Martin Heiniger liebt das Besondere
Das Handwerk des Carrosseriesattlers sei überaus befriedigend, findet Martin Heiniger. Sein zweites Standbein, die Brockenstube in Rüegsbach, ist eine der auffälligsten und hinreissendsten in der Schweiz. Sie steht einem Heimatmuseum näher als einer herkömmlichen Brocki.
Rüegsbach · Martin Heiniger ist von Beruf Carrosseriesattler. Das Herzstück in seiner Sattlerei in Rüegsbach ist eine Nähmaschine, eine Pfaff 545, um genau zu sein. So unscheinbar die Pfaff ist, so ausgefallen und verschiedenartig sind die Gegenstände, die Heiniger damit restauriert, wie auch die Materialien, die er dazu verwendet. Sei es ein Lambretta-Sattel, ein mit Fell überzogenes Karussellpferd, die lederne Sitzpolsterung in einer Kutsche, wasserfeste Bootskissen und die Sitzbänke, ja, die gesamte Innenausstattung von Liebhaberautos; er näht, was kommt, und er liebt das Besondere.
Er kennt sich aus in Stoffen, Leder, Schnitt, Strukturen, Formen, Prägung und Stil. Mit einer anderen, weit grösseren Nähmaschine repariert Heiniger schadhafte Hüllen von Heissluftballons. Neben ihm gibt es in der Schweiz vielleicht eine Handvoll Sattlereien, die sich darauf spezialisiert haben. Es gibt wohl kaum einen zerrissenen, abgewetzten oder durchgescheuerten Überzug, den er nicht zu ersetzen vermag, kaum einen Gegenstand, den er später nicht wieder wie neu dem Eigentümer aushändigt.
Vielseitiger Beruf
Heiniger braucht nicht lange zu begründen, wenn er sagt, das Handwerk des Carrosseriesattlers sei überaus befriedigend. Wie kam es dazu? Als Teenager durfte er eine Woche lang in einer Sattlerei in Rüegsbach schnuppern. Er sei vom ersten Tag an begeistert gewesen, sagt er rückblickend. Er fand die Arbeit abwechslungsreich und ungewöhnlich und in hohem Masse anspruchsvoll. Handfertigkeit sei genauso gefordert wie Scharfsinn, Erfahrung wie Begabung, Können wie Fleiss. In diesem Beruf komme vieles zusammen, und oft dürfe er Fahrzeuge oder Gegenstände mit ausgefallenen, feinsten Materialien ausstatten oder überziehen. Die Lehrjahre absolvierte er in einem Betrieb in Steffisburg. Danach zog es ihn hinaus in die weite Welt. Er kaufte das, seiner Ansicht nach, schönste Auto, das je gebaut wurde: einen VW Bus T2a.
Mit dem VW-Bus durch die Welt
Zusammen mit einem Gefährten erkundete er mit dem VW-Bus Süd- und Nordamerika. Sie starteten im Rinderbach, fuhren ans Meer, verluden den Bus auf ein Frachtschiff, dampften über den Atlantik, gingen in Südamerika an Land und fuhren bis zur Südspitze hinunter. Sie wendeten und fuhren in den hohen Norden, bis sie hinter dem arktischen Wendekreis auf Inuits trafen.
Zwei volle Jahre waren die beiden unterwegs. Später bereiste Heiniger etliche Orte im fernen Osten und Australien und schliesslich durchquerte er mit seiner Lebenspartnerin in seinem alten Bus halb Afrika. Er sei immer so gereist, sagt er, denn er wollte die Welt erfahren, die Distanzen erleben, und sehen wie sich Eins ans Andere füge auf dieser Erde. In seinem Atelier zeugen Fotos an den Wänden von den vielen Abenteuern. Zurück in der Schweiz wagte er den Schritt in die Selbstständigkeit.
Zweites Standbein
Von Anbeginn setzte Martin Heiniger auf zwei Standbeine: Autosattlerei und Brockenstube. In der Sattlerei war er immerzu auf Qualität bedacht und wies kaum eine Anfrage oder einen Auftrag zurück, und schuf sich einen ausgezeichneten Namen. Egal wie knifflig der Fall war, Heiniger fand eine Lösung. Egal wie anspruchsvoll die Kundin oder der Kunde war, Heiniger erfüllte ihre Wünsche.
