Schulunterricht fern der Heimat
Ukrainische Schülerinnen und Schüler drücken seit fast anderthalb Jahren die Schulbank im Oberaargau. Wie sind die ersten
Erfahrungen für die Schulkinder und wie gehen die Schulen damit um? Amalia Kubrak und Katheryna Volnenko gehen in Charkiw noch zur Schule, als die russische Armee im Februar 2022 die Ukraine überfällt und die beiden Mädchen mit der Familie vor dem Krieg flüchten müssen. Sie kommen in die Schweiz, landen im Oberaargau und müssen Deutsch lernen, neue Freunde finden und erwachsen werden. Was heisst das für die Schule und was für die Betroffenen?
Kleindietwil/Rohrbach · Nach dem Überfall der russischen Armee im Februar 2022 flüchteten die beiden Mädchen Amalia Kubrak und Katheryna Volnenko aus der Ukraine und fanden Zuflucht in der Schweiz. Heute leben sie in Rohrbach und besuchen das Oberstufenzentrum in Kleindietwil, wo sie sich erfolgreich in den Schulalltag integriert haben.
Die Mädchen fanden gemeinsam mit Dutzenden von weiteren geflüchteten Familien Aufnahme in der Gemeinde Madiswil und Umgebung. Die Volksschule Madiswil reagierte umgehend und bildete drei Willkommensklassen mit 34 ukrainischen Flüchtlingskindern im Schulhaus Homatt. Am Vormittag erhielten sie intensiven Deutschunterricht und am Nachmittag wurden sie bereits in die Regelklassen eingebunden. Mittlerweile sind die Kinder vollständig in den normalen Unterricht integriert und nehmen zusätzlich wöchentlich noch zwei DaZ-Lektionen (Deutsch als Zweitsprache) in Anspruch.
Grosse psychische Belastungen
«Jüngere Kinder sind in der Regel anpassungsfähiger und können eher auf andere Kinder zugehen», beobachtet die Schulleiterin Kerstin Sommer. Das Schulsystem erwartet grundsätzlich, dass die fremdsprachigen Kinder nach zwei Jahren über einen normalen Wortschatz verfügen, was natürlich nicht ganz realistisch sei. «Zudem stellt die Verständigung auf Berndeutsch im Alltag eine Herausforderung dar, da die Kinder auch diese Sprache verstehen müssen.» Auf dem Pausenplatz und in der Klasse werde halt Mundart gesprochen. «Doch die ukrainischen Kinder werden gut akzeptiert, es gibt keine grösseren Konflikte und sie sind zu einem festen Bestandteil der Schule geworden», stellt Kerstin Sommer erfreut fest.
Ab der 4. Klasse könne man bei einigen Kindern teilweise schwere psychische Belastungen feststellen, insbesondere wenn ihre Familien durch den Krieg auseinandergerissen wurden und Mütter die volle Verantwortung alleine tragen müssen. «Es ist für die Kinder eine schwierige Situation, wenn zu Hause Krieg herrscht, der Vater möglicherweise sogar im Krieg ist und die Zukunft ungewiss bleibt», erklärt Kerstin Sommer. Einige der geflüchteten Familien sind traumatisiert, ihnen wird eine psychologische Betreuung empfohlen. «Die ukrainischen Familien bemühen sich aktiv zugunsten einer guten Integration, sie sind herzlich und engagieren sich aktiv im Dorfleben.» Die Volksschule Madiswil konnte zudem von der Unterstützung der ausgebildeten Lehrerin und gebürtigen Ukrainerin Maryna Spycher aus Rohrbach profitieren, die auch übersetzte und somit sprachliche und kulturelle Barrieren zu überwinden half. «Ein Glücksfall für die Schule», sagt Kerstin Sommer.
Insgesamt 13 ukrainische Schülerinnen und Schüler
Heute besuchen noch acht Kinder aus der Ukraine die Volksschule Madiswil, während fünf ukrainische Jugendliche in drei verschiedenen Klassen am Oberstufenzentrum Kleindietwil (OSZK) unterrichtet werden. «Die Integration funktioniert von hervorragend bis mässig – das ist sehr individuell», kommentiert Bernhard Bühler, Schulleiter des OSZK. «Auch die schulischen Fortschritte variieren stark.» Die Eltern der Kinder hätten sich sehr kooperativ und interessiert gezeigt, auch wenn der Dialog aufgrund der Sprachbarriere etwas eingeschränkt sei. Doch mit der Hilfe von Übersetzern oder dank technischen Hilfsmitteln lassen sich diese Schranken überwinden. Und wie schätzt der Schulleiter die Akzeptanz der Mitschülerinnen und Mitschüler ein? «Sie waren neugierig und reagierten offen, wie ich finde. Vermutlich auch, weil das Konfliktgebiet nicht weit von hier entfernt liegt», meint Bernhard Bühler.
