Reto Müller: «Wir haben nichts zu verstecken»
Langenthals Detaillisten befürchten, die Innenstadt werde künftig zur verkehrsfreien Zone erklärt. Nachdem sie bei der Stadt letzten Frühling eine Petition eingereicht hatten, folgt nun per Ende Januar eine Aussprache mit dem Gemeinderat sowie mit Tiefbau-Leiter Pierre Masson. «Wir nehmen die Ängste der Stadtvereinigung ernst und sind offen für konkrete Vorschläge», sagt Stadtpräsident Reto Müller (SP) im Interview mit dem «Unter-Emmentaler». Vermutlich werde es beim Austausch auch darum gehen, alle Involvierten wieder auf den gleichen Wissensstand zu bringen. Denn eigentlich verfolgten alle Beteiligten dasselbe Ziel: Ein attraktives, belebtes und sicheres Stadtzentrum für Langenthal.
Langenthal · Reto Müller, sind Sie von den Ängsten der Stadtvereinigung überrascht?
Nein. Der Gemeinderat kann sehr gut verstehen, dass die aktuelle wirtschaftliche Situation bei vielen Detaillisten und Gewerbetreibenden Sorgen auslöst. Der Onlinehandel, die steigenden Preise der Immobilien et cetera führen zu sehr angespannten Situationen im Detailhandel, die sich wahrscheinlich auch in Langenthal auswirken.
Wovor fürchten sich die Detaillisten denn konkret?
Genau das wollen wir beim Austausch am 25. Januar herausfinden. In der Einladung zum Gedankenaustausch steht, Automobilisten würden das Stadtzentrum in Zukunft meiden wollen, weil in der Innenstadt praktisch eine verkehrsfreie Zone entstehe – dies aufgrund neuer Lenkungsmassnahmen, eines neuen Temporegimes sowie aufgrund baulicher Veränderungen. Daraus lässt sich schliessen, dass sich der lokale Detailhandel vor allem vor sinkenden Besucherfrequenzen und wegbrechenden Umsätzen fürchtet.
Und? Haben die Detaillisten mit dieser Aussage recht? Soll die Innenstadt autofrei werden?
Diesbezüglich können wir Entwarnung geben: Nein. Automobilisten sollen auch in Zukunft die Möglichkeit haben, ins Stadtzentrum hinein- und hinausfahren zu können. Möglich werden im Ortskern nach wie vor Busse sowie der direkte Ziel- und Quellverkehr, beispielsweise zum Parkplatzangebot, sein.
Was heisst das?
Damit sind Zu- und Wegbringende gemeint, die in der Innenstadt eine Besorgung machen oder jemanden kurz abholen oder abladen möchten. Auch die Zu- und Wegfahrt für Anlieferungen und Dienstleistende soll nach wie vor gewährleistet sein. Es ist also falsch zu behaupten, die Innenstadt würde künftig komplett zur verkehrsfreien Zone erklärt.
Trotzdem soll es neue Lenkungsmassnahmen, ein neues Temporegime sowie bauliche Veränderungen geben. Was bedeutet das konkret für die Innenstadt?
Wichtig zu wissen ist, dass sich die Vorschläge, die der Gemeinderat aktuell verfolgt, auf der Stufe eines Betriebs- und Gestaltungskonzepts befinden. Das heisst, es ist noch nichts abschliessend entschieden und fix definiert worden. Eine der augenfälligsten Änderungen ist aber wohl die, dass aus dem Strassenabschnitt zwischen Manor und Coop-Kreisel eine in beide Richtungen befahrbare Begegnungszone mit Tempo 20 werden soll.
Also keine autofreie Fussgängerzone auf diesem Strassenabschnitt? Ein Gerücht, das ebenfalls kursierte …
Nein. Autofreie Fussgängerzonen soll es auch künftig nur auf dem Wuhrplatz und in der Oberen Marktgasse geben.
Als Langenthaler kann ich also auch in Zukunft mit dem Auto noch ins Stadtzentrum fahren, um jemanden beim Bären auszuladen, eine kurze Besorgung zu machen oder Geld am Bancomaten zu beziehen?
Ideal wäre natürlich, wenn man als Langenthalerin oder Langenthaler zu Fuss, mit dem Velo oder dem Bus ins Stadtzentrum kommen würde (schmunzelt). Denn die Wege sind bei uns nun wirklich sehr kurz. Aber ja, wenn jemand das möchte, kann er oder sie auch künftig mit dem Auto ins Stadtzentrum hineinfahren. Anders verhält es sich, wenn beispielsweise jemand von der Melchnaustrasse via Zentrum zum Bahnhof fahren möchte.
Warum anders?
Eine solche Fahrtbewegung gilt als Transitverkehr. Streng genommen muss die Person von der Melchnaustrasse künftig also via Transitachse zum Bahnhof fahren, in diesem konkreten Fall also am besten via St. Urban-Strasse und Waldhofstrasse – dafür wurden diese Achsen zuletzt ja erneuert und ausgebaut.
