Peter Niehenke: Ist der Nacktwanderer eine Zumutung fürs Dorf?
Peter Niehenke findet es toll, nackt spazieren zu gehen. Indem er seinen Körper der Natur aussetzt, stärkt er sein Immunsystem. Doch einigen Bürger aus Affoltern gefällt das ganz und gar nicht. Sie sagen, er sei eine Zumutung fürs Dorf. Man wirft ihm sogar vor, eine Gefahr für Kinder zu sein. Gemeinde und Polizei sind weitgehend die Hände gebunden.
Affoltern · Peter Niehenke (72), der Nacktwanderer von Affoltern: Ein Perversling? Ein Weltverbesserer? Ein Triebtäter? Oder einfach einer, der unbekleidet die Ruhe in der Natur sucht? Darüber scheiden sich die Geister im 1100-Seelendorf seit Jahrzehnten. Da gehen schon mal Menschen mit dem Schirm auf ihn los mit den Worten: «Du Hueresouhung». Andere klopfen ihm auf die Schultern für den Mut, den er hat, denn Peter Niehenke lebt unbekleidet. Er geht nicht spazieren um des Spazierenwillens – dies sei langweilig – sondern er geht spazieren, weil der dabei nackt sein kann. «Es ist ein unglaublich schönes und beglückendes Gefühl, den Wind auf der Haut zu spüren. Ein Gefühl, das ich angezogen nie erleben könnte», erzählt Peter Niehenke. Er sitzt in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa – angezogen, um die Journalistin nicht in Verlegenheit zu bringen – und versucht zu erklären, wieso er ausschliesslich nackt spazieren geht. «Der Natur nackt ausgeliefert zu sein hat etwas Tolles. Ich habe eine tief sitzende Sehnsucht nach der Verschmelzung mit der Natur», erzählt der aus dem deutschen Freiburg stammende Astrologe und Sexualtherapeut. Wenn er seinen nackten Körper der Natur aussetzt, dann stärke er damit sein Immunsystem, erklärt Niehenke. Dabei ist er nicht nur bei schönem und warmem Wetter draussen anzutreffen, sondern auch bei Regen und bei Schnee.
«Nur einen Drittel der Leute stört es»
Dass es nicht allen Menschen gefällt, dass er nackt spazieren geht, ist Peter Niehenke bewusst. Doch diejenigen Personen, welche sich an seiner Nacktheit stören oder gar belästigt fühlen, seien eine Minderheit, behauptet er. Seine persönliche Erfahrung zeige ihm, dass etwa ein Drittel der Menschen es toll finden. «Das merke ich daran, dass die Leute mich ansprechen, mit mir Selfies machen wollen oder dass sie hupen, wenn sie mir beim Spaziergang mit dem Auto entgegenkommen.» Rund einem Drittel sei es egal. Ein weiterer Drittel der Bevölkerung empfinde es als störend. Ein Teil davon nehme es dabei entweder zähneknirschend hin, reagiere wütend, stelle ihm nach oder zeige ihn bei der Polizei an. Lediglich ein Sechstel der Bevölkerung reagiere aggressiv. «Diese aggressiven Reaktionen haben jedoch abgenommen, seitdem ich beim Spazieren eine Webcam um den Hals trage. Ich sage den Leuten dann immer: Alles, was sie sagen und alles, was sie tun, erscheint live im Internet», verrät Niehenke.
Allerdings ist das Filmen von Personen gegen ihren Willen gestützt auf das Datenschutzgesetz nicht erlaubt, sagt dazu die Kommunikationsstelle des EDÖB (Eidgenössischer Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragter). Es gilt das Recht am eigenen Bild (oder Video). Der Eingriff in die Privatsphäre sei umso schwerwiegender, wenn die Bilder im Internet publiziert würden. Gemäss Zivilrecht habe man die Möglichkeit, sich gegen die Veröffentlichung zu wehren und die Ansprüche nötigenfalls mittels Zivilklage geltend zu machen. Eine Zivilrechtsverletzung kann jedoch nicht mit Strafrecht geahndet werden.
