«Man wird in eine Welt hineinkatapultiert, in der man sich nicht auskennt»
Vor einem Jahr haben Onésime und Annette Pasche aus Ufhusen ihren Sohn verloren. Der Junge starb vier Wochen nach der
Geburt an einer seltenen und unheilbaren Stoffwechselerkrankung. Im «Unter-Emmentaler» erzählen die Eltern, wie sie mit
diesem schweren Schicksalsschlag umgegangen sind und was ihnen Kraft gegeben hat. Den Lebensmut haben die beiden, auch
dank ihrem Glauben an Gott, bis heute nie verloren.
Onésime und Annette Pasche sitzen an ihrem Stubentisch und blättern in einem Fotoalbum. Die Welt auf dem beschaulichen Bauernhof inmitten von Ufhusen scheint in Ordnung zu sein. Doch der Schein trügt. Es ist das Fotoalbum ihres viel zu früh verstorbenen Sohnes Simeon. Darin befinden sich Fotos aus seinem kurzen Leben. Dieses spielte sich in drei Spitälern in den Kantonen Bern und Genf ab. Der Junge wurde nur gerade vier Wochen alt. Für die Eltern ein enormer Schicksalsschlag. Der Tod von Simeon ist nun ein Jahr her und bei Onésime und Annette Pasche ist wieder so etwas wie Alltag eingekehrt.
Vor vier Jahren den Bauernhof vom Onkel übernommen
Onésime Pasche ist in der Westschweiz aufgewachsen und hat vor vier Jahren den Bauernhof im luzernischen Ufhusen von seinem Onkel übernommen. Seine Mutter stammt ursprünglich von diesem Hof. Der 33-jährige Landwirt ist oft in der Natur unterwegs und dies nicht immer nur aus beruflichen Gründen, sondern auch in seiner Freizeit. Die 38-jährige Annette Pasche ist vor vierzehn Jahren wegen des Berufs als Pflegefachfrau in die Schweiz gekommen. Diesen hat sie aber vor drei Jahren aufgegeben, als sie Onésime heiratete und auf den Bauernhof zog. Die gebürtige Deutsche ist kreativ tätig und näht zudem gerne. Das Paar aus Ufhusen erfährt im Dezember 2021, dass Annette Pasche schwanger ist. «Wir waren zu diesem Zeitpunkt überglücklich und freuten uns auf das gemeinsame Kind», betonen sie. Die Schwangerschaft verlief normal und bis zur Geburt am 21. August 2022 war alles in bester Ordnung.
Im Unispital Genf (HUG) wird klar, dass Simeon bald sterben wird
Kurz nach der Geburt im Spital Langenthal (SRO) bemerkten die Ärzte, dass Simeon nicht vollständig gesund ist. Sofort wurde er ins Inselspital nach Bern geflogen. Äusserlich war ihm zu diesem Zeitpunkt zwar nichts anzumerken, doch gab es Auffälligkeiten bei den Stoffwechselfunktionen. In Bern standen erste medizinische Untersuchungen an. Diese zeigten, dass die Leber des Jungen kaum funktionierte. Der Junge wurde daraufhin mit dem Helikopter ins Unispital nach Genf (HUG) verlegt. In der zweitgrössten Schweizer Stadt sind die Ärztinnen und Ärzte spezialisiert auf Kinder und Jugendliche mit komplexen und lebensbedrohlichen Lebererkrankungen. Auf der Intensivstation des Genfer Unispitals (HUG) wurden umfangreiche medizinische Massnahmen eingeleitet, unter anderem übernahmen Geräte die Funktion seiner schwer geschädigten Leber. «Unser Sohn war an vielen Kabeln und Schläuchen angeschlossen», erinnert sich Annette Pasche. Nach fast drei Wochen stand die Diagnose fest. Simeon litt an einer unheilbaren und seltenen Stoffwechselerkrankung. Zudem zeigten weitere Untersuchungen, dass beide Elternteile je ein fehlerhaftes Chromosom besitzen. Ihr Sohn hatte diese zwei geerbt, was in der Kombination schliesslich die seltene und unheilbare Stoffwechselerkrankung auslöste. «Es war bis zur klaren Diagnose ein ständiges Hoffen und Bangen», sagt die Mutter. Die Ärztinnen und Ärzte in Genf konnten nichts mehr zur Heilung des jungen Ufhusers tun. Die Erkrankung war zu schwer und zu komplex. Simeon wird innert kürzester Zeit sterben. Er hatte keine Chance zum Überleben. Nach der Schock-Diagnose wurde er wieder zurück ins Universitätsspital nach Bern geflogen. Der Zustand von Simeon verschlechterte sich rapide und drei Tage nach der Verlegung hörte das Herz des Jungen schliesslich auf zu schlagen. Simeon starb am 19. September 2022, nur vier Wochen nach seiner Geburt.