Und wie soll der Transitverkehr künftig vom Stadtzentrum ferngehalten werden?
Zusätzlich zur geplanten Begegnungszone zwischen Manor und Coop-Kreisel sind auf allen Abschnitten im Stadtzentrum, wo künftig Tempo 20 gelten soll, Verkehrsschilder geplant, die den Zutritt zur Innenstadt regeln werden. Gemeint sind damit die gemeinhin bekannten «Zubringerdienst gestattet»-Schilder. Diese Signalisationen braucht es, damit künftig klar ist, dass der Transitverkehr das Zentrum umfahren muss.
Ist denn der Transitverkehr ein derart grosses Übel?
Fakt ist, dass das Zentrum von Langenthal durch den motorisierten Individualverkehr aktuell äusserst stark belastet wird. Wir reden von rund 10 000 Fahrzeugen, die sich täglich durch den Ortskern von Langenthal zwängen. Erschwerend kommen die historisch bedingt recht kurvigen Strassen hinzu, die durch herausstehende Gebäudefassaden und Dächer zum Teil noch beengt werden. Eine Besonderheit und Herausforderung sind – vor allem für ortsunkundige Verkehrsteilnehmende – auch noch die hohen Trottoirs. Immerhin konnten wir mit der Einführung des Lastwagenfahrverbots bereits eine erste Entschärfung der Situation herbeiführen. Denn der Schwerlastverkehr ist nicht nur für die Passantinnen und Passanten im Stadtzentrum eine Zumutung, sondern auch für die Strassenpflästerung: Durch die vielen Lastwagen, die in den letzten Jahren durch Langenthal hindurchgerasselt sind, wurde das Pavé zwischen Coop-Kreisel und Manor bereits wieder arg in Mitleidenschaft gezogen.
Welche Anzahl von Fahrzeugen wäre für das Stadtzentrum denn ein erträgliches Mass?
Basierend auf dem Entwicklungs- und Attraktivierungskonzept für die Innenstadt erachtet der Gemeinderat einen Zielwert von 3000 Fahrzeugen täglich als richtig und angemessen. Unsere Vision, die wir unter anderen gemeinsam mit der Stadtvereinigung und den Detaillisten ausgearbeitet haben, ist nach wie vor eine Innenstadt, die wie ein offenes Einkaufszentrum funktioniert – ein einladender städtischer Bereich, der zum Flanieren und Verweilen einlädt. Fakt ist, dass der übermässige Transitverkehr, den wir derzeit einfach über uns ergehen lassen, einer solchen Vision eines belebten und attraktiven Stadtzentrums viel mehr schadet als nützt.
Denken Sie, die Detaillisten werden das bei der Aussprache am 25. Januar auch so sehen?
Wie gesagt, wir werden erst nach der Aussprache wissen, welche Befürchtungen seitens der Ladenbetreibenden tatsächlich im Raum stehen. Offenbar hält sich aber in einigen Köpfen hartnäckig die Vorstellung, der Transitverkehr trage zu einem florierenden Geschäft bei. Meines Erachtens gibt es aber wohl kaum einen Automobilisten, der durch das Zentrum fährt und dann denkt: «Oh, in die Parfümerie muss ich aber auch noch.»
Naja, vielleicht gibt es tatsächlich autofahrende Konsumentinnen und Konsumenten, die so funktionieren?
Wenn es in grösserem Ausmass so wäre, dann möchte ich selbst noch morgen das Lokal der ehemaligen Weinhandlung Vuithier in der Oberen Marktgasse beim Löiebrüggli mieten und sofort ein Geschäft eröffnen (schmunzelt). Erlauben Sie mir ein kurzes Gedankenspiel: Direkt neben diesem Lokal an bester Lage fahren täglich bis zu 12 000 Fahrzeuge vorbei. Wäre der Transitverkehr nun wirklich das erfolgsversprechende Moment des Detailhandels, müsste ein Laden an dieser Geschäftsadresse doch richtiggehend florieren? Schon nur wenn jedes tausendste Fahrzeug zum Einkaufen bei mir anhalten würde, hätte ich täglich immerhin zwölf Transitkunden, die bei mir einkaufen würden – die restliche Kundschaft noch nicht einmal mit eingerechnet. Das kleine Rechenbeispiel ist aber eigentlich hinfällig, denn aus meiner Sicht werden nach wie vor viel zu grosse Hoffnungen in den Transitverkehr gelegt. Das ehemalige Vuithier-Lokal steht seit einem Jahr leer, wie wir alle wissen. Bislang wollte dort niemand ein neues Geschäft eröffnen – und das trotz 12 000 Fahrzeugen pro Tag, die dort vorbeifahren.
Eine Haltung der Stadtvereinigung könnte auch sein, den Status Quo beibehalten zu wollen. Im Sinne von: Ein Lastwagenverbot fürs Stadtzentrum reicht bereits aus. Lieber weiterhin eine halbwegs unbefriedigende Situation mit viel Transitverkehr im Ortskern als eine Verschlimmbesserung der Lage.