Doch es gebe auch Menschen, die nichts dagegen hätten, dass Peter Niehenke nackt durch die Gegend läuft. Niehenke schildert ein Erlebnis mit einer Person, die ihm sagte, er solle nicht damit aufhören, denn er sei ein Hoffnungsträger. «Ich merke, dass es Menschen gibt, die eine helle Freude an mir haben. Nicht weil sie meinen Anblick so toll finden, sondern weil sie es toll finden, dass so was geht», freut sich Niehenke. Ein Bauer habe ihm sogar einmal gesagt, er sei stolz, dass Affoltern ihn habe. Ein weiterer Bürger, der zwar das Nacktsein von Peter Niehenke in der Öffentlichkeit nicht befürwortet, sagte gegenüber dem «Unter-Emmentaler»: Besser nackt als vermummt beispielsweise mit einer Burka. So könne man die Person wenigstens erkennen. «Es ist ja nicht so, dass ich überall nackt bin», erklärt der 72-Jährige, «ich gehe zum Beispiel nie nackt einkaufen und schon gar nicht nackt an ein Konzert, denn das macht überhaupt keinen Spass.»
Eine Zumutung fürs Dorf
Und doch gibt es viele laute Stimmen aus der Bevölkerung, welche sich so gar nicht mit Niehenkes Passion anfreunden können. Sie fühlen sich durch seine öffentliche Nacktheit gestört und glauben keineswegs, dass ihre Meinung eine Minderheit darstellt. So sagte eine Frau gegenüber dem «UE», dass Peter Niehenke eine Zumutung für das Dorf sei. Er nehme keine Rücksicht auf die Bevölkerung und spaziere auch nackt durchs Dorf, wenn gerade die Schule aus sei. Zudem kenne sie niemanden, den das Nacktwandern von Niehenke nicht stören würde. Ein anderer Bürger ärgert sich, dass Peter Niehenke manchmal die Arme hinter dem Kopf verschränke, wenn er Leuten begegne, um sich so noch besser präsentieren zu können.
Direkt an der Wanderstrecke von Niehenke wohnt ein Bürger, der ebenfalls überzeugt ist, dass er absichtlich spazieren gehe, wenn viele Leute unterwegs sind. In einem sind sich diese Stimmen von Affoltern einig: Peter Niehenke wolle mit seiner Nacktheit provozieren und sei deshalb in der breiten Öffentlichkeit nicht akzeptiert. So komme es auch immer wieder vor, dass Kinder mit ihren Eltern in Affoltern nicht mehr spazieren gehen möchten, weil der Nacktwanderer unterwegs sein könnte.
Die Vorliebe von Niehenke, nackt zu spazieren, sehen aber nicht alle so eng, denn einigen ist es schlicht und einfach egal, wenn er unbekleidet unterwegs ist. Die Menschen sind einfach verklemmt, tut ein in der Nähe von Niehenke wohnender Bürger seine Meinung kund. Peter Niehenke, mit den Vorwürfen der Provokation konfrontiert, sagt, dass dies eine böse Unterstellung sei, denn das Gegenteil treffe zu. «Ich meide das, wann immer möglich. Dass ich gezielt losgehe, wenn viele Menschen unterwegs sind, stimmt nicht. Ich gehe doch in die Natur, weil ich mit ihr allein sein will.» Er glaubt, wenn man gesellschaftliche Konventionen verlässt, empfinden das viele Menschen als Provokation. Er nehme diesen Vorwurf aber in Kauf, weil ihm seine Rechte wichtiger seien und nennt gleich Beispiele aus der Gesellschaft. «Wenn sich Menschen piercen, tätowieren lassen oder sich in einer bestimmten Weise anziehen, ist das ja auch eine Art Provokation. Man will damit auffallen und Aufmerksamkeit erregen. Und ich will die Aufmerksamkeit auf das lenken, was ich als ‹Perversion der Scham› bezeichne, nämlich darauf, dass wir uns für die falschen Dinge schämen.»
Eine Gefahr für Kinder?
Einem Artikel der Badischen Zeitung und einer Veröffentlichung auf der Internetseite eines in Deutschland ansässigen Anwalts zufolge wurde Peter Niehenke 2013 durch das Landesgericht Freiburg wegen sexuellem Missbrauch von Kindern und Besitz jugendpornografischer Bilder angeklagt und nur teilweise freigesprochen. Freigesprochen wurde Niehenke damals vom Vorwurf, einen weiteren Jungen missbraucht zu haben. Er wurde zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt. Die Taten hatten nach Feststellung des Landesgerichts zwischen 1994 und 1996 stattgefunden. Nachdem die Staatsanwaltschaft erfolgreich Revision einlegte, hob der deutsche Bundesgerichtshof den teilweisen Freispruch wieder auf. Woraufhin das Landesgericht erneut über die Freiheitsstrafe von Peter Niehenke entscheiden musste.
