Moderne Schutzengel für Rehkitze
Rehkitze verstecken sich gerne im hohen Gras. So fallen während der Heuernte jährlich viele Jungtiere dem Mähbalken zum Opfer. Mit dem Einsatz von Drohnen mit Wärmebildkameras und mit Hilfe von herkömmlichen Vergrämungsmethoden können viele Tiere gerettet werden. Dabei arbeiten Jäger und Landwirte eng zusammen.
Rüegsbach · 1200 Gramm etwa, also etwas mehr als ein Laib Brot, wiegt ein Rehkitz, wenn es auf die Welt kommt. Die Rehgeissen gebären ihre Jungen in der Regel ab Mitte Mai, bevorzugt im hohen Gras, und die werden, sobald sie auf der Welt sind, von der Mutter sorgsam geleckt. Dies hat den Zweck, dass die Kitze keinen eigenen Geruch verströmen und so von Feinden nicht gewittert werden können. Das ist aber auch nötig: Sie werden nämlich bereits wenige Stunden nach der Geburt von der Mutter allein gelassen.
Dank ihres gefleckten Fells sind sie im hohen Gras oder Gebüsch kaum auszumachen. In den ersten zwei bis drei Wochen nach der Geburt rennen die Kitze bei Gefahr nicht weg, sondern ducken sich regungslos an Ort und Stelle. Dieser Drückinstinkt ist eine Überlebensstrategie, die sich seit Jahrtausenden bewährt hat. In der heutigen modernen Landwirtschaft jedoch wurde sie zur tödlichen Falle, denn die Setzzeit der Rehe fällt auch auf die Zeit der Heuernte, und durch das Silieren des Grases sogar manchmal bereits mit dem zweiten Heuschnitt, dem Emd, zusammen. Obwohl Jäger und Bauern grösste Anstrengungen unternehmen, geraten gemäss dem Schweizerischen Tierschutz (STS) jährlich rund 1700 Rehkitze in die Mähmaschinen. Dabei fallen die Kitze dem scharfen Mähwerk chancenlos zum Opfer. Meist bleiben sie schwer verletzt liegen und müssen vom Wildhüter oder einem Jagdaufseher erlöst werden.
Rettung mit Drohnen
Als eine der erfolgreichsten Methoden zur Rehkitzrettung hat sich in den letzten Jahren der Einsatz von Drohnen, ausgerüstet mit Wärmebildkameras, bewährt. Sie verspricht eine rasche Suche mit hoher Erfolgsquote. Dabei fliegt die Drohne in etwa 50 bis 60 Meter Höhe systematisch eine zuvor eingegebene Route ab. Die Bildaufnahmen der Wärmebildkamera werden in Echtzeit über Funk an Bildschirme am Boden übertragen, wovon das Geschehen genau mitverfolgt werden kann. Wird ein Wärmepunkt erkannt, wie beispielsweise ein Rehkitz, markiert der Drohnenpilot die genaue Stelle auf seinem Tablet. Mithilfe eines mobilen Bildschirms können so die Retter zum Rehkitz gelangen, um es in Sicherheit zu bringen.
Einer dieser Piloten ist Samuel Schüpbach, ein Jäger aus Lützelflüh. In
Zusammenarbeit mit dem Jagd- und Wildschutzverein Amt Trachselwald war er letzte Woche öfters in den frühen Morgenstunden unterwegs. So auch an diesem Morgen, pünktlich um 5.15 Uhr in der Früh, wo er von weiteren Jägern bei einer Wiese im Rinderbach bei Rüegsbach erwartet wird. Nach anfänglichen Technikproblemen fliegt seine Drohne über die Wiese, in welcher der Bauer und die Jäger durch Beobachtungen und Erfahrungen Rehe vermuten. Unterwegs entgeht sie zwischenzeitlich knapp einem Milan. «Es ist wichtig, die Suche mit Drohnen am frühen Morgen durchzuführen, bevor die Sonne den Boden erwärmt, damit der Wärmeunterschied zwischen der Umgebung und dem Tier sichtbar ist», erklärt die Jägerin Claudia Burkhard, während sie gespannt auf einen der Bildschirme schaut. Doch in dieser Wiese ist an diesem Morgen nichts zu finden. Samuel Schüpbach gibt dem neben ihm stehenden Landwirt Entwarnung: «Du kannst mähen, es sind keine Rehkitze drin.»
