheidegger hoch anzurechnen, dass er die Lebensbilder dieser Menschen sorgfältig aufgeschrieben und in eine kompakte und lesenswerte Form gebracht hat. Eigentlich hätte jedes Menschenleben eine solche Würdigung verdient.
Zum Buch
Vernissage am nächsten Samstag
Die Vernissage von «Gespräche am Küchentisch» findet nächsten Samstag, 17. Juni, 16 Uhr, im Gemeindesaal des Dorfzentrums statt.
Begrüssung durch die Gemeindepräsidentin Vreni Flückiger und Beitrag vom Verleger Daniel Gaberell sowie Lesung durch Werner Scheidegger. Musikalische Umrahmung von Victor Pircher (Panflöte).
Buchbestellungen: Werner Scheidegger, 062 965 07 83, wernerrose@bluewin.ch oder unter www.herausgeber.ch direkt beim Verlag. Das Buch ist ab 19. Juni in Madiswil auch in der Drogerie Wittwer, im Chäsilade, bei Josef Käppeli & Co. sowie in der «Gnuss-Insel» erhältlich. «Gespräche am Küchentisch – Lebensbilder der Generation 70 plus», Kulturbuchverlag Herausgeber.ch, 304 Seiten, CHF 34.–. pbm
Der Autor
Fast das ganze Leben lang in Madiswil zuhause
Werner Scheidegger, geboren 1936, aufgewachsen auf einem Bauernhof in Madiswil und mit kurzen
Unterbrüchen hier wohnhaft.
Lehre als Bauer. 1963 Übernahme des elterlichen Hofes. Später Mitbegründer und Geschäftsführer der Biofarm Genossenschaft in Kleindietwil. Weitere Bücher von Werner Scheidegger:
– Die Bauern vom Schlossberg, Menschen im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne
– Randnotizen, Gedanken zum Zeitgeschehen 2007 bis 2012
– «Die alten Strassen noch . . .» Erinnerige, Erfahrige, Begägnigepbm
Von Patrick Bachmann