Auch ein Vorfall in Affoltern im Jahr 2006 machte von sich Reden, bei dem ein achtjähriges Mädchen mit einem Knutschfleck von Peter Niehenke nach Hause kam. Der Vater des Mädchens, welcher seinen Namen nicht in der Zeitung veröffentlicht haben möchte, ist seitdem nicht mehr gut auf Peter Niehenke zu sprechen. «Zwei Jahre zuvor sind wir neben den noch unbekannten ‹Nacktwanderer» gezogen», erzählt er. Damals herrschte ein lockeres Nachbarschaftsverhältnis und die drei Töchter der Familie spielten gelegentlich im Garten von Peter Niehenke und seinem Partner.
Die Eltern tolerierten das Nacktsein von Peter Niehenke weitgehend. Die Kinder seien oft mit Schokolade und attraktiven Spielen wie Tischtennis in den Garten von Niehenke gelockt worden, erzählt der Familienvater. Ein Verdacht auf böse Hintergedanken des Nachbarn war zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben. Bis zu jenem Tag im Sommer 2006, als die damals achtjährige Tochter nach dem Spielen mit einem Knutschfleck am Hals nach Hause kam. «Mit Entsetzen mussten wir feststellen, dass Peter Niehenke diesen Fleck am Hals unserer Tochter verursacht hatte», sagt der Vater. Es stellte sich heraus, dass er dem Mädchen gesagt hatte, dass er mit ihr ein Vampirspiel machen werde. «Ein achtjähriges Mädchen stellt sich unter einem Spiel doch alles andere vor als das Saugen und Beissen an ihrem Hals», empört sich der Vater. Es handle sich in dieser Hinsicht um einen sexuellen Übergriff, ist er überzeugt. «Unsere Tochter erzählte uns, dass Peter Niehenke sie zuerst auf seinen Schoss genommen und ihr auf dem Computer Bilder von nackten Leuten gezeigt habe. Ausserdem habe er gefragt, ob sie denn wisse, was Sex sei». Auch den beiden anderen Töchtern zeigte Niehenke Bilder von Nackten. Doch zu einer Anzeige wegen sexuellen Übergriffs kam es nicht. «Ich hätte das Foto des Knutschflecks nichts selbst machen dürfen, sondern hätte es durch die Polizei oder die Kinderschutzgruppe machen lassen sollen. Das wusste ich aber nicht», bedauert der Familienvater. Da das vorhandene Foto leider keine Beweislast darstellte, sanken die Chancen auf Erfolg bei Gericht auf null. Das zuvor lockere Verhältnis zwischen Niehenke und der Nachbarsfamilie fand mit diesem Vorfall ein abruptes Ende. Obwohl die drei Töchter der Familie seither weder das Grundstück von Peter Niehenke betreten haben noch ein direkter Kontakt stattfand, ist bis heute durch die direkte Nachbarschaft ein gelegentliches Aufeinandertreffen nicht zu umgehen.
Anzeige wegen Pfefferspray-Einsatz
Die gegenseitige Feindschaft führte jüngst dazu, dass Peter Niehenke seinen Nachbarn wegen versuchten Raubes und dieser ihn wegen Einsatz von Pfefferspray anzeigte. Was war passiert? «Der Nacktwanderer vergass, wie schon so oft in der Vergangenheit, seine Kleider anzuziehen und ich wies ihn darauf hin, dass hier draussen kein FKK-Schild stehen würde», erzählt der Nachbar. Daraufhin habe Peter Niehenke die Handykamera auf ihn gerichtet und erwähnt, dass alles live übertragen werde und habe, um ihn lächerlich zu machen, eine Ansprache an seine YouTube-Community gehalten, so der Nachbar . Er habe Niehenke darauf hingewiesen, dass dies ohne seine Einwilligung nicht erlaubt sei und sei auf ihn zugegangen, mit der Absicht die Kamera mit der Hand abzudecken. Peter Niehenke habe prompt mit einem Pfefferspray reagiert und seinen Nachbarn mit allen möglichen Fluchwörtern eingedeckt. Niehenke seinerseits glaubte, dass der Nachbar ihm das Handy habe entreissen wollen. «Daraufhin habe ich Peter Niehenke angezeigt, da die Verwendung von Pfefferspray strafrechtlich verfolgt werden kann», sagt der Nachbar. Peter Niehenke wiederum erstattete Anzeige wegen versuchtem Raub, Nötigung und Sachbeschädigung. Um seinen Nachbarn zu stoppen, wie er behauptet. «Das hat ja auch geklappt und deshalb bin ich auch nicht gegen den Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft vorgegangen», so Niehenke. Zwischenzeitlich ist das Verfahren abgeschlossen und Peter Niehenke wurde zu 300 Franken Busse und 1200 Franken Verfahrenskosten verurteilt. Für den Familienvater und Nachbarn ist klar: «Peter Niehenke ist eine Person, welche sich nicht an die gesellschaftlichen Konventionen hält und deswegen seiner Umwelt keinen Respekt zollt. Er tanzt den Leuten von Affoltern auf der Nase herum.»
