Nach der Klinik kommt der Bauernhof
Eine Drogen- oder Alkohol-Vergangenheit oder auch psychische Probleme liegen hinter ihnen. Sie wollen ihr Leben verändern oder sind von einem Schulausschluss betroffen und brauchen nun eine Auszeit. Möglich macht dies das Berner Projekt Alp. Die Institution vermittelt Menschen mit solchen Schwierigkeiten zu 95 % an Bauernhof-Familien. Für eine bestimmte Zeit leben und arbeiten sie dort. Die Arbeit in der Natur und der geregelte Alltag geben ihnen neuen Halt. Dieser Halt spürt seit fast anderthalb Jahren auch Rahel, die einen Klinikentzug hinter sich hat und seither auf dem Bauernhof bei Familie Bärtschi in Oeschenbach wohnt.
Oeschenbach / Münsingen · Eine leicht erhöhte Strasse führt hin zum Bauernhofbetrieb mit Mutterkühen. Ein Auto ist in dieser Gegend wichtig, da hier nur selten ein Bus fährt. Trotzdem herrscht ganz oben angekommen viel Betrieb. In dieser landwirtschaftlich geprägten Gemeinde Oeschenbach lebt Familie Bärtschi mit ihren vier Töchtern und mit ihnen seit Oktober 2019 auch Rahel.
Die 27-Jährige lebt nicht im Haus der Familie, sondern hat gleich nebenan ihre eigenen vier Wände. Samuel Bärtschi, der Vater der Familie, legt gerne selbst Hand an und hat vor ein paar Jahren das Hühnerhaus in ein Studio umgewandelt – inklusive gemütlichem Balkon. So kann Rahel die Aussicht auf die Hügel und die Ruhe der Natur geniessen, ohne dabei an Vergangenes denken zu müssen.
Geben und Nehmen
Zwei Geschichten spielen sich im und um das alte Bauernhaus ab. Zum einen ist es die Geschichte von Familie Bärtschi, die ihr Zuhause für Menschen in schwierigen Situationen öffnet. Vor fast drei Jahren entschieden sich Bärtschis, mit dem Projekt Alp zusammenzuarbeiten.
Davor hatten sie schon Erfahrungen gesammelt mit Kindern oder einem Jugendlichen, die über private Beziehungen zu ihnen gestossen sind und bei einer anderen Institution waren. Rahel ist nun die dritte Person, die sie über das Projekt Alp betreuen. Die 27-jährige Schreinerin aus dem Kanton Aargau erlebte in ihrer Vergangenheit den Absturz in die Drogen. Sie hat zwei Jahre Therapie hinter sich. «Ich wollte nicht mehr zurück, da ich Angst hatte, in alte Muster zurück zu fallen», so die Aargauerin. Ihre Pläne, nach dem Entzug nach Namibia zu gehen, funktionierten nicht. Um trotzdem Abstand vom gewohnten Umfeld zu gewinnen, schaute sie sich nach Institutionen um, bei der sie die Möglichkeit hat, auf einem Bauernhof mitzuarbeiten. «In der Klinik hast du nur Therapie, mit der Arbeit auf dem Bauernhof kommst du eher wieder ins normale Leben zurück», erklärt Rahel ihre Teilnahme am Projekt Alp. Ausserdem liebt sie Tiere und am liebsten wäre sie der Arbeit mit Pferden nachgegangen. Doch als sie Familie Bärtschi kennenlernte, wussten alle ziemlich schnell, dass die Chemie zwischen ihnen passt.
Wie eine grosse Schwester
Seit fast anderthalb Jahren lebt und arbeitet Rahel auf dem Hof. Sie ist freiwillig hier und könnte jederzeit gehen, wenn sie möchte. «Ich will noch ein halbes Jahr bleiben», erzählt Rahel. Denn sie fühle sich hier gut aufgehoben und auch Monika, die Mutter von vier Töchtern, erzählt, dass Rahel «für ihre Frauen wie eine grosse Schwester geworden ist.» Sie unternehmen gemeinsam Dinge und pflegen untereinander ein sehr harmonisches und familiäres Verhältnis. «Du darfst gerne noch länger bleiben», witzeln die Bärtschis. Man spürt, dass beide Parteien glücklich sind, diesen Schritt getan zu haben.
Jede Woche kommt die für sie zuständige Betreuungsperson vom Projekt Alp vorbei und führt mit ihnen ein Gespräch. Schritt für Schritt erfahren sie Unterstützung – mental wie auch finanziell.
Zur Entschädigung fürs Wohnen, Essen und Betreuen erhalten Monika und Samuel einen Pauschalbetrag. Dieser wird vom Sozialamt an die Institution bezahlt. Das Projekt Alp bietet interne Weiterbildungen an. Eine sozialpädagogische Ausbildung der Gastfamilie ist für die Betreuung nicht Voraussetzung.
