Nathalia: «Danke Huttwil!»
Am 14. März, exakt am zehnten Geburtstag eines der Kinder, sind sie in Huttwil angekommen. Die Familie mit fünf Kindern und der Grossmutter flüchtete von Kiew über Moldawien, Rumänien, Ungarn, Österreich und Deutschland in die Schweiz. Sieben Nächte waren sie mit ihrem Auto unterwegs. Jetzt sind sie im katholischen Pfarrhaus in Sicherheit.
Huttwil · Die achtköpfige Ukrainische Familie hat spontan zugesagt, ihre Geschichte dem «Unter-Emmentaler» zu erzählen. Mit dabei ist die 46-jährige Ukrainerin und Dolmetscherin Maryna Spycher von Rohrbach, die seit 22 Jahren in der Schweiz lebt. Nathalia, die Grossmutter, wirkt noch immer geschockt vom Kriegsausbruch. «Am 24. Februar hat der Krieg begonnen. Wir haben Sirenen und Bomben gehört», erzählt sie. «Wir hatten riesige Angst und nach zwei Tagen haben wir unser Zuhause in Kiew in Richtung westliche Ukraine verlassen. Wir wollten die Ukraine nicht verlassen, nur etwas weiter weg vom Kriegsmittelpunkt, und so haben wir nur wenige Sachen eingepackt, wir dachten, nach zwei, drei Tagen ist der Krieg vorbei und wir können zurück in unser Zuhause.»
Sieben Nächte unterwegs
Dimitri, der Vater der fünf Kinder im Alter von drei Monaten bis zwölf Jahren, fuhr mit seinem Auto von der westlichen Ukraine immer wieder nach Kiew zurück, um Flüchtende in Sicherheit zu bringen. Er selbst wollte die Ukraine nicht verlassen, dachte in der westlichen Ukraine in Sicherheit zu sein. Aber die Situation spitzte sich zu und dann, am 8. März, entschloss sich die Familie zur Flucht in die Schweiz.
«Wir haben fünf Kinder, das Jüngste ist gerade mal drei Monate alt – für die Sicherheit unserer Kinder haben wir unsere Heimat verlassen», erzählt Irina, die 38-jährige Mutter der Kinder, traurig. Eine lange und mühsame Fahrt durch fünf Länder mit jeweils ein bis zwei Tagen Aufenthalt stand ihnen bevor. An den Landesgrenzen mussten sie stundenlang warten, es gab riesige Autoschlangen von sehr vielen Flüchtlingen, die weg wollten. «Für uns Erwachsene war es anstrengend, aber die Kinder haben es als Ferienreise angeschaut, für sie war es nicht so tragisch», meint Irina. Bestand Angst, dass sie es nicht schaffen würden? «Nein, wir haben immer fest daran geglaubt, dass wir unser Ziel erreichen. Wir haben gebetet und uns drauf konzentriert, in der Schweiz unsere Bekannten zu treffen», erklärt Nathalia bestimmt.
Danke Huttwil
«Wir sind hier sehr freundlich empfangen worden und Nachbarn haben uns Karten mit Willkommensgrüssen geschrieben. Wir sind ganz Huttwil und vor allem auch Philippe Groux, dem Kirchgemeindepräsidenten und Vertreter der Pfarrei Huttwil, unendlich dankbar», sagt die Familie. «Wir fühlen uns hier sicher und haben ein wunderbares Haus zur Verfügung gestellt bekommen, wir sind sehr glücklich und einfach dankbar, in Sicherheit zu sein.» Um die Dankbarkeit ein wenig zeigen zu können, hat Nathalia auf einer Tafel die Ukrainische und die Schweizer Flagge zusammen aufgemalt. Darunter schrieb sie: «Danke Huttwil!» Gerne würde sie dem Städtli etwas zurückgeben. Als Zeichnungs-Lehrerin malt sie leidenschaftlich gerne mit Acrylfarben auf Leinwände. «Ich könnte hier doch Kurse geben, oder mit anderen Geflüchteten malen, um das Erlebte zu verarbeiten», ist ihre Idee. Doch leider hat sie hier keine Farben und Leinwände – die hat sie zu Hause in Kiew.
Das Leben hier
«Beim Einkaufen oder Spazierengehen verständigen wir uns mit Händen und Füssen», lacht Nathalia. Das sei kein Problem, alle seien sehr nett zu ihnen. «Die Schweiz hat fantastische Milchprodukte und der Käse ist sehr fein. Überhaupt ist das Essen hier sehr gut», schwärmt sie. Kürzlich hatten die Kinder bereits ihren ersten Schultag in der Hofmatt. Die Dolmetscherin Maryna Spycher begleitete die Kinder und meinte: «Es hat ihnen sehr gefallen und wir sind herzlich aufgenommen worden. Es ist einfach toll und es tut den Kindern gut.» Ihr Vater Dimitri ist zwischenzeitlich in der Schweiz unterwegs und hilft beim Organisieren bei anderen Flüchtlingen. Alles in allem hätten sie grosses Glück gehabt, meint Nathalia: «Zum grossen Glück mussten wir nichts Schlimmes erleben und die Kinder haben vom Krieg nicht viel mitbekommen.»
Angst bleibt
Mittlerweile liegt vieles rund um Kiew in Schutt und Asche. In der Hauptstadt Kiew selber sind aber verhältnismässig nur wenige Häuser zerstört. Auch das Haus der «Huttwiler» Familie ist bis jetzt unversehrt. «Wir machen den ganzen Tag fast nichts anderes, als Nachrichten hören und schauen. Wir haben sehr viel Kontakt zu Freunden in der Ukraine und hören von den schrecklichen Dingen, die passieren. Abschalten können wir nicht, es ist eine riesige Angst in uns, was noch alles passieren wird. Niemand weiss, was morgen ist. Diese Ungewissheit ist kaum zu ertragen», sagt die 63-jährige Grossmutter ernst. Das sei der Unterschied zu der Schweiz: In der Schweiz wisse man, was morgen ist, und das gebe eine Sicherheit, meint sie weiter. Obwohl es ihnen hier sehr gut geht und sie der Schweiz und Huttwil unendlich dankbar sind, möchten sie so schnell wie möglich wieder nach Hause. Sobald der Krieg vorbei ist, wollen sie die Schweiz verlassen. Ob ihr Haus und ihre Freunde bis zu diesem Zeitpunkt unversehrt bleiben, wissen sie natürlich jetzt noch nicht. Und doch: «Unser Leben ist dort, unser Zuhause ist in der Ukraine», sagt Nathalia.
«Nie im Leben hätten wir gedacht, dass wir eines Tages zu Flüchtlingen werden! Wirklich nie! Uns ging es sehr gut in der Ukraine. Wir hatten alles, zu Essen, ein Haus und Geld. Und jetzt haben wir nichts mehr», sagt sie nachdenklich.
Wer die Familie oder andere Flüchtlinge finanziell unterstützen will, kann dies mit einer Spende auf das Postcheckkonto des Pastoralraumes Oberaargau, Konto CH44 0900 0000 4500 3376 4 mit dem Vermerk «Flüchtlinge» tun. Die Dolmetscherin Maryna Spycher ist seit 22 Jahren in der Schweiz, wohnt in Rohrbach und arbeitet als Englischlehrerin. Momentan hilft sie Flüchtenden im Alltag und beim Leben in der Schweiz
Von Marianne Ruch