Eine unglückliche Situation bei harmlosem Spiel
Auf den Vorfall mit dem Knutschfleck angesprochen, verteidigt sich Peter Niehenke. «Wenn ich den Kindern aus der Nachbarschaft sagte, ich bin ein Vampir und sauge ihnen das Blut aus, war die normale Reaktion, dass sie ihren Hals einzogen. Nicht so aber dieses Mädchen. Sie streckte mir ihren Hals entgegen und ich biss spielerisch hinein. Dass davon ein Knutschfleck entstanden ist, habe ich erst am nächsten Tag durch die Reaktion der Eltern erfahren. Ich kann verstehen, dass das für die Eltern irritierend war, ich kann aber nicht verstehen, dass um ein Spiel, das in aller Öffentlichkeit stattfand, ein solches Theater gemacht wurde», sagt Niehenke. Ebenso versichert er, dass er niemals mit der Tochter der Familie über Sex gesprochen habe. «Das ist eine perfide Lüge, die nur den einen Zweck verfolgen kann: mich mit Schmutz zu bewerfen.» Auch den ihm damals in Deutschland vorgeworfenen sexuellen Missbrauchs von Kindern weist Peter Niehenke vehement zurück: «Mit der Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern hat die deutsche Justiz sich eines monströsen Verbrechens an mir schuldig gemacht, um einen unbequemen Bürgerrechtler und gefährlichen Justizkritiker kaltzustellen. Jemand wie ich wäre im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen gelandet, im heutigen China im Gefängnis und in Russland vermutlich vergiftet worden. In Europa beziehungsweise in Deutschland begnügt man sich mit ‹Rufmord›, der gesellschaftlichen Vernichtung dessen, den man loswerden will, und die sicherste Methode besteht bei einem Mann darin, ihm eine Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauch von Kindern anzuhängen. Selbstverständlich stellt sich sofort die Frage, warum man mich denn loswerden beziehungsweise kaltstellen wollte. Kenner der Materie überrascht die Antwort nicht! Ich hatte mich als Gründer und Leiter eines justizkritischen Internetportals, das sich den Machenschaften in der deutschen Justiz widmete, bei den Juristen sehr, sehr unbeliebt gemacht. Das brisanteste Projekt war die ‹Richterdatenbank›, eine Abteilung dieses Internetportals, das sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Machenschaften (in) der deutschen Justiz zu dokumentieren und anzuprangern. Jeder deutsche Richter war in dieser Datenbank erfasst, zusammen mit den Daten seiner beruflichen Karriere und, sofern zutreffend, seinen schlimmsten ‹Entgleisungen› als Richter. Und genau diese Richter hatten nun ein Urteil über mich zu fällen. Eigentlich hätten alle diese Richter sich selbst für ‹befangen› erklären müssen.»
Doch ein fahler Nachgeschmack bleibt, steckt hinter der Geschichte mit der Nachbarsfamilie nicht doch ein sexueller Hintergrund, so wie die Familie aus der Nachbarschaft vermutet? Ist Peter Niehenke etwa doch eine Gefahr für Kinder? «Nein», sagt Niehenke erneut, «ich bin keine Gefahr für Kinder. Jemand, der Böses mit Kindern vorhat, trägt doch das nicht mit seiner Nacktheit wie mit einem Plakat vor sich her und fällt auf, sondern der möchte doch viel eher unauffällig sein. Ich spaziere in Affoltern nun seit zwanzig Jahren nackt und noch nie ist irgendetwas in dieser Richtung vorgefallen. Meine Harmlosigkeit ist doch damit und auch durch zahllose Videos im Internet, welche über mich berichten, bestens bewiesen.»
