• Das liebevoll kreierte Stück war am Weihnachtsfest auf einen Schlag nicht mehr wiederzuerkennen. · Bild: Marianne Plüss

23.12.2021
Emmental

Paulas Weihnachtstorte

Eine Weihnachtsgeschichte von Marianne Plüss · Alle Jahre wieder träumte Paula von einem harmonischen Weihnachtsfest. Sie machte sich viel Arbeit, dekorierte, deckte den Tisch aufwändig. Egons Job war der Kauf des Weihnachtsbaumes. Auch brachte er Geschenke zu den Verwandten. Die Familie war zu gross geworden, man konnte nicht mehr mit allen feiern. Sie verstaute ihre eben mitgebrachten Einkäufe.
Während Egon mit den Päckchen unterwegs war, würde sie nun den Baum schmücken. Sie holte den Weihnachtsschmuck und ging in die Stube. Nirgends ein Baum. Sie lief vors Haus, in den Keller, nichts. Sie rief Egon an, aber er ging nicht ran. Notgedrungen verschob Paula das Schmücken und erledigte die übrigen Vorbereitungen für Heilig Abend. Egon hatte den Baum sicher im Kofferraum vergessen.

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Endlich hörte sie den Wagen. Sie lief hinaus, warf einen Blick ins Innere, sah einen leicht vom Glühwein geröteten, heiteren Gatten.
«Egon, wo ist er!» Egon blickte fragend in das angespannte Gesicht einer aufgewühlten Ehefrau.
«Wer?»
«Der Weihnachtsbaum! Wo ist er?»
Egons Teint wechselte akut von zartrosa zu ultrablass.
«Ich, ich glaube, ich habe ihn vergessen», stotterte er und krabbelte aus dem Auto.
Entsetzt schrie sie ihn an: «Du hast ihn vergessen? Spinnst du? Du holst auf der Stelle einen Baum, und wenn ich nicht in einer halben Stunde einen hier habe, werfe ich dich raus!»

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Wutentbrannt lief sie ins Haus. Kleinlaut stieg Egon wieder ins Auto und fuhr los. Mit grossem Glück ergatterte er den letzten Baum, den der Baumverkäufer im Dorf noch hatte. Er packte das mickrige, schief gewachsene Tännlein, fuhr heim, steckte es in den Ständer und trug es hinein. Paula war entrüstet: «Was für ein Besen!» «Es gab nur noch diesen.» Egon fühlte sich schlecht. Gestresst und unachtsam nahm sie den Karton mit den Kugeln. Der Schmuck kullerte auf den Boden und zerbrach. Sie musste sich beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen. Eilig wischte sie alles zusammen und holte Ersatz. Sie hatte noch alten, abgenutzten Schmuck. Sie hängte die mit Kerzenwachs voll gekleckerten Sachen auf und atmete durch. Geschafft!

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Bald trudelten die Söhne mit ihren Familien ein. Paula machte in der Küche das Essen bereit. Versehentlich verschüttete sie einen Teil der Erbsen und Karotten auf den Boden. Rasch sammelte sie alles mit schlechtem Gewissen auf. Sie spülte das Gemüse heiss ab, gab es zurück in die Schüssel und würzte nach. Wie sie das Geschnetzelte in die auf dem Tisch stehende, vorgewärmte Platte hineintat, gab es einen Knall und eine Stichflamme. Die feuerfeste, vermutlich ungleich erwärmte Form zerbarst. Der Tisch darunter bekam einen Brandfleck. Paula blieb verdattert stehen. Alle sprangen herzu. Was sollten sie tun? Alles wegschmeissen? Das viele, teure Fleisch vorsichtig wegheben, in eine andere Form tun und die Splitter so gut wie möglich entfernen? Die geschockte Paula meinte, es sei zu gefährlich, das noch zu essen. Jemand könnte einen Splitter schlucken und sich verletzen. Der sparsame Egon erklärte, man müsse halt aufpassen, den Kindern helfen, sich Zeit lassen.
So kauten sie alle ganz vorsichtig. Ab und zu klaubte einer einen Splitter weg. Gespräche wollten darum nicht recht in Gang kommen. Trotzdem gifteten die eifersüchtigen Schwiegertöchter einander an. Sabine fragte, ob Aline ihre Bluse aus der Brockenstube habe, und Aline meinte, Sabines vorherige Frisur habe ihr besser gefallen. Nach dem anstrengenden Mahl liefen alle ins Wohnzimmer. Aline mäkelte wie erwartet über den komischen Baum. Egon las die Weihnachtsgeschichte und einen Text über Liebe, Vergebung und Frieden vor. Die jungen Frauen verzogen spöttisch den Mund.
Dann betete Egon und bat Gott um Schutz für die Familie mit der Bitte, dass in diesen schwierigen Zeiten alle gesund bleiben mögen. Sabine hüstelte, Aline rollte die Augen. Wie altmodisch die Schwiegereltern doch waren! Nach der Bescherung ging es zum Nachtisch. Im Esszimmer wartete bereits ein Teller mit Nüssen, Mandarinen, Feigen und Datteln.

