• «Mittlerweile liegen bei einigen die Nerven blank, weil die Jugendlichen über kein Ventil mehr verfügen, um ihre angestaute Energie, ihren Taten- und Bewegungsdrang auszuleben», sagt Schulleiter Pierre Zesiger. · Bilder: Thomas Peter

  • «Ich würde nicht sagen, dass etwas grundlegend falsch lief, vielmehr ist die Huttwiler Schule nicht mehr als ein Spiegelbild einer gesellschaftlichen Entwicklung, die aktuell stattfindet.»

25.02.2021
Huttwil

Pierre Zesiger: «Wir haben kein Gewaltproblem an der Schule»

Eine Schlägerei, Schmierereien am Schulgebäude und der Rücktritt von Gesamtschulleiterin Katharina Hasler sorgten für Aufruhr an der Huttwiler Schule. Oberstufenschulleiter Pierre Zesiger nimmt im Monatsinterview Stellung zu den Vorfällen und macht unmissverständlich klar: «Wir haben kein Gewaltproblem an unserer Schule.» Die anhaltende Corona-Pandemie habe jedoch unliebsame Auswirkungen auf den Schulbetrieb, weist der 60-jährige Schulleiter, der bis Sommer 2022 zum zweiten Mal nach 2014 bis 2019 als Gesamtschulleiter fungieren wird, auf die schwierige Lage der Schulen hin.

Walter Ryser im Gespräch mit Pierre Zesiger, Oberstufenschulleiter und ab April Gesamtschulleiter der Huttwiler Schulen

Pierre Zesiger, die Huttwiler Schule scheint ausser Rand und Band zu sein, eine rassistisch motivierte Schlägerei, Hakenkreuz-Schmierereien am Schulgebäude und der Rücktritt von Gesamtschulleiterin Katharina Hasler haben für unschöne Schlagzeilen gesorgt. Wie stufen Sie als Oberstufenschulleiter mit einer gewissen zeitlichen Distanz die Vorkommnisse ein?
Pierre Zesiger: Ganz so drastisch würde ich dies nicht formulieren. Nicht zuletzt auch mit Blick auf andere Schulen, mit denen ich in Kontakt bin und die in dieser Zeit ebenfalls über unliebsame Vorfälle klagen und mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben wie wir. Mit ein paar Tagen Abstand kann ich die Vorfälle gut einordnen und muss sagen, dass ich das Fehlverhalten der Schüler irgendwie nachvollziehen, aber auf keinen Fall tolerieren kann.

Wollen Sie damit sagen, dass die anhaltende Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen – unter denen zweifellos die Kinder ganz besonders leiden – bei diesen Vorkommnissen eine entscheidende Rolle gespielt haben?
Zweifellos, zu diesem Schluss bin ich gekommen. Schauen Sie, die Kinder und Jugendlichen haben aktuell keine Möglichkeit, ihre Freizeit in einem Sport- oder Kulturverein zu verbringen und nach Schulschluss dürfen sie sich auch privat nicht treffen. In der Schule wiederum fallen sämtliche sozial-gesellschaftlichen Aktivitäten wie Theater, Skilager oder ergänzende Schulfächer wie Tanzen ebenfalls weg. Mittlerweile liegen bei einigen die Nerven blank, weil die Jugendlichen über kein Ventil mehr verfügen, um ihre angestaute Energie, ihren Taten- und Bewegungsdrang auszuleben. So bilden die Schulen und der Pausenplatz den einzigen Ort, an dem für Kinder und Jugendliche Begegnungen stattfinden. Dass dann in diesem Umfeld plötzlich Auswüchse entstehen, ist, wie bereits gesagt, nachvollziehbar, aber nicht tolerierbar.

Von aussen betrachtet hat man den Eindruck, dass in einem derart ländlich-konservativ geprägten Ort wie Huttwil rassistische Vorkommnisse gar nicht möglich sind. Was lief falsch in Huttwil?
Ich würde nicht sagen, dass etwas grundlegend falsch lief, vielmehr ist die Huttwiler Schule nicht mehr als ein Spiegelbild einer gesellschaftlichen Entwicklung, die aktuell stattfindet und die auch in dieser ländlich geprägten Gegend Einzug hält. Einfach gesagt reiben sich hier urtypisch-schweizerische Werte an neuen Kulturen. Seit ich in Huttwil unterrichte, hat der Anteil an Jugendlichen aus anderen Kulturkreisen stark zugenommen, dadurch entsteht ein Spannungsfeld. Das ist eine Tatsache, der wir uns stellen müssen. Dazu kommt, coronabedingt, dass viele Schüler noch keine Schnupperlehre absolviert haben, weil viele Betriebe momentan andere Probleme haben, als Schüler in ihren Betrieb einzuladen. Und dann wäre da noch die Maskenpflicht, die nun seit Monaten anhält und bei den Schülern zusätzlich auf die Motivation drückt.