Bürgerrechtliche Bewegung
Ein Blick zurück zeigt auf, wie Peter Niehenke seine Freude am Nacktsein fand. «Es gab zwei Auslöser, wie ich zum Nacktsein kam», erinnert sich Niehenke. In den 50er-Jahren aufgewachsen, fand er den gesellschaftlichen Umgang mit der Sexualität einfach nur widerlich. «Mit 16 Jahren hatte ich mit einem Pfarrer eine Auseinandersetzung. Ich sagte ihm, dass der Teufel Gott sehr ähnlich sei, weil der liebe Gott mich so geschaffen hat, wie ich bin, nämlich mit einem Sexualtrieb. Und dann bestraft mich Gott dafür, dass ich diesen Trieb auslebe. Das ist nicht göttlich, sondern perfide und teuflisch», erinnert sich Peter Niehenke an das Gespräch.
Der eigentliche Auslöser jedoch war eine Nudistenbewegung in den späten 68er-Jahren, der auch der damals etwa 20-jährige Peter Niehenke angehörte. Die Bewegung hatte sich an einer Stelle eines Baggersees mitten in der Stadt Freiburg das Nacktsein erkämpft. «Das war auch ein Teil meines bürgerrechtlichen Engagements, gegen diese elende Verklemmtheit vorzugehen.» Dieses Engagement hatte 1998 einen Aufschub erhalten, als er mit Freunden eine Fahrradtour auf dem Land machte. «Wir machten an einem Bach eine Pause, zogen uns nackt aus und legten uns in die Sonne», erzählt Niehenke. Bis kurz darauf die Polizei die Gruppe aufforderte, sich wieder zu bekleiden, mit der Begründung, dies sei Erregung öffentlichen Ärgernisses. «Das hat mich so wütend gemacht, das kann man in Worte gar nicht fassen», erinnert sich Niehenke.
Zu Hause recherchierte er und fand heraus, dass Erregung öffentlichen Ärgernisses sexuelle Handlungen in der Öffentlichkeit bedeutet, Nacktheit gehörte explizit nicht dazu. «Ich wollte es der Polizei heimzahlen, indem ich nackt durch die Stadt Freiburg laufe. Sie sollten sehen, dass ich die Gesetze gelernt hatte.»
Sein Vorhaben jedoch eskalierte schnell und es folgten mehrere Polizeieinsätze und kurz darauf die erste Gerichtsverhandlung, bei der er jedoch von dem Vorwurf öffentlichen Ärgernisses freigesprochen wurde, aber eine Busse für unanständiges Verhalten bezahlen musste. Weitere Prozesse folgten. «Mittlerweile hatte ich eine unglaubliche Wut, dass mir Vorschriften gemacht wurden, wie ich mich anzuziehen habe, als seien wir im Mittelalter.» Ebenso wenig versteht Peter Niehenke bis heute, wieso das Nacktsein für Kinder gefährlich sein sollte, wenn sie dabei doch nur sehen könnten, wie ein Mensch aussieht.
Nackt durch die Stadt
Peter Niehenke lief weiter nackt durch die Freiburger Innenstadt, nicht weil er das toll fand – er findet ja die Nacktheit nur in der Natur toll – sondern weil er aus Wut über ein Gerichtsurteil die Medienpräsenz für seine bürgerrechtliche Bewegung brauchte. Ein Fernsehteam von SAT1 wurde auf ihn aufmerksam und beabsichtigte, eine Dokumentation über ihn zu drehen, doch nur unter der Bedingung, dass er dafür nackt durch die Stadt läuft. «Nackt auf dem Land zu laufen war für SAT1 nicht interessant und ich brauchte das Fernsehen für meine Öffentlichkeitsarbeit.» Doch grundsätzlich geht es Peter Niehenke nicht um Präsenz in der Öffentlichkeit. Das Nacktsein habe für ihn einerseits etwas mit seinen Wertvorstellungen zu tun und andererseits gebe es Teile, welche etwas mit seinen Emotionen zu tun hätten.
«Wir schämen uns für die falschen Dinge», gibt Peter Niehenke zu bedenken. Kaum ein Mensch schäme sich, wenn er die Umwelt verdreckt oder wenn er seine Mitmenschen oder den Staat betrügt. Kaum ein betrunkener Autofahrer schäme sich, das Leben anderer zu gefährden. Aber wenn diese Leute sich vor anderen nackt zeigen sollten, also so, wie sie als Mensch nun einmal aussehen, dann würden sie sich plötzlich schämen. Das Verrückte daran sei, dass alle dafür Verständnis zeigen. Das sei eine groteske Perversion unserer Werte, ist Niehenke überzeugt.
