• Der Vortragsabend von Mitte August in der Alten Mühle in Langenthal stiess auf ein grosses Interesse. Das Thema «Biodiversität» beschäftigt offensichtlich viele Menschen. · Bilder: zvg

  • Blumen, die vielen Insektenarten Nahrung bieten, sind im Mittelland selten geworden. Auf dem Bild: Schwanenblume mit Wildbiene und verschiedenen Fliegenarten.

03.09.2024
Oberaargau

Schützen, was die Schweiz braucht

Das Thema ist brisant, der Saal der Alten Mühle Langenthal an diesem Abend Mitte August 2024 voll: Die lokalen Naturschutzvereine luden den Biologen Stefan Greif, Projektleiter Artenförderung bei BirdLife Schweiz, ein, um mehr über den Zustand der Insektenvielfalt und Biodiversitätsförderung zu erfahren. Dies im Hinblick auf die Abstimmung vom 22. September 2024.

 

Oberaargau · Insekten sind die bei weitem grösste Tiergruppe. Doch dieses Erfolgsmodell leidet: Von den in den Roten Listen untersuchten Insekten sind fast 60 Prozent ausgestorben, gefährdet oder potenziell gefährdet. Nebst der Artenzahl nimmt auch die Biomasse ab. «Dass Windschutzscheiben früher voller Insekten waren, heute aber nicht mehr, ist zwar kein Beweis, aber ein treffendes Bild dafür, was die wissenschaftlichen Studien bestätigt haben», erläutert Stefan Greif in seinem Vortrag zum Thema Biodiversität. Der Biologe Marcel Züger dagegen interpretiere in seinem Gutachten für den Bauernverband etliche Zahlen falsch, sind sich Fachleute einig.

Ohne Insekten geht gar nichts
Mücken, Läuse, Wespen – sind Insekten nur lästige Störenfriede? «Keineswegs!», wissen die Naturschützerinnen und Naturschützer. Insekten sind unverzichtbar: Die Mehrheit aller Nutzpflanzen wird durch Insekten bestäubt – und je grösser die Insektenvielfalt, desto besser ist die Bestäubungsleistung. Zusammen mit anderen Kleinorganismen sorgen sie für die Bodenfruchtbarkeit. Für viele andere Tiere sind sie die Nahrungsgrundlage: Ohne Insekten gäbe es die Mehrheit unserer Vögel nicht mehr.

Lebensnetz reisst
Greif erklärt, dass der Begriff «Biodiversität» die Vielfalt der Lebensräume und der darin lebenden Arten mit ihrer genetischen Vielfalt umfasst. «Das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen den Arten ist das Netz, das uns trägt – unsere Lebensgrundlage. Darin hat jede Art ihre Funktion. Wenn Arten verschwinden, erhält das Netz Lücken, und je mehr Arten verschwinden, desto weniger trägt es uns», erklärt Greif weiter. Man könne es mit dem Spiel Jenga vergleichen, bei dem Holzbausteine aus dem Turm gezogen werden, bis er wackelt und einstürzt.

Zerstörende Schere im Netz
Der Hauptgrund für die Gefährdung der Insekten und der Biodiversität sei die Zerstörung der Lebensräume durch intensive Nutzung und Überbauung: Fast die Hälfte der natürlichen Lebensräume sind gemäss Roter Liste gefährdet. Verloren gegangen seien bereits 70 Prozent der Auen, 82 Prozent der Moore und 95 Prozent der Magerwiesen/-weiden. Die Schweiz sei beim Anteil der Schutzgebietsflächen im europäischen Vergleich trauriges Schlusslicht, wird ins Feld geführt. Die Anwesenden erfahren: «Deshalb konnte der Artenrückgang bisher noch nicht gestoppt werden. Besonders im Landwirtschaftsgebiet des Mittellandes sind sehr viele Arten verschwunden.»

Nadel und Faden jetzt ergreifen
Die gute Nachricht des Vortragsabends: Es sei noch nicht zu spät, die notwendigen Massnahmen seien bekannt. Stefan Greif betont aber, dass man jetzt handeln müsse –, was die Politik leider noch nicht begriffen habe. Zwar habe der Bundesrat festgestellt, dass das Insektensterben bisher nicht aufgehalten werden konnte. Aber das Parlament habe alle vorgeschlagenen Massnahmen wieder gekippt. Laut Greif kann jetzt nur noch das Volk mit einem Ja zur Biodiversitätsinitiative die Politik dazu bringen, genügend finanzielle Mittel und Flächen für unsere Lebensgrundlage bereitzustellen.

Keine Käseglocke
Stefan Greif betont, dass die Initiative keine Käseglocke für die Schweiz will. Das Argument, dass bei Annahme der Initiative mehr Nahrungsmittel importiert werden müssten, kann er entkräften. Die Biodiversität im Kulturland kann nur durch landwirtschaftliche Nutzung erhalten werden. Leuchtturmprojekte wie das Klettgau (SH) und der Obstgarten Farnsberg (BL) zeigen, wie Bauern auf freiwilliger Basis und dank guter Beratung für Massnahmen gewonnen werden können, sodass Feldlerche und Gartenrotschwanz zurückgekehrt sind. Die Leute erkennen zudem, dass durch weniger Fleischkonsum Böden frei werden für den Anbau von Lebens- statt Futtermitteln.

Eing./Manfred Steffen/pjl