• «Schreiben ist für mich ein Wagnis», sagt René Frauchiger. Jede Geschichte sei eine Entdeckungsreise mit offenem Ausgang, ein «Hochseilakt». · Bilder: Patrick Bachmann

19.11.2024
Oberaargau

René Frauchiger: «Schreiben ist ein Balanceakt»

Der Autor René Frauchiger ist in Madiswil aufgewachsen, lebt und schreibt jetzt aber in Basel. Seine Geschichten beginnen dort, wo die Grenzen der Realität verschwimmen. Was als kindlicher Traum in Madiswil begann, ist heute eine literarische Reise voller Fantasie, sprachlicher Experimente und surrealer Wendungen. Zwischen den idyllischen Hügeln des Oberaargaus und der pul­sierenden Grossstadt Basel hat René Frauchiger seinen eigenen Weg gefunden. Der Autor versteht das Schreiben als Wagnis, als Entdeckungsreise – und als eine Suche nach neuen Perspektiven auf die Wirklichkeit.

 

Madiswil · René Frauchiger ist nicht aus Madiswil geflohen – im Gegenteil. Im Gespräch betont er mehrmals, wie sehr er seine Kindheit und Jugend in dem ländlichen Ort genossen hat. Während sich damals viele seiner Schulfreunde nach Langenthal oder Bern orientierten, fühlte er sich in der dörflichen Umgebung zu Hause. Talaufwärts, bei Dorffesten im Oberaargau und im Emmental, war Frauchiger oft anzutreffen. «Madiswil war für mich stets der sanfte Übergang zwischen Stadt und Land», erzählt er. Mit seinem knatternden Töffli zog es ihn stets in die ländlichen Gebiete. Obwohl er als Kunstschaffender «nichts mit Landwirtschaft am Hut hat», wie er es selbst ausdrückt, sind seine familiären Wurzeln tief in der ländlichen Welt verankert, sein Bruder wurde Landwirt. René Frauchiger fühlte sich im Dorf jedoch niemals eingeengt, machte bei den Jungschützen mit und spielte Trompete in der Musikgesellschaft. «Es war eine Zeit der Leichtigkeit. Ich war oft mit dem Hund im Wald, streifte durch die Natur und fühlte mich frei.» Auf der Suche nach Abenteuern und sich selbst war er, wie er schmunzelnd zugibt, auch ein wenig ein Träumer – manchmal sogar ein Aussenseiter. 

Auch in Basel gibt es ein Madiswil
In der Dorfgemeinschaft fand er seinen Platz, auch wenn er mit längeren Haaren und eigenen Ideen manchmal aus der Reihe tanzte. «In Madiswil lässt man dich in Ruhe, solange du die anderen in Ruhe lässt – ich fühlte mich nie fremd.» Diese Unbeschwertheit vermisst er in Basel während der Fasnacht, die ihm im Vergleich zur Langenthaler Fasnacht weniger locker und fröhlich erscheint. Der Gegensatz zwischen Madiswil und seinem heutigen Wohnort Basel könnte auf den ersten Blick kaum grösser sein: Hier das ruhige, durch die Landwirtschaft geprägte Dorf – dort die pulsierende, durch die Industrialisierung geprägte Grossstadt. Und doch fand René Frauchiger auch in der Stadt das Dorf. «Innerhalb des Quartiers ist alles überschaubar. Man kennt sich, der Alltag spielt sich oft auf kleinem Raum ab. Es ist ein Mikrokosmos, ein eigenes Universum.» Sein Weg nach Basel war jedoch kein bewusst geplanter, sondern eher Zufall. Nach seiner kaufmännischen Ausbildung in Langenthal und der Berufsmatura wollte er Deutsch und Philosophie studieren. Bern war ihm jedoch zu nah, zu vertraut. «Ich habe einfach meinen Weg gesucht und Basel gefunden, wenn auch über Umwege. Diese Stadt übt für Leute wie mich einen Sog aus.» Vor und während des Studiums arbeitete er in verschiedenen Jobs. Kinooperateur in Langenthal und Basel, Journalist, Kellner, Versicherungsmakler, Berufsschullehrer, Wörterbuchassistent. «Ich sagte mir: Wenn man mindestens zwei Chefs hat, hat man keinen», schmunzelt er.