Radius des Vorgartens ausgeweitet
Das alles passierte vor langer Zeit in Deutschland. Unterdessen lebt Peter Niehenke bereits seit vierzig Jahren in der Schweiz. Doch wieso wurde er ausgerechnet in Affoltern sesshaft? «Das war Zufall», erzählt er, «mein damaliger Partner – er war Schweizer und Direktor einer Schule – und ich hatten vor, eine Privatschule zu gründen. Die Pläne waren gemacht, nur ein entsprechendes Grundstück zum Bau eines Hauses, welches später auch als Altersruhesitz dienen sollte, fehlte noch.» Fündig wurden die beiden in Affoltern. Damals getraute sich Peter Niehenke noch nicht, ausserhalb der eigenen vier Wände nackt zu sein. Erst auf Nachfrage bei den Nachbarn erfuhr er, dass diese nichts dagegen hätten. Von da an konnte er sich auch in seinem Garten ohne Bekleidung bewegen. «Doch ich wollte nicht nur wie ein Hamster im Kreis laufen, sondern das Nacktsein auch in der Natur geniessen können und habe deshalb den Radius meines ‹Vorgartens› ausgeweitet, was erwartungsgemäss einige Polizeieinsätze nach sich zog», erzählt Niehenke. Der Polizei habe er dann aber klargemacht, dass nackt spazieren zu gehen nur eine Ordnungswidrigkeit sei, dessen Schwere mit einem nicht aufgehobenen Hundekot zu vergleichen und mit 90 Franken gebüsst werden könne. «Die Polizei kommt ja auch nicht jedes Mal, wenn jemand wegen liegengelassenem Hundekot anruft. So sagte ich zur Polizei: Wenn sie mich jedes Mal nach einer Anzeige kontrollieren, werde ich in Zukunft wegen jedem Hundekot anrufen und erwarten, dass sie dann auch kommen. Seither ist weitgehend Ruhe», erzählt Niehenke. Zudem hat er bei der Polizei Akteneinsicht verlangt und erkannt, dass in zwei Jahren lediglich vier Meldungen wegen ihm eingegangen sind. «Da kann man doch nicht sagen, dass das ein Problem ist», ist Niehenke überzeugt.
Es steht allen offen, Anzeige zu erstatten
Doch für einige Bürger ist der Nacktwanderer nach wie vor ein Problem. Die Gemeindeverwaltung von Affoltern erhält noch heute – vornehmlich in den wärmeren Jahreszeiten – regelmässig Anrufe, welche Peter Niehenke betreffen. «Manche sind wütend, manche sehr emotional und manche fragen einfach sachlich, ob man nicht etwas dagegen tun könne. Wir verweisen die Anrufenden grundsätzlich an die Polizei, wo sie die Möglichkeit haben, Anzeige zu erstatten», bestätigt die Gemeindeverwaltung.
Durch diese Anzeigen ist Peter Niehenke natürlich auch bei der Polizei längstens bekannt. Auf Anfrage des «Unter-Emmentalers» teilte die Medienstelle der Kantonspolizei Bern Folgendes mit: Rechtlich gesehen stellt Nacktwandern grundsätzlich ein unanständiges Benehmen dar und ist im kantonalen Strafrecht in Art. 12 unter Strafe gestellt. Erfahrungsgemäss können sich Personen durch das Nacktwandern allenfalls gestört oder belästigt fühlen. Generell steht es allen Personen offen, sich bei der Polizei zu melden oder Anzeige zu erstatten, wenn sie sich durch ein spezifisches Verhalten gestört oder belästigt fühlen. Entscheidend dafür, ob sich jemand gestört oder belästigt fühlt, sind das subjektive Empfinden, die persönlichen Ansichten in Bezug auf Sitten und Gepflogenheiten und allenfalls auch die konkrete Art und Weise des Verhaltens. Es bestehen aber keine unterschiedlichen Regelungen bezüglich der Örtlichkeiten, so wird grundsätzlich das unanständige Benehmen in der Öffentlichkeit gebüsst. Erhält die Polizei entsprechende Meldungen, geht sie diesen jeweils nach. Eine mögliche strafrechtliche Relevanz beziehungsweise allfällige polizeiliche Massnahmen müssen sodann aber stets auf den Einzelfall bezogen geprüft werden.»