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Stolz trug Paula ihre berühmte Weihnachtstorte auf. Gerade, als sie diese auf den Tisch stellen wollte, trat sie auf die Haselnuss, die der kleinen Bianca eben heruntergefallen war. Sie rutschte aus, versuchte mit bizarren Bewegungen das Gleichgewicht zu halten. Egon wollte Paula festhalten, doch die durch das Rutschen entstandenen Kräfte siegten. Die Torte flog in hohem Bogen mitten auf den Tisch, zerplatzte klatschend und beschmutzte die festliche Kleidung aller. Ein Tumult brach los. Sabine und Aline beschuldigten sich gegenseitig, Paula nicht zur Hand gegangen zu sein. Nick rügte Bianca, die jetzt lauthals heulte. Egon brüllte Paula an, ob sie denn nicht aufpassen könne, und Noah schalt Frau und Schwägerin. Die Enkel Tim, Sophie und Elias blickten entsetzt auf die Erwachsenen, die sich so aufführten, wie man es ihnen niemals erlaubt hätte.

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Das war zu viel für Paula. Sie liess das Chaos sein und lief ins Wohnzimmer. Dort setzte sie sich hin, legte den Kopf in die Arme und schluchzte. Wie eine Lawine überkam es sie. Ihre ganze Unvollkommenheit, ihre Fehler, die vielen Missgeschicke, ihr Anspruch an den eigenen Perfektionismus, dann ihre vermeintliche Schuld am ständigen Streit von Sabine und Aline. Sie hatte es nicht fertig gebracht, Frieden unter ihnen zu stiften, und das machte sie fertig. Ausserdem war sie von der vielen Arbeit völlig kaputt. Sie wünschte sich aus dem Haus und weg auf eine einsame Insel.

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Völlig perplex standen alle da. Sie wischten die Torte von den Kleidern und tapsten vorsichtig herzu, räusperten sich, wollten irgendetwas sagen. Niemand aber fand die richtigen Worte. Sabine meinte spitz: «Schade um das Dessert!» Aline setzte noch eins oben drauf: «Ich sage ja immer, man könnte es auch einfacher machen!» Das gab Paula den Rest. Wie es ihr ging, schien keinen zu kümmern. Sie wischte die Tränen ab und sagte zornig: «Aline hat recht, es reicht. Ich mache mir jedes Jahr viel zu viel Arbeit, weil ich euch halt lieb habe. Ich wollte euch immer gerne ein perfektes Fest bieten, zu Ehren von Christi Geburt. Wir feiern ja deswegen, und sonst kann man es auch gleich lassen, wenn einem das nichts sagt. Aber jedes Jahr geht etwas schief oder mault einer. So schlimm wie dieses Jahr war es aber noch nie. Eure Onkel und Tanten können nicht hier sein, weil wir sonst zu viele sind. Der Papa hat vergessen, einen schönen Baum zu kaufen, darum diese Staude. Die Christbaumkugeln sind zerbrochen, ich musste die alten verwenden. Das Gemüse ist mir auf den Küchenboden gefallen, das Geschnetzelte voller Splitter, der Tisch ist kaputt. Die Torte ist auch dahin. Und dann eure Eifersüchteleien und Gehässigkeiten! Warum könnt ihr euch nicht leiden und ein wenig nett sein? In Zukunft feiere ich mit euch kein Weihnachtsfest mehr. Schluss! Ich kann nicht mehr. Nächstes Jahr fliege ich über die Festtage nach Mallorca!»

So hatte Paula noch nie mit ihrer Familie gesprochen. Aber einmal ist es immer das erste Mal.