Prägende Geschichten
Geschichten waren ihm immer wichtig. Schon als Jugendlicher verschlang er Bücher von Jules Verne und Stephen King. Die Literatur bot ihm die Möglichkeit, aus dem kleinen Madiswil heraus in die grosse Welt zu blicken. Schon mit zwölf Jahren wusste er, dass er Schriftsteller werden wollte. Also begann er zu schreiben. Filmdrehbücher, Romanfragmente, Kurzgeschichten – Worte waren für ihn wie Türen, die sich zu neuen Welten öffneten. Seine Eltern, tief verwurzelt in der praktischen Welt, hatten jedoch stets ihre Zweifel, ob man mit Literatur tatsächlich den Lebensunterhalt bestreiten könne. Heute ist René Frauchiger angekommen – in Basel, in der Literatur, in seinem Leben. Mit 43 ist er Autor mehrerer Bücher und lebt mit seiner Familie in Basel. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit ist er für die Werkstätten des Aargauer Literaturhauses Lenzburg zuständig. Sein Engagement als Gründer und Mitherausgeber für das Literaturmagazin «Das Narr» musste er aus Zeitgründen aufgeben. Seine beiden Töchter, ein und vier Jahre alt, haben ihm eine neue Art von Heimat geschenkt. «Jetzt ist Basel ein Zuhause, weil meine Familie hier lebt», sagt er. Der Familienalltag lasse ihm jedoch weniger Zeit für spontanes Schreiben. «Das Lustvolle am Schreiben muss jetzt in einen strukturierten Alltag integriert werden», erklärt er. Oft geht er morgens spazieren, um die Gedanken kreisen zu lassen und Inspiration für seine Geschichten zu finden.

Vielleicht ist die Realität auch ganz anders …
Frauchiger liebt die sprachlichen Experimente, die verspielten, surrealen Wendungen, die seinen Texten innewohnen. «Die Vergangenheit meiner vielen Jobs und zahlreichen Tätigkeiten helfen mir, mich in die Gedankenwelt anderer Leuten hineinzuversetzen.» Seine Bücher zeugen davon. In seinem letzten Roman verliert der Protagonist das Gedächtnis, seine Vergangenheit löst sich auf, und er kämpft darum, in einer Welt ohne Erinnerung einen Sinn zu finden. Doch der Zustand verschlechtert sich. Zusehends verliert er den Kontakt mit der Realität. Solche existenziellen Fragen und groteske Situationen ziehen Frauchiger magisch an. Es ist die Idee, dass die Realität nur eine von möglichen Perspektiven darstellt und eigentlich alles ganz anders sein könnte, welche in seinen eigenen Texten anklingt. «Schreiben ist für mich ein Wagnis», sagt Frauchiger. Jede Geschichte sei eine Entdeckungsreise mit offenem Ausgang, ein «Hochseilakt». Besonders interessieren ihn Szenarien, in denen die Realität auf den Kopf gestellt wird. Schreiben sei letztlich ein absurdes Unterfangen – und gerade deshalb faszinierend. Für den Autoren gehört das Scheitern zum kreativen Prozess. Er experimentiert gerne mit der Sprache, erfindet Welten. «Ein schönes Wort hat manchmal auch einfach einen Selbstzweck», erklärt er. Die Auflagen seiner Bücher halten sich in Grenzen. Leichtere, «süffigere» Bücher würden wohl öfters über den Ladentisch gehen. «Ich könnte auf die reine Verkaufbarkeit hin schreiben – doch dann wäre es einfach ein Job», meint Frauchiger dazu. Beim Schreiben lasse er sich gerne auch treiben.

Rückkehr nicht ausgeschlossen
Trotz seiner vielen literarischen Projekte hat Frauchiger immer noch Verbindungen zu seiner früheren Heimat. Madiswil ist ein Stück seines Lebens, das er nie ganz hinter sich lassen wird. Mit seiner Familie besucht er regelmässig seine Eltern und pflegt Freundschaften im Oberaargau. «Vielleicht kehre ich eines Tages zurück», sagt er versonnen. Doch für einen Fantastik-Autor ist ohnehin alles möglich – sowohl im Leben als auch in der Literatur. So lebt René Frauchiger zwischen den Welten – zwischen dem ruhigen Dorf und der vibrierenden Stadt, zwischen der Realität und den Fantasiewelten seiner Geschichten. Es ist ein ständiges Spiel mit den Möglichkeiten, ein Tanz auf dem schmalen Grat zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. In seinen Werken verschwimmen die Welten, und die Frage, was wirklich ist, bleibt oft unbeantwortet. Doch genau das macht den Reiz seiner Erzählungen aus – und vielleicht auch den Menschen, der sie schreibt.

René Frauchiger – Ein Leben, das dem Schreiben gewidmet ist
René Frauchiger (43) wuchs in Madiswil auf. 2011 gründete er zusammen mit Lukas Gloor und Daniel Kissling das Literaturmagazin «Das Narr». Seit 2022 leitet er die Lese- und Schreib-Werkstätten am Aargauer Literaturhaus Lenzburg. Frauchiger debütierte 2019 mit dem Roman «Riesen sind nur grosse Menschen» (Homunculus Verlag). 2022 folgte der Roman «Ameisen fällt das Sprechen schwer» (Knapp Verlag). Er ist Mitglied des Verbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz und der Schweizer Phantastikautoren. René Frauchiger lebt mit seiner Familie in Basel. Infos und Kontakt: 
renefrauchiger.ch

Von Patrick Bachmann