Ist ein Nacktwanderverbot möglich?
Mit der Erklärung der Polizei ist aber eine Frage, welche sich einige Bürger aus Affoltern immer wieder stellen, noch nicht beantwortet: Gibt es auf kommunaler Ebene eine Möglichkeit, ein Nacktwanderverbot zu verhängen? Die Gemeindeverwaltung nimmt dazu wie folgt schriftlich Stellung: «Grundsätzlich müssen bei allen kommunalen Verboten, welche in die Grundrechte Einzelner eingreifen, die Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen gegeben sein. Dies bedeutet, dass eine rechtliche Grundlage gegeben sein und ein öffentliches Interesse bestehen muss. Ein Verbot muss im Weiteren verhältnismässig ausfallen. Ausserdem muss die dem kommunalen Recht übergeordnete kantonale Gesetzgebung zwingend beachtet werden. Die Autonomie einer Gemeinde greift nicht so weit, als dass sie Bestimmungen einführen könnte, welche dem kantonalen Recht zuwiderlaufen. Wird zudem ein bestimmter Sachverhalt bereits abschliessend im kantonalen Recht geregelt, so besteht für die Gemeinden kein zusätzlicher Handlungsspielraum. Bezüglich des vorliegenden Sachverhaltes des Nacktwanderns wird die Auffassung vertreten, dass sich dieses unter der im kantonalen Strafrecht unter Strafe gestellten Norm «unanständiges Benehmen in der Öffentlichkeit» unterordnen lässt, so dass ein weiterer Handlungsspielraum für die Gemeinden entfällt. Es entzieht sich jedoch unserer Kenntnis, ob diese Auffassung jemals Gegenstand eines Gerichts- beziehungsweise Verwaltungsjustizverfahrens darstellte.»
Auch wenn es auf den ersten Blick so erscheinen mag, ist es aber nicht so, dass die Gemeinde Affoltern bisher nichts gegen den Nacktwanderer unternommen hätte. Vor rund acht Jahren wurde mit Peter Niehenke eine gemeinsame Vereinbarung getroffen, dass er, sobald er jemandem begegnet, seinen Geschlechtsteil zu bedecken habe. Dass er sich unterdessen nicht mehr an die Vereinbarung halte, ist auch einigen Bürgern aufgefallen. Sein Nachbar weiss aus Erfahrung, dass man mit Schimpfwörtern oder Drohungen eingedeckt wird, wenn man Niehenke wieder einmal darauf hinweist. «Ich habe mich etwa zwei Jahre daran gehalten», verteidigt sich Peter Niehenke. Er sah es als ein Friedensangebot an den Gemeinderat, weil er merkte, dass es Widerstand aus der Bevölkerung gab. Als sein Partner aber an Krebs erkrankte, gab es eine längere Phase, in der Niehenke ihn pflegte und nicht mehr nackt unterwegs war.
«Als mein Partner verstarb, dachte ich anfangs, dass das mit dem Nacktwandern aufgehört hat. Durch Zufall habe ich aber nochmals eine Nacktwanderung unternommen und war beglückt von der unglaublich positiven Reaktion der Leute.» Niehenke hatte den Eindruck, dass sich in der Zwischenzeit etwas geändert habe. Die Menschen hätten entspannter und positiver auf ihn reagiert. Niehenke war der Ansicht, dass sich die Ausgangslage dieser Vereinbarung somit geändert habe und nicht mehr gegeben sei. «Der Gemeinderat hatte mich aber wieder daran erinnert und ich wurde auch eine Zeit lang kontrolliert.»
Etwa ein Jahr lang hat Niehenke sich nochmals an die Abmachung gehalten, dann fand er es aber zu albern. «Irgendwann hat es sich im Sande verlaufen», gesteht Niehenke. Unterdessen hofft er, dass diejenigen Personen, welche sich seines Anblickes stören, ihn auf anständige Weise darauf ansprechen. «Wenn man mit mir anständig spricht und beispielsweise nicht möchte, dass ich an seinem Haus vorbeilaufe, dann markiere ich diesen Ort auf meinem Smartphone und meide ihn danach, wenn möglich. Doch auf aggressives Verhalten antworte auch ich aggressiv.»
Von Marion Heiniger