Dennoch haben Sie in einer ersten Reaktion gesagt, die Vorfälle seien ein persönlicher Tiefpunkt in Ihrer langjährigen Schulkarriere. Was hat Sie besonders betroffen gemacht?
Es ist das Symbol des Hakenkreuzes, das mit sehr viel Leid verbunden ist. Der Nationalsozialismus findet seinen Nährboden nicht zuletzt in Krisenzeiten, wenn Verunsicherung und Ängste in der Bevölkerung vorhanden sind. Es schockiert mich deshalb, dass sich die aktuelle Krise nun in solchen Äusserungen manifestiert. Dabei wollte ich im Unterricht explizit darauf hinweisen, dass wir nicht bloss auf die Gräueltaten im zweiten Weltkrieg blicken müssen, sondern in erster Linie den Fokus auf unseren Umgang mit den Mitmenschen richten sollten. Ich machte den Schülern klar, dass wir an unserer Schule gewisse Werte pflegen, die mir wichtig sind. Wertschätzung gegenüber Mitmenschen und Materialien prägen eine Schule. Wie die vorliegenden Fälle zeigen, sind gewisse Werte vorübergehend abhandengekommen, was mich betroffen macht.

Gegen Fremdenhass und Diskriminierung müssen wir als Gesellschaft entschieden vorgehen. Toleranz und Akzeptanz sind menschliche Grundwerte, die es zu verteidigen gilt. Dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass diese Worte heutzutage fast ein wenig überstrapaziert werden und in Einzelfällen das Gegenteil auslösen können.
Das ist ein wichtiger Aspekt, wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass urschweizerisch Typisches in unserer Gesellschaft Bestand und Platz haben muss. Das müssen wir pflegen. Im Umgang mit andern Kulturen muss beides nebeneinander Platz haben. Bei der Konfliktlösung zwischen einzelnen Kulturen braucht es deshalb eine gesunde Balance. Man muss gegenseitig aufeinander zugehen und ich betonte hier ganz besonders gegenseitig, denn nicht nur Ausländer haben in diesem Land ein Recht auf eine gute Behandlung, sondern auch den Schweizern steht dies von den Ausländern zu.

Auch früher hat man sich in der Schule gegenseitig die Köpfe eingeschlagen und ist dann ohne grosses «Tamtam» zur Tagesordnung übergegangen. Neigen wir heute zur Übertreibung und machen aus jedem unliebsamen Vorfall eine mittelgrosse Staatsaffäre?
Nein, dieses Gefühl teile ich nicht. Ich bin der Meinung, dass bereits eine Schlägerei eine zu viel ist. Wenn ich auf meine bisherige Tätigkeit an den Huttwiler Schulen zurückblicke, dann stelle ich fest, dass dies die erste Auseinandersetzung war, bei der eine Person in Spitalpflege gebracht werden musste. Man kann also nicht davon sprechen, dass unsere Schule ein Gewaltproblem hätte. Um auf ihre Frage zurückzukommen, natürlich entstehen in einer Schule Konflikte, die auch ausgetragen und geschlichtet werden müssen, aber sicher nicht auf diese Art und Weise. Aber noch einmal, in der aktuellen Situation können Konflikte schneller entstehen, was auch die Schulsozialarbeiterinnen bestätigen können, deren Auslastung stark zugenommen hat und die zum Teil mit Anfragen überhäuft werden.

Wie weiter, was wurde oder muss noch getan werden, dass sich solche Vorfälle an der Huttwiler Schule nicht wiederholen?
Wir haben die Vorfälle mit den Schülern thematisiert, auch die Polizei war vor Ort und hat uns mit Präventionsmassnahmen unterstützt. Und – wie angetönt – auch die Schulsozialarbeiterinnen helfen, Druck, schlechte Gefühle und belastende Situationen, mit denen die Jugendlichen zu kämpfen haben, anzugehen und mit ihnen zu besprechen.

Gleichzeitig mit den Vorfällen wurde auch bekannt, dass Katharina Hasler als Gesamtschulleiterin auf Anfang April demissionieren wird und Sie interimistisch bis Sommer 2022 das Amt übernehmen werden, das Sie bereits von 2014 bis 2019 bekleidet haben. Was hat Sie dazu bewogen, Ihre geplante, vorzeitige Teilpensionierung hinauszuschieben und stattdessen noch einmal als Gesamtschulleiter einzuspringen?
Ich habe an der Schule in Huttwil einen Teil meines beruflichen Lebens verbracht. Dabei ist eine grosse Verbundenheit mit dieser Institution entstanden, mit der ich mich voll und ganz identifiziere. Wenn ich also in dieser Situation etwas zur Entspannung und Entwicklung beitragen kann, fühle ich mich dazu verpflichtet und zugleich geehrt, dass man mich erneut angefragt hat. Kommt dazu, dass meine Reisepläne, die ich für meine Teilpensionierung vorgesehen habe, aktuell sowieso nicht verwirklicht werden können, weshalb ich momentan nichts verpasse.

