Offline sein ist der letzte grosse Luxus
«Digital Detox – weniger online für mehr Leben.» So lautete der Titel des öffentlichen Vortrags in der Klinik SGM Langenthal.
Wer sich pausenlos seinem Handy widme, verpasse das echte Leben, so das Fazit von Referent Simon Künzler.
«Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift – allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift ist.» Auf dieses Zitat des Schweizer Arztes Paracelsus (1493 bis 1541) aus dem Jahr 1538 verwies Albrecht Seiler, Chefarzt der gastgebenden Klinik SGM Langenthal, bei der Begrüssung der 30 zum Referat von Simon Künzler erschienenen Interessierten. Damit leitete er subtil über zum Thema des Gründers und Partners der in Zürich domizilierten Firma xeit. Simon Künzler schwärmte von seinen siebenwöchigen Ferien in Schweden, wo er freiwillig auf die Dienste seines Handy verzichtete: «Eine grossartige Zeit, wo ich mich Tag und Nacht dem Fischen widmete und sehr entspannt war.» Hier habe er seine Batterien aufladen und neue Energie für den Arbeitsalltag tanken können. Der Referent zeigte ein typisches Foto von heute mit acht Jugendlichen in einem Restaurant, die sich zum Essen treffen, jedoch nicht miteinander sprechen. Grund: Alle sind anderweitig beschäftigt und drücken am eigenen Handy herum.
«Wir denken nicht, wir googeln»
Auf einem anderen Bild aus den 50er- oder 60er-Jahren sieht man Kinder vor einem Schwarz-Weiss-Fernseher auf einem Sofa sitzen. Sie sehen sich gemeinsam die TV-Kinderstunde an. Diesem Bild aus der guten alten Zeit ist ein anderes gegenübergestellt, auf dem vier Jugendliche – auf einem Sofa sitzend – dermassen intensiv mit chatten beschäftigt sind, dass sie voneinander keine Notiz nehmen. «Das Leben wird festgehalten wie in einem Fotoalbum – aber das echte Leben verpasst man dabei», so Simon Künzler, der gleich die nächste These auf Lager hatte: «Wir denken nicht! Wir googeln.» Der Referent ging der Frage nach, was die Geräte mit uns machen und wie wir besser mit diesen umgehen können. Er zitierte den US-Wirtschaftsjournalisten Nicholas Carr: «Einst fiel es mir leicht, mich in ein Buch oder einen langen Artikel zu vertiefen. Heute ist das nur noch selten der Fall. Nach einer oder zwei Seiten schweifen meine Gedanken ab. Das konzentrierte Lesen ist zu einem Kampf mit mir selbst geworden. Wenn du im Internet surfst, rast du über die Oberfläche: Du siehst dabei viel, aber du scannst alles nur kurz. Nichts kannst du wirklich fokussieren.»
2617 Handyberührungen täglich
Künzler verriet, was Alexander Markowetz, Informatikprofessor an der Universität Bonn, herausgefunden hat: «Wir halten es 18 Minuten aus, nicht auf unser Handy zu schauen. Umgerechnet 88-mal täglich unterbrechen wir unsere eigentliche Beschäftigung für Chats, Spiele und Nachrichten. Im Durchschnitt berühren wir unser Handy 2617-mal pro Tag.» Dass unsere Handy-Liebe fatale Folgen haben könne, habe sich bei einem 39-Jährigen in Japan gezeigt. Dieser habe mit dem Auto zwei Frauen überfahren, weil er auf dem Handy das Augmented-Reality-Game «Pokémon Go» spielte. Weltweit würden sich Unfälle häufen, bei denen sich Leute auf ihr Handy konzentrieren und dann, völlig auf ihr Gerät konzentriert, in einen Pfosten laufen würden.
«Display aus, Wirklichkeit an»
In der Forschung sei, so Simon Künzler, die Frage noch nicht eindeutig geklärt, wann Internetabhängigkeit beginne. Hierzulande werde aber davon ausgegangen, dass ein Prozent der Bevölkerung die Kontrolle über ihren Internetkonsum verloren habe. Dabei seien Jugendliche gefährdeter, liege doch gemäss dem Schweizer Suchtpanorama diese Zahl bei etwa sieben Prozent. Bei weiteren 300 000 Personen in der Schweiz sei der Internetkonsum zumindest als riskant einzustufen. Philosoph Hans Schnitzler habe mit 100 Studenten ein Experiment inszeniert. Er habe die Studenten eine ganze Woche lang offline gelassen. Das Ergebnis: «Fast alle Teilnehmer kamen durch den Verzicht auf digitale Medien mehr in der Realität an. Sie hatten das Gefühl, mehr zu leben.» Zusammengefasst bedeute dies: «Display aus, Wirklichkeit an.» Der Referent streute bei seinen Ausführungen und Einschätzungen auch immer wieder witzige, den Anlass belebende Anekdoten ein. Gleich mehrere Besucher nutzten die Möglichkeit, Fragen zu stellen. «Es ist eine heikle Entwicklung, was hier so abgeht mit dem Chatten», stellte ein besorgter Familienvater fest. Ein Autofahrer ärgerte sich über Leute, die mit Blick auf ihr Handy, die Gedanken irgendwo, den Fussgängerstreifen betreten, ohne den Verkehr im Auge zu behalten. SGM-Chefarzt Dr. med. Albrecht Seiler fasste die spannenden Ausführungen des Referenten am Ende so zusammen: «Die digitalen Möglichkeiten sind grossartig. Wir müssen jedoch lernen, mit diesen sinnvoll und mit der richtigen Dosis umzugehen.»
Von Hans Mathys