Bei einem Heissluftballon müssen Brandlöcher oder ein Dreiangel, der beispielsweise beim Landen durch einen Stacheldraht aufgerissen wurde, nach dem Nähen in jedem Fall halten. Diese Stellen dürfen auch unter Volllast niemals aufplatzen. Heinigers Stärke liegt aber auch beim Ballonnähen nicht nur in der Qualität in Bezug auf Festigkeit, er legt da grössten Wert auf optische Vollendung. Von defekt zu perfekt ist denn auch sein Slogan.
Mund-zu-Mund-Werbung
Das Geschäft lief gut an, in all den Jahren sah er sich nie gezwungen, aufwendige Werbung zu betreiben. Er schaltet weder Inserate, noch unterhält er eine eigene Internetseite, verteilt höchstens hier und dort ein paar Flyer. Heute reisen Kunden aus der ganzen Schweiz an. Mund-zu-Mund-Propaganda ist, wie sein Fall beweist, nach wie vor ein gutes Zeugnis, eines mit einer hohen Glaubwürdigkeit. Was hat sich im Laufe der Zeit geändert? Während der Lehrzeit, erklärt Heiniger, besserten sie häufig alltägliche Fahrzeuge aus. Wollte jemand seinen Wagen verkaufen, brachte er ihn vorher in die Autosattlerei.
Sie hätten durchgesessene Sitze neu gestopft, oder Polsterbezüge ersetzt, die Löcher, Risse oder Flecken aufwiesen. Diese Zeiten seien vorbei. Die meisten Leute tauschten ihre Autos ein, bevor sie einen Makel haben. Heute restauriert er in erster Linie Liebhaberfahrzeuge.
Neues Verdeck für den Martini
Momentan steht ein Martini Jahrgang 1926 in seinem Atelier. Das Verdeck muss neu gemacht werden. Aus der Sicht eines Laien scheint die Restauration eine schier unmögliche Herausforderung. Heiniger gesteht, dass er die Arbeit an diesem Liebhaberstück mit Respekt angehen wird. Sein Atelier hat er in den ehemaligen Garagen der Landi Rüegsbach eingerichtet, und die Ballone näht er im Obergeschoss. Die Brockenstube befindet sich im nebenstehenden, dreistöckigen, ehemaligen Lagerhaus der Landi. Darin präsentiert er seine auserlesenen Fundstücke so, wie sie es verdient haben. Seine Sammlung kommt im schlichten Charme des Gebäudes prächtig zur Geltung. Sogar der schwache Geruch in den Balken und Wänden nach Grassamen, Hühnerfutter und Hanfseilen passt. Die Bandbreite der Objekte ist bezeichnend für ihn, er bietet klassische Alltagsgegenstände an, schmucke Werkstücke, kultige Raritäten, antike Möbel und dergleichen mehr.
Er suche die Dinge nicht, sagt er und lacht, die Dinge fänden ihn. Tinus Brockenstube ist eine der auffälligsten und hinreissendsten in der Schweiz. Sie steht einem Heimatmuseum näher als einer herkömmlichen Brocki. Das hat sich ebenfalls herumgesprochen. Samstag für Samstag pilgern Private, Sammler oder auch Händler in den Rüegsbach, auf der Suche nach dem Stück, das ihre Erinnerungen wachhält oder in ihrer eigenen Sammlung fehlt. Bei ihm werden die meisten fündig und ziehen mit der Trophäe glücklich von dannen. Während der Corona-Zeit blieb die Brocki zu.
In der Autosattlerei ging ihm die Arbeit aber nicht aus. Menschen, die ihr Liebhaberfahrzeug restauriert haben wollen, wird es immer geben, davon ist er überzeugt. Und er verrät zum Schluss, woraus er das Verdeck des Martini mit Jahrgang 1926 nähen wird: Aus einem schwarzen, geschmeidigen Rindsleder.
Von Gabriel Anwander