Sie übernehmen die Schule in einer schwierigen Phase, hat doch gerade die Corona-Pandemie Schüler und Lehrkräfte stark gefordert mit Einschränkungen und Homeschooling. Welche Erfahrungen haben sie diesbezüglich während dem letzten Jahr gemacht?
Wir verfügen hier an der Oberstufe in Huttwil über ein phantastisches Team, das sehr konstruktiv mit der Situation umgeht und einander gegenseitig aushilft und sich unterstützt. Dazu kommt, dass wir bereits vor der Corona-Pandemie über eine hervorragende Infrastruktur verfügten, weshalb wir für das Homeschooling nur marginale Anpassungen vornehmen mussten und die Umsetzung relativ einfach vollziehen konnten. Auf Stufe Schüler habe ich die Feststellung gemacht, dass einige mit dem Homeschooling hervorragend umgehen und zum Teil sogar bessere Leistungen erbracht haben, als wenn sie vor Ort gewesen wären. Dies betrifft vor allem die leistungsstarken Schüler. Daneben gab und gibt es eine Handvoll Schüler, bei denen die vorhandenen Strukturen nicht optimal sind, sowohl was den schulischen Bereich anbelangt, wie auch vom Elternhaus her betrachtet. Diese Schüler verlieren den Anschluss, das ist leider eine Tatsache. Da helfen nur Einzelunterricht und Nachhilfestunden, aber auch dann nur, wenn die Jugendlichen entsprechend mitmachen. Bei diesen Jugendlichen besteht die Gefahr, dass sie durch das Raster fallen und ihre schulischen und beruflichen Zukunftsperspektiven getrübt sind.

Wie wird Corona die Schule langfristig prägen oder sogar verändern, was glauben Sie, welche Auswirkungen hat die Pandemie auf das Schulwesen von morgen?
Ich bin der Meinung, dass wir nach überstandener Pandemie auf das Homeschooling verzichten sollten, denn ich erachte den Präsenzunterricht als zentrales schulisches Element. Direkte physische Begegnungen sind für die Entwicklung und Bildung von jungen Menschen elementar. Daneben erhoffe ich mir, dass Lockerungsmassnahmen zu einer gewissen Sicherheit in unserem Leben beitragen, nicht zuletzt in der Wirtschaft, damit KMUs in Zukunft wieder vermehrt Lehrstellen und Schnupperlehren anbieten. Dies würde helfen, die bei vielen Kindern und Jugendlichen vorhandene Verunsicherung und Zukunftsängste abzubauen.

Wie soll oder muss sich die Schule Huttwil künftig entwickeln, in welchen Bereichen besteht Handlungsbedarf?
Oberstes Ziel ist es aktuell, mit der heutigen und künftigen Corona-Situation zukunftsweisend umgehen zu können. Daneben wird die Überprüfung der Organisationsstrukturen an der Huttwiler Schule eine wichtige Aufgabe darstellen. Nicht zuletzt sollte die provisorische Schulsozialarbeit auf Anfang 2023 definitiv eingeführt werden können.

Blicken wir noch ein wenig voraus, in den Sommer 2022, wenn Ihre Teilpensionierung Tatsache wird: Wie werden Sie die zur Verfügung stehende Zeit nützen, was steht auf Ihrer privaten Agenda zuoberst?
Ich möchte vermehrt Reisen, den Bau der Landschaften rund um meine Modelleisenbahn endlich in Angriff nehmen (lacht) und mehr Zeit für meinen Garten und meine beiden Kinder haben. Vielleicht werde ich aber auch ein politisches Amt in meiner Gemeinde übernehmen oder einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgehen. Generell wünsche ich mir jedoch, dass ich wieder einmal ein ganzes Weekend störungsfrei verbringen kann, denn glauben Sie mir, seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie in unserem Land gab es für den Zesiger kein einziges Wochenende mehr, an dem es nicht irgendetwas zu klären oder zu organisieren gab.

Blicken wir abschliessend noch zurück: Was hat Ihnen Ihr berufliches Leben als Lehrperson bislang gebracht, was bleibt davon übrig für Ihr künftiges Leben?
Für mich war stets zentral, dass man mit Menschen, mit denen man zu tun hat, eine gute Beziehung pflegt, dann hat man Erfolg, egal, in welchem Metier man tätig ist. Gleichzeitig ist es wichtig, dass man über ausreichend Fachkompetenz verfügt, die ein wichtiger Faktor bildet für das Gelingen einer Arbeit oder eines Projektes. Diese Dinge habe ich versucht zu beherzigen und heute darf ich feststellen, dass ich beruflich einiges gemacht habe, das gut war und auch von andern so beurteilt wurde, was mich mit Stolz und Befriedigung erfüllt.