Ein schlimmer Albtraum
Kurz nach der Geburt, als die gesundheitlichen Probleme von Simeon nach und nach zunahmen, verwandelte sich die Freude auf ihr Kind zu einer sorgenvollen Zerreissprobe. «Man fühlt sich wie in einem schlimmen Albtraum, von diesem hofft man aufzuwachen und dass alles wieder gut wird», so die 38-Jährige. «Aber so war es nicht. Es war die Realität.» Man werde in eine Welt hineinkatapultiert, in welcher man sich nicht auskennt. Eine innere Lähmung, das Gefühl, sich selbst nicht mehr wahrnehmen zu können, erleben viele Eltern nach dem Tod eines Kindes. Onésime und Annette Pasche konnten den Tod ihres Sohnes zu Beginn nicht wirklich realisieren und begreifen. «Es ging zu Beginn nur noch ums Überleben, man ist nahe am Durchdrehen», erzählen die beiden. Das Roboterhafte spüren sie manchmal noch heute. Die Eltern wurden von den Ärztinnen und Ärzten jeweils wahrheitsgetreu über die weiteren Schritte informiert, was ihnen schliesslich dabei geholfen hat, besser mit der Situation umzugehen.
Hin und her zwischen Krankenhäusern und Bauernhof
Der Junge lag während der gesamten Zeit auf der Intensivstation und wurde ständig überwacht, therapiert und medizinisch untersucht, sodass die Eltern nicht immer zu ihm konnten. Doch so oft es möglich war, fuhren Onésime und Annette Pasche nach Bern und nach Genf ins Spital. «Gerade die Zeit in Genf war sehr belastend», ergänzt die Pflegefachfrau. Da waren der weite Weg und die Sprachbarriere. «Wir haben nur noch funktioniert, sind zwischen Bauernhof und Spital gependelt und haben in den Überlebens-Modus geschaltet», erzählt der 33-Jährige. In den letzten drei Tagen im Berner Inselspital war dann alles nur noch darauf ausgerichtet, ihm die verbleibende Zeit so angenehm wie möglich zu machen. Die Naturliebhaber versuchten so viel Zeit wie möglich mit ihrem Sohn zu verbringen. «Es war für uns wichtig, dass wir für unseren Sohn da sind», erzählen die Eltern. Kurze Zeit später ist Simeon friedlich eingeschlafen. Das verstorbene Kind noch mal zu berühren, ihm über die Wange zu streichen – das half zu verstehen, dass ihr Kind in diesem Körper jetzt nicht mehr drin ist und die Situation real ist. Kurz vor Ende seines kurzen Lebens kam ein Fotograf von Herzensbilder auf Wunsch der Eltern vorbei und hat einige Bilder der kleinen Familie festgehalten. Diese und von den Eltern angefertigte Bilder verarbeiteten sie wenig später zu einem Fotoalbum. «Das Fotoalbum hat uns vor allem zu Beginn sehr geholfen, um zu verstehen, was eigentlich passiert ist», erwähnt Onésime Pasche. Man habe etwas in den Händen, das zeigt, was vorgefallen ist. Die Erinnerungen an das Geschehene verblassen, die Bilder bleiben jedoch.
«Gott hat uns Kraft gegeben»
«Obwohl der Tod unseres Sohnes eine sehr krasse Situation ist, können wir nichts dagegen tun, ausser es zu akzeptieren und es so anzunehmen, wie es ist», sagt der gebürtige Westschweizer. Man habe die Wahl, es zu akzeptieren oder selbst daran zu zerbrechen. Zu Beginn quälte die Eltern die Frage, die jeder Mensch kennt. Warum passiert das ausgerechnet uns? Doch man erhält keine Antwort darauf. Vielmehr konnten die beiden auf die Kraft und das Vertrauen von Gott zählen. «Es steht mit Gott, dem Schöpfer, jemand über uns, der unseren Sohn gebildet hat und der alles in den Händen hat», glaubt Annette Pasche. «Er hat uns in dieser schweren Zeit gestützt und uns geholfen, damit umzugehen», erzählen die beiden, die in Huttwil eine Freikirche besuchen. Weiter wurde das Paar auch von Freunden und der Familie getragen und unterstützt. «Wir haben eine riesige Anteilnahme erfahren dürfen. Gespräche mit anderen Leuten haben ihnen geholfen, ihre Gedanken und Gefühle zu teilen. Sie erwähnen aber auch, dass sie teilweise zu stark bemitleidet wurden. «Ja, wir haben mit Simeon etwas sehr Schlimmes erlebt, das man nie vergessen wird. Es gibt jedoch ganz viele Menschen, die mit einschneidenden Situationen umgehen müssen», sagt der Landwirt. «Es ist ein Teil von uns, den wir akzeptiert haben, auch wenn wir diesen wohl als Menschen nie ganz verstehen werden. Im Leben gäbe es viel, das man nicht verstehen kann, so sehr man es sich auch wünscht.» Heute können die Luzerner damit leben, dass sie ihren Sohn verloren haben, die Trauer ist leiser geworden. In ihrem Lebenslauf haben die beiden den Schicksalsschlag integriert – doch noch immer gibt es Tage, zum Beispiel sein Geburtstag oder Todestag, wo die Herzensnarbe mehr pulsiert.