So sei es aber nicht immer, sagt Claudia Burkhard. «Wir konnten dieses Jahr bereits sechs Rehe mithilfe der Drohne retten.» Sie hat ebenfalls die Ausbildung zum Fliegen einer Drohne gemacht, noch hat sie selbst aber keine Drohne. Der Berner Jägerverband hat in einem Pilotprojekt sechs Drohnen gekauft, eine davon soll auch beim Jagd- und Wildschutzverein Amt Trachselwald zum Einsatz kommen. Dem Jagdverein gehören unter anderem auch die Oberaargauer Gemeinden Eriswil, Wyssachen und Huttwil an. Doch die Lieferung der Wärmebildkameras, welche in Amerika bestellt werden mussten, hat sich aufgrund der Coronakrise verspätet. Dabei wäre es wichtig, gleich mehrere Drohnen mit Piloten während der Heuernte zur Verfügung zu haben. «Ist schönes Wetter vorausgesagt, wollen die Bauern alle gleichzeitig mähen», weiss die engagierte Hegeobfrau Claudia Burkhard aus Erfahrung. Aber auch mit einer Drohne mehr können noch lange nicht alle Wiesen abgesucht werden. «Wir werden auch in Zukunft eine Selektion vornehmen müssen und nur diejenigen Wiesen abfliegen, in denen wir auch Rehe
vermuten.» Dabei sei die Zusammenarbeit zwischen Bauern, Jägern und den Drohnenpiloten essenziell.
Doch die Lösung aller Probleme sei
die Drohnensuche nicht, ist Claudia Burkhard sicher. «Zu wenig Drohnen, technische Probleme, Angriffe durch Greifvögel oder anderweitige Zeitverzögerungen machen die herkömmlichen Methoden der Rehkitzrettung nach wie vor nötig.»
Verblenden und Verwittern
Dieser Meinung ist auch der Eriswiler Jagdaufseher Hans-Jörg Heiniger. «Wir können in unserem Gemeindegebiet noch nicht auf Drohnen zurückgreifen, deshalb Verblenden oder Verwittern wir die Wiesen und hoffen, damit Leben retten zu können.» Beim sogenannten Verblenden werden am Vorabend vor der Mahd Tücher,
Futtersäcke oder Folienstreifen aus Aluminium in der zu mähenden Wiese aufgehängt. Beim Verwittern werden durch mitgeführte Hunde oder durch Verspritzen chemischer Duftstoffe fremde Gerüche in die Wiese eingebracht. Beide Methoden sollen bewirken, dass die Muttertiere beunruhigt auf die Veränderung reagieren und ihren Nachwuchs in der Nacht aus der Gefahrenzone in sicherere Gebiete bringen. Doch das klappt nicht immer, denn es gibt auch scheue Rehe, die sich nach dem Verblenden nicht mehr in die Wiese trauen. Oder aber die Rehe haben sich durch Velofahrer und Wanderer bereits so an Störungen gewöhnt, dass sie das Verblenden nicht mehr als Gefahr ansehen und deshalb keinen Grund sehen, ihre Jungen nachts aus der hohen Wiese zu holen.
Zu einer erfolgreichen Rehkitzrettung gehört auch das Wissen über den richtigen Umgang mit den gefundenen Tieren. «Niemals von blosser Hand berühren», warnt Hans-Jörg Heiniger, «sonst nimmt das Kitz den Geruch des Menschen an, die Rehgeiss verstösst es und das Kitz ist dann auch für Fressfeinde zu riechen.» Besser sei es, die Jungtiere mit einem Büschel Gras oder Handschuhen anzufassen. Alternativ kann das Rehkitz auch am Fundort mit einer Holzkiste abgedeckt werden. Die Stelle wird markiert, sodass der Bauer diese beim Mähen umfahren kann und die Rehgeiss ihr Junges danach wiederfindet. Mit diesen herkömmlichen Methoden sind die Erfolge jedoch nicht so hoch wie bei der Suche mit Drohnen. So werden auch in Zukunft neben Rehkitzen auch Füchse, Feldhasen oder in den Wiesen brütende Vögel der Mähmaschine zum Opfer fallen.
Gefahr für Nutztiere
Doch abgesehen davon, dass für Rehkitze bei einem Mähunfall jede Hilfe zu spät kommt, können auch ernsthafte Probleme für die Nutztiere entstehen. Wird das tote Kitz übersehen und gelangt damit in den Futterkreislauf, kann sich dadurch ein gefährliches Botulinumtoxin bilden. Hierbei handelt es sich um das tödliche Gift des Bakteriums «Clostridium botulinum», welches die Muskulatur lähmt. Fressen die Kühe oder andere Tiere dieses verunreinigte Futter, kann es zum Tod ganzer Bestände führen. Umso wichtiger ist es, dass die Bauern ihrer gesetzlichen Verpflichtung, die Rehkitze zu schützen, nachkommen. Jäger und Drohnenpiloten helfen ihnen dabei. Ehrenamtlich und kostenlos.
Von Marion Heiniger