Der Weg in die richtige Richtung
Der Alltag in der Natur und das Zusammenleben innerhalb der Familie gibt Rahel Halt und Kraft, um dereinst wieder ganz auf den eigenen Beinen stehen zu können. «Ich weiss nicht, was nach Projekt Alp kommt, aber mein Traum wäre es, in einem Reisebüro zu arbeiten.» Denn seit sie hier sei, habe sie grosse Fortschritte gemacht, die vor einigen Monaten noch undenkbar gewesen wären. «Ich bin offener und auch fröhlicher geworden», strahlt sie über beide Ohren. «Ich kann viel besser mit mir alleine sein und Nähe zulassen», erzählt sie weiter. Eine starke, positive Veränderung ist auch, dass sie abstinent geworden ist. Das Nesthäkchen von drei Geschwistern betont, dass ihr das Familienleben hier gefalle. «Ich kannte das in meiner Kindheit nicht, dass man da ist, sich Zeit für einem nimmt und täglich gemeinsam isst», so Rahel, die sich erst einmal an das Familienleben gewöhnen musste, aber es in vollen Zügen geniesst.
Genossen hat Rahel zu Beginn auch die Arbeit auf dem Hof. Sie half im Garten, Stall oder beim Haushalt mit. Auch schreinerte sie gerne eigene Möbel für sich oder für andere. Ihrer Tätigkeit als Schreinerin kann sie künftig nicht mehr nachgehen, denn beim Arbeiten bekam die 27-Jährige immer mehr Schmerzen in ihren beiden Handgelenken. «Beide sollten operiert werden, bisher wurde nur ein Handgelenk viermal operiert», erzählt Rahel und betont aber, dass die Schmerzen dadurch nicht nachgelassen haben. Abklärungen zufolge könnte es Rheuma sein, eine Krankheit des Bewegungs- und Stützapparates.
Die Aargauerin nutzte die freie Zeit und beschäftigt sich darum mit anderen Dingen. Sie lernte Gitarre spielen oder geht ihrem grossen Hobby, dem Zeichnen, nach.
Seit Kurzem hat sie eine eigene Webseite (https://bambissoulart.wixsite.com/soulart), auf der sie individuelle und persönliche Beschriftungen anbietet. So ist auch schon das Auto von Samuel Bärtschi, der mit seiner Rostkunst (www.schrott-design.ch) auch Kurse anbietet, personalisiert worden. Mit ihrer Kreativität und ihrer positiven Art lässt sich erahnen, dass Rahel noch ganz viel Grosses schaffen wird.
Der Geschäftsleiter und Sozialpädagoge Ruedi Beiner erklärt im Interview, welche Qualitätskriterien es braucht, um eine Gastfamilie werden zu können und warum Projekt Alp nach wie vor auf der Suche nach geeigneten Familien ist.
Sie platzieren mit Projekt Alp Menschen in schwierigen Lebenssituationen bei Gastfamilien. Wie ist die Idee mit Projekt Alp entstanden?
Ruedi Beiner: 1994 habe ich selbst eine Alp geführt und habe während der Alpsaison einen Pflegeplatz angeboten. 1997 wurde das erlebte Projekt im Alpsommer neu erweckt und die Organisation «Projekt Alp» wurde gegründet.
In welchen schwierigen Lebenssituationen stehen die Menschen, die zu Projekt Alp gelangen?
Die Leute sind im Alter von 12 bis circa 55 Jahren und kommen von unterschiedlichen Orten mit anderen Gründen zu uns. Unser Angebot umfasst drei Bereiche: Der Jugend-, Sucht- und Psychiatrie-Bereich. Insgesamt bieten wir 40 Betreuungsplätze an.
Jugendliche kommen eher unfreiwillig zu uns und werden uns, wenn sie im Heim oder zuhause Schwierigkeiten haben, vermittelt.
Aber auch schulische Probleme können beispielsweise Gründe für eine Auszeit sein. Unsere Sucht- und Psychiatrie-Klienten hingegen gelangen nach ihrem Entzug aus der Klinik oder aus dem Spital freiwillig zu uns, um sich schrittweise auf das selbständige Leben vorzubereiten.
Wie muss eine Familie vorgehen, wenn sie mit Projekt Alp zusammenarbeiten möchte?
Die Familie kann ihr Interesse via einem Formular auf unserer Webseite oder telefonisch anmelden, dann werden wir sie zu einem Infogespräch einladen.
In einem weiteren Schritt gibt es ein Gespräch auf ihrem Betrieb, da werden verschiedene Voraussetzungen geprüft. Sind alle Kriterien erfüllt, erhalten die Gastfamilien von den Behördenstellen eine Bewilligung.
Welche Voraussetzungen muss eine Gastfamilie erfüllen, um eine Person überhaupt bei sich aufnehmen zu können?
Die Grundvoraussetzung ist ein gesunder Menschenverstand und auch die Bereitschaft, Menschen in einer Krisensituation offen in ihren Lebensalltag zu integrieren. Sinnvoll ist es, wenn die Familie eine abwechslungsreiche Tagesstruktur mit dem Verrichten von verschiedenen Tätigkeiten anbieten kann.
Eine weitere Voraussetzung ist sicher die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Fachpersonen von Projekt Alp. Eine Familie muss lernen, offen über Dinge zu sprechen, auch wenn es manchmal unangenehm sein kann. Sie sollte transparent und offen am Wochengespräch teilnehmen und erzählen, wenn es gut läuft, aber auch, wenn etwas nicht stimmt.
