• Alexandre Grenier von den SCL Tigers tanzt die Gegner aus (auf dem Bild Zugs Nico Gross). · Bild: Keystone

20.12.2021
Sport

Sanft in der Art, stark in der Tat

Ist schon einmal ein ausländischer Spieler in der Schweizer Liga so unterschätzt worden wie Alexandre Grenier (30)? Wahrscheinlich nicht. Der kanadische Stürmer der SCL Tigers mahnt in lichten Momenten ein wenig an den grossen Mario Lemieux und steht für den Begriff «Rolex vom Transferwühltisch».

Eishockey, Alexandre Grenier, SCL Tigers · Diese Fehleinschätzung geht wohl in die Geschichte ein. Es ist nicht einmal so, dass Alexandre Grenier ein Unbekannter war. Im Frühjahr 2020 hilft er für zehn Spiele bei Lausanne aus und erzielt in zehn Partien vier Tore und vier Assists. Aber ein über die Landesgrenzen hinaus respektierter, kompetenter Hockey-Kenner kommt zu einem unmissverständlichen Urteil: «Vergiss ihn. Er ist viel zu langsam, um sich in unserer Liga durchsetzen zu können.» Aha. Ein Fehleinkauf. Aber es ist ein Volltreffer. Die «Rolex vom Transferwühltisch». Selbst wenn Marc Eichmann noch hundert Fehltransfers machen sollte: Der Ehrenplatz in der Ruhmeshalle des Sportchefs ist ihm als «der Mann, der Alexandre Grenier holte» auf sicher.

Kein bärbeissiger Rumpelstürmer
Es hat wahrscheinlich im Playoff-Zeitalter (seit 1986) noch nie einen ausländischen Spieler gegeben, bei dem der Schein so trügt. Alexandre Grenier ist mit einer NHL-Postur (195 cm, 91 kg) für die Schweizer Liga ein Titan. Grosse Spieler wirken optisch ohnehin unbeweglicher und langsamer, als sie tatsächlich sind. Daher wohl der Irrtum, er sei für die National League nicht schnell genug. Und dazu kommt, dass er unter dem Helm, hinter dem Visier und mit seiner Zahnlücke den optischen Eindruck eines bärbeissigen Rumpelstürmers erweckt. Nichts von allem trifft zu.
Alexandre Grenier ist in Zivilkleidung ein cooler, charismatischer und sehr gut aussehender junger Mann wie die Daddys in den amerikanischen Familienfilmen. Nur die Zahnlücke lässt erahnen, dass er möglicherweise einer nicht ganz ungefährlichen Tätigkeit nachgeht. Aber diese Zahnlücke – er ist von einem Puck im Gesicht getroffen worden – unterstreicht seinen lausbübischen Charme. Und auf dem Eis ist er viel mehr smarter Künstler als wuchtiger Brecher. Mit Händen wie ein Pianist und einer Spielintelligenz, die seine fehlende Explosivität bei weitem kompensiert. Sanft in der Art, stark in der Tat. In lichten Momenten mahnt er ein wenig an Mario Lemieux, einen der grössten der NHL-Geschichte.

Zu gut für die AHL
Alexandre Grenier ist eben einer, der in jeder Hinsicht positiv irritiert. Obwohl Frankokanadier, spricht er ein Englisch ohne französischen Einschlag. Obwohl er wie jeder kanadischer Junge im Winter mit seinen Kumpels bei jeder Gelegenheit Hockey gespielt hat, ist seine Karriere keine typisch kanadische, getrimmt auf das Traumziel National Hockey League (NHL). Sein Vater hat keine Hockey-Vergangenheit. Als sportliches Multitalent investiert er seine Energie nicht nur ins Hockey: «Ich war wohl das, was man hyperaktiv nennt.» Für den Einstieg ins Hockey muss er gar zahlen. «Gegen eine Gebühr durfte ich ins Trainingslager einrücken und dort bin ich entdeckt worden.» Er ist schon 16, als er mit geregeltem Hockey-Training beginnt und bereits 19, als er auf der höchsten kanadischen Juniorenstufe in der Quebec Major Junior Hockey League (QMJHL) angekommen ist. In dem Alter haben andere schon ihr NHL-Debüt hinter sich. Mit 25 kommt auch er in der NHL an. Aber in der Organisation der Vancouver Canucks reicht es lediglich zu neun Partien ohne Skorerpunkte und zu einem Maximalsalär von 650 000 Dollar brutto. Die meiste Zeit verbringt er in den Farmteams. Dort sind seine Statistiken gut: 444 Partien (264 Punkte) in der American Hockey League (AHL). Er ist im Niemandsland einer nordamerikanischen Karriere angekommen: Viel zu talentiert für die AHL. Aber nicht gut genug für die NHL.

Ab nach Europa
Und so ist 2019 der Schritt nach Europa in die Deutsche Eishockey Liga (DEL) logisch. Die Statistik aus zwei DEL-Saisons ist beeindruckend: 70 Spiele und 65 Punkte. Mit Trainer Jason O’Leary kommt er schliesslich im Sommer 2021 von Iserlohn nach Langnau. Hier findet er mit Jesper Olofsson den idealen Mitspieler. Auch der Schwede ist eine spielerische Künstlernatur, die anderorts unterschätzt worden ist. Bis Anfang Dezember hatten die beiden für die SCL Tigers in Gemeinschaftsarbeit bereits 30 Tore produziert. Zwei gleich im ersten Saisonspiel am 10. September beim überraschenden 4:1 in Lugano.
Alexandre Grenier ist eben tatsächlich eine Künstlernatur. Seine Mutter – sie kommt aus Polen – gehört unter dem Namen Berta Tyrala zu den angesagtesten Malerinnen in den USA. Im nächsten Frühjahr wird er Vater und auf dem Handy hat er die Fotos des künftigen Kinderzimmers gespeichert. Die Wände hat seine Mutter mit wunderschönen Malereien von Märchenfiguren geschmückt. Zur lockeren Künstlernatur passt die Gelassenheit, mit der Alexandre Grenier seine Situation sieht.

Unverplante Zukunft
Langnau ist für ihn weder Dorf noch Provinz. Er ist im urbanen Kanada aufgewachsen und sieht Langnau eher als ruhigen Vorort. «Bis in die nächste Stadt, nach Bern, Luzern oder Thun ist es ja nicht weit – und auch in Zürich ist man schnell.» Gewöhnt an die Verhältnisse in Montréal oder Toronto sagt er: «Hier hat es ja kaum Verkehr auf den Strassen.» Viele ausländische Spieler mit auslaufenden Verträgen werden nervös, wenn sie im Dezember noch nicht wissen, wo sie in der kommenden Saison ihr Geld verdienen werden. Alexandre Grenier kümmert es nicht. Er habe sich noch gar nicht mit seinem Agenten über die Zukunft unterhalten und wolle nun erst einmal den Spengler Cup mit dem Team Canada bestreiten. Darauf freut er sich. «Dann werden wir sehen.» Bei einer Künstlernatur wie er nun mal ist, würde es nicht einmal überraschen, wenn er in Langnau verlängern würde.

Von Klaus Zaugg