Überwältigt von all den traurigen Menschen an der Beerdigung
Nach dem Tod von Simeon mussten die Eltern zuerst einmal durchschnaufen. «Wir konnten nicht gleich eine Beerdigung organisieren und brauchten etwas Freiraum», erinnert sich Annette Pasche. Rund zwei Wochen nach seinem Tod fand die Abdankungsfeier dann in der reformierten Kirche Hüswil statt. Eine Ungeheuerlichkeit, ins Grab eines Babys zu schauen. Vielleicht ist der Tod eines jungen Menschen deshalb so schwer zu verstehen, weil die natürliche Ordnung auf den Kopf gestellt wird. «All die traurigen Menschen an der Beerdigung haben uns zunächst überwältigt – viele wussten nicht, wie sie mit uns sprechen sollten», betont der Vater. Für die Eltern ist die Grabstätte auf dem Friedhof aber nicht die wichtigste Erinnerung an ihren kleinen Sonnenschein. «Wir legten dort nur die Hülle unseres Kindes ab, aber Simeon ist nicht mehr da, sondern im Himmel», erzählt Annette Pasche. Auch ihr Mann teilt diese Meinung. «Ich benötige keinen fixen Standort, um an ihn zu denken.»
Verständnis und gemeinsame Unterstützung in der Trauerphase
Um mit der Trauer besser umgehen zu können, hat das Paar Kontakt zu Familien gesucht, die Ähnliches erlebt haben. «Ein solcher Schicksalsschlag verbindet und jede Begegnung ist ein wertvoller Austausch», bestätigt er. Für den Landwirt ist es wichtig, darüber zu reden, wenn einem etwas beschäftigt, nur so kann man schlussendlich damit umgehen. Viele haben das Paar immer bewundert, wie sie mit der Situation umgehen. Jeder Mensch trauert anders. Doch es gibt einige Dinge, die besonders wichtig sind, damit die ungeheure Wunde, die der Verlust eines Kindes in die Seele der Eltern reisst, über die Zeit heilen kann. Dazu gehört, dass man ganz bewusst und intensiv Abschied nimmt vom verstorbenen Kind. Wichtig ist in jedem Fall, den Gefühlen von Trauer, aber auch Wut oder Schuldgefühlen Raum zu geben, sie auf Dauer nicht auszublenden. Die Trauer hat das Paar weiter zusammengeschweisst. «Wir haben stets darüber gesprochen, was wir denken und fühlen», erwähnt Annette Pasche. Den beiden ist aufgefallen, dass sie unterschiedlich trauern. «Wir waren nie am selben Punkt in der Trauerphase, haben uns aber immer unterstützt», sagt Onésime Pasche. «Es gab Tage, da ging es mir besser und umgekehrt – so war es bei meiner Frau auch.» Trauer ist eben, neben der Liebe, eines der stärksten Gefühle, die Menschen empfinden können. «Man muss im Alltag relativ schnell wieder funktionieren, arbeiten und soziale Kontakte pflegen, weil das Leben ja weitergeht – es geht weiter, aber ohne unseren kleinen Sonnenschein eben anders», so Annette Pasche.
Im Dezember kommt das Baby zur Welt – Freude und Sorgen
Annette Pasche ist wieder schwanger und das Paar wird im kommenden Dezember erneut Eltern. «Zum einen haben wir eine riesige Vorfreude und zum anderen erinnert es uns an die Zeit mit Simeon», sagt die 38-Jährige zum «Unter-Emmentaler». Der näher rückende Geburtstermin ist daher mit einer gewissen Angst, mit Sorgen, aber auch viel Freude verbunden. Die Sorgen sind nicht unbegründet. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Kind wieder an der seltenen Erkrankung leiden wird, liegt bei 25 Prozent. «Doch dies liegt nicht in unserer Hand, wir vertrauen auf Gott», sagen die beiden.
Von Yanick Kurth