Wie erhalten die Gastfamilien Unterstützung von Ihnen?
Wenn das Aufnahmeverfahren, das Infogespräch und alle weiteren Abklärungen gemacht sind, beginnen wir mit der Platzierung. Im ersten Jahr erhalten die Gastfamilien gezielt Unterstützung, indem sie zwei Einführungsnachmittage besuchen. Einmal im Jahr findet in Münsingen ein obligatorischer Gastfamilientag mit einem gemeinsamen Mittagessen statt. Weitere Weiterbildungen, die wir anbieten, sind freiwillig.
Jede Familie hat während der Platzierung eine Bezugsperson, die wöchentlich mit allen Beteiligten Gespräche führt und alle zusammen die Dinge offen legen. Sollte ausserhalb der Woche etwas vorfallen, bieten wir unseren 24-Stunden-Pikettdienst an.
Wie finanziert sich Projekt Alp?
Es sind Sozialdienste wie die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), welche die Finanzierung übernehmen. Im Suchtbereich zahlt der Kanton einen Teil an die Berner Klienten, den Rest übernimmt der Sozialdienst. Gelangen die Personen über die Justiz zu uns, gehen die Kosten zulasten der Justizbehörden.
Und wie werden die Gastfamilien für ihre Arbeit entschädigt?
Sie erhalten je nach Kanton einen unterschiedlichen Pauschalbetrag. Ab dem Jahr 2022 ist dieser neu geregelt. Die Finanzierung erfolgt direkt über die kostendeckende Tagespauschale.
Wo ist Projekt Alp am stärksten vertreten?
Wir sind mehrheitlich im Kanton Bern unterwegs, da wir von unserem Standort in Münsingen einen Zeitrahmen von nicht mehr als einer Stunde Fahrzeit festgelegt haben. Einzelne Familien haben wir auch in den Kantonen Solothurn, Freiburg oder Luzern. Wir suchen in diesen Regionen noch nach Familien.
Wie finden Sie geeignete Gastfamilien?
Wir setzen auf eine Mund-zu-Mund- Propaganda, besuchen Messen und versuchen, über landwirtschaftliche Portale und über Social Media geeignete Familien zu finden. Einige unserer Familien arbeiten schon über 20 Jahre mit uns und haben über 7000 Pflegetage hinter sich. Sie sind absolute «Profis» in ihrem Gebiet. Der Aufwand, eine geeignete Familie zu finden, ist aber ziemlich gross.
Hatten Sie mit Projekt Alp bisher nur Erfolgserlebnisse oder gab es auch Negatives?
Es gibt Ausschlüsse, aber sehr wenige. Im Jahr sind es etwa ein oder zwei. Auch Abbrüche bei Klienten kommen vor, weil sie die Motivation oder die Sinnhaftigkeit verlieren.
Wie viele Mitarbeiter hat Projekt Alp?
Projekt Alp ist eine steuerbefreite, gemeinnützige Aktiengesellschaft. Als strategisches Führungsorgan steht ihr ein Verwaltungsrat aus fünf Mitgliedern vor. Bei Projekt Alp arbeiten 15 Leute – zehn davon sind in der Betreuung tätig, dazu gehören auch zwei Studierende in sozialer Arbeit.
Welche Ziele verfolgen Sie noch?
Eine grosse Auswahl an Gastfamilien zu haben, um eine passende Auswahl zu ermöglichen. Wir sind froh, dass wir trotz Pandemie und dank unseres guten Netzwerkes alle 40 Plätze besetzen konnten. Die über 400 Anfragen im letzten Jahr konnten wir nicht alle bewältigen. Uns ist es ein Anliegen, gute Betreuung in der Einzelplatzierung anbieten zu können, denn die Nachfrage danach ist gross.
Gut zu wissen
Familien gesucht: Wer selbst eine Gastfamilie werden möchte, kann sich via Formular auf der Webseite oder telefonisch anmelden. Projekt Alp AG, Bernstrasse 11, CH – 3110 Münsingen, T +41 31 721 80 08, info(at)projektalp.ch, www.projektalp.ch.
Kurz Erklärt: Projekt Alp – was ist das?
Der Berner Ruedi Beiner hat 1997 Projekt Alp, eine Non-Profit Organisation, gegründet, die ab Mai dieses Jahres im 25. Betriebsjahr arbeitet. Projekt Alp unterstützt Menschen mit Suchtproblemen, die nach Beendigung des körperlichen Entzugs Zeit und Abstand sowie Betreuung für ihre schrittweise Integration brauchen. Aber auch Menschen mit einer psychischen Erkrankung, die nach einem Klinikaufenthalt einen geschützten und betreuten Rahmen benötigen, erfahren bei Projekt Alp Hilfe. Ebenfalls Jugendliche ab dem 12. Lebensjahr, die in ihrem gewohnten Umfeld nicht mehr zurechtkommen und ihre Ziele beispielsweise durch eine Suchtmittelgefährdung nicht verfolgen können.
Von Chantal Bigler