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Das alles erboste den fünfzehnjährigen Tim. Er hing an seiner Oma, die mit ihm Uno spielte, mit ihm zum Pilze sammeln ging. Mit trotziger Stimme, die Tränen zurückhaltend, sagte er zu den dumm dastehenden Grossen und zu den Müttern: «Ihr seid einfach wahnsinnig blöd. Oma macht es für uns alle immer schön. Ihr aber seid die ganze Zeit eklig zueinander und redet immer schlecht übereinander. Wir sind doch eine Familie! Wir Kinder finden euch krass doof. Und wieso macht ihr immer unsere Grossmutter fertig? Und Bianca weint auch!» Seine schniefende kleine Cousine tat ihm leid. «Und damit ihr es wisst, ich werde weiterhin mit Oma Weihnachten feiern. Ich gehe auch nach Mallorca!» Bianca, Elias und Sophie sprangen auf, umringten, umarmten und drückten die Oma. Sie schrien und riefen wild durcheinander. «Wir auch! Wir wollen auch mit nach Mallorca, Oma! Dürfen wir mit? Ohne dich macht Weihnachten keinen Spass! Dort kann man doch baden? Ist dort das Meer?»

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Grosse, spürbare Betretenheit hing fett im Raum. Aline und Sabine hatten tomatenrote Köpfe, Nick und Noah sahen bekümmert aus, Egon strich seine wilde, nicht altersgerechte Mähne glatt. Endlich fasste sich Nick ein Herz. «Setzt euch, wir müssen reden!» Er begriff erst jetzt, wie falsch gestrickt sie waren. Da sassen sie um den Baum, sangen nur aus Tradition von Liebe und Frieden, aber hatten oft Zank untereinander. Das sagte er nun auf die Gefahr hin, sich vollends zu zerstreiten. Er sah das verweinte Gesicht der Mutter und die vier Kinder, die an ihrer Grossmutter wie Kaugummi klebten und ihren Eltern ihre ganze Entrüstung zeigten.

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«Es tut uns leid, Mutti. Ich schlage vor, dass wir uns gegenseitig entschuldigen, uns vergeben, und es in Zukunft besser machen. Und wir könnten ja auch einmal über Weihnachten in die Berge, in eine Alphütte, oder noch besser in ein Hotel, wo niemand kochen muss, und dann noch ein wenig Ski fahren? Es muss ja nicht jedes Jahr nach dem gleichen Schema ablaufen, was meint ihr? Wir würden es doch sehr vermissen, nicht mehr zusammen zu feiern.» Bittend blickte Nick seine Mutter an und Noah nickte.

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Die Kinder jubelten über die Aussicht mit Berghütte, Hotel und Skifahren. Langsam kam Bewegung in die erstarrte Gesellschaft. Sie nickten sich verlegen und schuldbewusst zu, hüstelten, räusperten sich, suchten erste, zaghafte Worte, um sich wieder irgendwie zu finden und entschuldigten sich. Sabine und Aline, die Augen beschämt gesenkt, redeten leise miteinander. Paula sah, dass beide eine Träne wegwischten. Ob die gegenseitigen Verletzungen, Beleidigungen und die mangelnde Wertschätzung jetzt vielleicht ein Ende hatten? Paula putzte sich die Nase. Die spitzen Bemerkungen von Sabine und Aline nagten noch an ihr. Auch dass Egon sie so grauenhaft angeschrien hatte. Aber – hatte sie ihn nicht auch wegen dem Baum angebrüllt? Sie hatten beide Schuld. Egon legte den Arm um Paula: «Liebes, ich wusste gar nicht, dass du noch so gelenkig bist! Dein skurriler Tanz mit der Torte war einmalig!»

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Die Anspannung war weg, alle lachten. Weil es keinen Nachtisch gab, machten sie stattdessen einen Spaziergang durch den frisch gefallenen Schnee und das beleuchtete Dorf. Fröhlich kehrten sie zurück und fanden sich bei einem heissen Tee und guten Gesprächen wieder. Sie fühlten plötzlich, wie gut es doch war, einander zu haben, gesund zu sein, zu leben, und Zeit miteinander zu verbringen. Die Stimmung war zum ersten Mal seit Jahren locker und entspannt.

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Paula dämmerte es plötzlich und ihr wurde ganz seltsam zumute. Denn das war es, was sie mit dem perfekten Weihnachtsfest unbewusst immer gemeint hatte, nämlich nicht einen superprächtigen Baum, den schön gedeckten Tisch oder das herrliche Essen.
Sondern schlicht und einfach Frieden untereinander.