Angesichts der unzumutbaren Ist-Situation ist es sicherlich nicht sinnvoll, gar keine Veränderungen respektive Verbesserungen anstreben zu wollen. Wie gesagt: Die Innenstadt leidet aktuell sehr unter dem Durchgangsverkehr. Und wir wissen, dass es Detaillisten gibt, die das genauso sehen. Der Austausch zwischen Gemeinderat und Stadtvereinigung findet ja nicht erst jetzt statt – es gab in der Vergangenheit immer wieder Möglichkeiten zum Austausch. Beispielsweise hatte die SVL ihren Einsitz in der Begleitgruppe zur Erarbeitung der «Verkehrslösung Langenthal». Bei den Sitzungen für ein neues Verkehrsregime in der Innenstadt wie auch in den Medien waren bislang auch vonseiten SVL grundsätzlich zustimmende Voten zu vernehmen. Nun sind wir aber sehr gespannt auf den Austausch vom 25. Januar.
Wer wird seitens Stadt anwesend sein?
Mir zur Seite stehen werden Vize-Stadtpräsident Markus Gfeller (FDP), Gemeinderat Michael Schär (FDP) sowie Pierre Masson als Leiter des Fachbereichs Tiefbau und Umwelt. Er ist in seiner Funktion auch Gesamtprojektleiter der «Verkehrslösung Langenthal». Wir hoffen, dass die Detaillisten zahlreich erscheinen und formulieren werden, was sie bedrückt. Wir unsererseits haben nichts zu verstecken und sind nach wie vor ergebnisoffen.
Ergebnisoffen – das heisst also, es ist nicht damit zu rechnen, dass das neue Temporegime bereits demnächst eingeführt wird? Auch mit baulichen Massnahmen ist vorderhand nicht zu rechnen?
Der Gemeinderat hat stets betont, dass er die Einschränkungen bezüglich der Durchfahrt durch die Innenstadt erst dann erlassen wird, wenn ein modernes Parkleitsystem zur Verfügung steht, denn das Parkieren ist und bleibt natürlich ein wichtiges Thema. Langenthal verfügt jedoch über rund 1000 absolut zentrumsnahe Parkplätze, die im Schnitt nur zu etwa 70 Prozent belegt sind. Diese Zahlen zeigen, dass wir mit einem funktionierenden Parkleitsystem zusätzlich viel für den lokalen Detailhandel tun wollen. Das Parkleitsystem ist im Agglomerationsprogramm 4 (AP4) enthalten und wird demnächst vom Gemeinderat zur Projektierung freigegeben. Es ist also eine vorgezogene Massnahme aus dem AP4, die noch dieses Jahr erarbeitet werden soll. Die Einführung des Parkleitsystems wird – wie erwähnt – mit der Einführung des neuen Temporegimes koordiniert. Bevor letzteres eingeführt werden kann, müssen im Bereich der Kernstadt aber zuerst noch die baulichen Massnahmen aus dem AP3 realisiert werden. Und dies ist gemäss aktuellem Zeitplan in den Jahren 2026/2027 vorgesehen. Einfach gesagt: Heute und morgen werden in der Innenstadt also weder ein neues Temporegime eingeführt noch bauliche Massnahmen umgesetzt.
Was haben die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zu Temporegime, Parkleitsystem und baulichen Massnahmen zu sagen?
Für die Umsetzung der baulichen Massnahmen im Stadtzentrum wird ein Kreditgeschäft zu Händen des Volkes erarbeitet. Momentan gehen wir davon aus, die entsprechende Volksabstimmung anfangs 2025 durchführen zu können. Die Vorlage für das Parkleitsystem wird nach heutigem Wissensstand in der Kompetenz des Stadtrats liegen und somit nicht vors Volk kommen. Wieder anders ist es beim Konzept Temporegime: Ein solches liegt in der Kompetenz des Gemeinderats und wurde von diesem im letzten Sommer beschlossen.
Apropos Temporegime: Wir haben vorhin vor allem von den Begegnungszonen (Tempo 20) in der Innenstadt geredet. Wie sieht es denn mit Tempo 30 und Tempo 50 aus?
Tempo 30 ist – grob gesagt – überall in den Wohnquartieren von Langenthal vorgesehen. Auch auf der Aarwangenstrasse zwischen Manor und dem Auberge-Kreisel sowie auf der Bahnhof-/Bützbergstrasse zwischen Manor und Lindenhof soll künftig Tempo 30 gelten. Tempo 50 ist hingegen auf den Hauptverkehrsachsen vorgesehen, also beispielsweise auf der Waldhofstrasse, der Hasenmattstrasse oder der Ringstrasse. Dieses Regime verdeutlicht die künftige Lenkung des Transitverkehrs via Hauptverkehrsachsen. Die Wohnquartiere und die Innenstadt sollen hingegen vom Autoverkehr entlastet und dadurch aufgewertet werden.
Patrick Jordi im Gespräch mit Stadtpräsident Reto Müller