Französisch als Hürde
Bei ihrer Ankunft konnten viele ukrainische Kinder weder Englisch noch Deutsch sprechen. Amalia Kubrak und Katheryna Volnenko hingegen beherrschten neben Russisch, Ukrainisch und etwas Polnisch bereits ein wenig Englisch. Das kommt ihnen jetzt zugute, denn im Englisch sind sie den Mitschülerinnen und Mitschülern bereits voraus. Der pensionierte Lehrer Daniel Kämpfer aus Langenthal unterrichtet die beiden in zusätzlichen Schulstunden in Deutsch und Englisch. «Deutsch bekommen die beiden hin, sie haben da innerhalb eines Jahres bereits enorme Fortschritte gemacht», berichtet er. Da Amalia und Katheryna nun in die 9. Klasse wechseln, bereitet er sie auf das Gymnasium vor. «Ich bin zuversichtlich, dass sie es schaffen, denn beide sind sehr motiviert.» Im Englischunterricht versucht er mit den beiden Mädchen möglichst viel vorzuholen, damit sie sich im Gymnasium dann verstärkt auf Französisch und Deutsch konzentrieren können. Die grösste Herausforderung sieht Daniel Kämpfer im Französisch, da die ukrainischen Schülerinnen da praktisch bei null beginnen mussten und im Gymnasium den gleichen Anforderungen wie Schweizer Schulkinder gerecht werden müssen, die bereits mehrere Jahre Französischunterricht hatten. Dank seiner Erfahrung im Unterrichten von Deutsch als Zweitsprache an der Volksschule kann er gut auf Menschen aus aller Welt und mit unterschiedlicher Muttersprache eingehen.
Die Zukunft in der Ukraine?
Für Amalia und Katheryna ist nach dem «normalen» Schulunterricht noch nicht Feierabend. Neben der individuellen Förderung haben sie fast täglich Online-Unterricht an ihrer ukrainischen Schule – bis zu drei Stunden am Tag. Sehr viel Schulstoff also für zwei Teenager, sodass ihnen wenig Zeit für andere Interessen bleibt. «Wir sehen unsere Perspektive noch immer in der Ukraine», betonen beide einstimmig, obwohl ihnen die Schweiz landschaftlich gut gefällt. Sie sind sich bewusst, dass die Zukunft unsicher ist und selbst nach einem Ende des Krieges noch viele Jahre des Wiederaufbaus in der Ukraine bevorstehen, bis wieder ein normaler Alltag möglich sein wird.
Katheryna möchte im Bereich Design und Grafik tätig sein, während Amalia gerne Journalistin oder Landschaftsgestalterin werden würde. Für die beiden ukrainischen Mädchen ist die Schule in der Schweiz eine ganz andere Erfahrung als in ihrer Heimat. Ka-theryna berichtet von strengeren Lehrerinnen und Lehrern, die dort mehr Autorität besitzen. «Bei uns herrscht im Allgemeinen eine striktere Hierarchie.» Hier in der Schule stelle vor allem die Sprache eine Hürde dar, gerade auch im Umgang mit Mitschülerinnen und Mitschülern. Deshalb bleiben die beiden oft unter sich, weil sie sich dann problemlos unterhalten können.
Besuch in der Heimat
Die Zeit in der Schweiz hat die beiden verändert, sie haben Freunde, einen Teil der Familie und ihre Heimat verlassen. Sie müssen eine neue Sprache lernen, sich an andere Gepflogenheiten gewöhnen. Sie wurden durch die Flucht gezwungen, vorzeitig erwachsen zu werden, ob es ihnen gefällt oder nicht.
Kürzlich besuchten die beiden Freundinnen ihre Heimatstadt Charkiw, zum ersten Mal seit ihrer Flucht. «Es ist schwer zu ertragen, all die verheerenden Zerstörungen zu sehen», sagt Amalia. Sie konnte dort dennoch einige Freundinnen und Freunde treffen, was sowohl bewegend als irgendwie auch traurig gewesen sei.
Für Amalia Kubrak und Katheryna Volnenko ist es nun wichtig, weiterhin viel zu lernen und sich damit gut auf die künftigen Herausforderungen im Leben vorzubereiten – unabhängig davon, ob sie schon bald in die Ukraine zurückkehren oder noch länger in der Schweiz bleiben werden.
Von Patrick Bachmann