• Am 17. Mai wird Hedwig Zaugg 108 Jahre alt. · Bilder: zvg

  • Noch heute würde sie gerne Geige spielen. Doch leider lässt sich das Instrument nicht mehr stimmen.

  • «Mubli», als sie 2020 in den Seniorenpark nach Huttwil zog. Ein Halt bei ihrer geliebten Eiche in Walterswil gehörte dazu.

09.05.2023
Huttwil

Seit bald 108 Jahren zufrieden mit dem Leben

Am 17. Mai feiert Hedwig Zaugg, «s Stampfi Mubli» oder «s Stampfi Hedi» ihren 108. Geburtstag. Ein Geheimrezept, ein so hohes Alter zu erreichen, hat sie nicht, sie sei halt einfach ein «zähes Ross». Sie ist bescheiden und zufrieden, redet nicht gerne von sich selbst, erzählt lieber von anderen. Dennoch blickt sie auf ein zufriedenes Leben zurück, auch wenn nicht immer alles so war, wie es hätte sein können.

Huttwil/Walterswil · Sie wurde am 17. Mai 1915 in Walterswil in der Stampfe geboren. Ihr Spitzname «Stampfi Hedi» kommt also nicht von ungefähr. Bereits als Dreieinhalbjährige verlor sie ihre Mutter an der spanischen Grippe. Zusammen mit ihren zwei Schwestern und ihrem Bruder wuchs sie als Nachkömmling unter grosser Hilfe der Grosseltern bei einem liebevollen Vater auf, der später wieder heiratete. «Ihre Stiefmutter bezeichnete sie immer als meine zweite Mutter. Bei ihr hat sie gelernt, hinten anzustehen.
Diese Regel oder Gewohnheit begleitete sie ihr ganzes Leben, erst alle anderen, dann sie, auch wenn es am Ende nichts mehr für sie gab», erzählt ihre Tochter Katharina Alper. Sie hatten nicht viel und mussten jeden Rappen umdrehen, dennoch erinnert sich Hedwig Zaugg gerne an ihre Kindheit zurück und lächelt dabei. «Einmal bin ich als kleines Mädchen ins ‹Ofehuli› geschlüpft. Rein ging gut, aber raus kam ich nicht mehr und man musste mich an den Beinen herausziehen», erzählt sie und lacht verschmitzt. Beruf konnte sie keinen erlernen, sie wurde zu Hause gebraucht. 1941, mit 26 Jahren, heiratete sie Andreas Zaugg. 1944 bekamen sie ihre erste Tochter Marianne und 1949 die zweite Tochter, Katharina. «Er war ein lieber Mann und wir hatten es gut zusammen», sagt Hedi Zaugg. Und ihre Tochter ergänzt: «Unser Vater war gut zu unserer Mutter. Er ermöglichte ihr unter anderem eine Näh- und eine Strickmaschine.» Ebenfalls 1949 übernahm das Paar die Stampfe von Hedwig Zauggs Vater.

Velo, Geige und Brätzeli
Ihr Grossenkel Michael gab ihr den Spitznamen «Mubli», als er noch nicht richtig sprechen konnte. Dieser ist ihr bis heute geblieben und ihre Familie und Freunde nennen sie liebevoll so.
Nachdem ihr Mann 1992 gestorben ist, begann Hedwig Zaugg, eine Leidenschaft für Brätzeli zu entwickeln. So backte sie diese in grossen Mengen, und mit dem Velo verteilte sie diese an Menschen in Krankenhäuser, in Altersheimen und allen, die ihre Brätzeli liebten.
Zu ihrem 80. Geburtstag bekam sie ein Velo, welches etwas neuzeitlicher war. Irgendwann aber im hohen Alter wurde das Velofahren etwas gefährlich: «Der Velomechaniker sagte mir, das Velo würde er nicht mehr flicken, ich würde zickzack fahren und die Verantwortung wolle er nicht übernehmen. Also bin halt nicht mehr Velo gefahren», erzählt sie und lacht. Das Zickzackfahren mit dem Velo habe sie einmal so erklärt: Weil das Hinauffahren zäh war, habe sie von einem Strassenrand zum anderen einfach ein bisschen Schwung geholt. Sie hätte schon immer geschaut, dass kein Auto käme, was andere Strassenteilnehmer wohl nicht so interpretiert haben. Als sie kein Velo mehr hatte, machte sie auch schon mal Autostopp um von A nach B zu kommen. Sie entwickelte eigene «Mödeli», etwa das Brotbacken mit unterschiedlichen Zutaten war legendär und ihre Suppen waren ebenso währschaft. Der grosse Topf Suppe, den sie am Montag kochte, reichte meistens für die ganze Woche. Ebenfalls war sie über 100 Jahre eine passionierte Gärtnerin. Das Singen und Musizieren war ihr immer wichtig. So spielte sie bis ins hohe Alter Geige. Dies würde sie wohl noch heute tun, doch lässt sich ihre Geige nicht mehr stimmen. Sie war immer sehr einfallsreich und kreativ. Sie interessierte sich für Mode und kommentiert heute noch, wenn jemand ein Kleid trägt, das für sie eine «Aalegi wie ein Fasnacht-Posterli» ist. Im Geist ist sie jung geblieben und hat manchmal Ideen, die einem «normalen» Menschen nie einfallen würden. Anstand und Moral waren und sind ihr wichtig. So mag sie Ungerechtigkeit gar nicht. Sie ist sehr feinfühlig und sagt von sich, dass sie «die Flöhe husten hört». Damit meint sie, dass sie viel mehr fühlt als hört und merkt, wenn jemand sie nicht als Mensch mit klarem Verstand wahrnimmt.

Mit 101 Jahren ins Altersheim
Im März 2016 stürzte sie in der Küche bei sich zu Hause und brach sich die Hüfte, die operiert werden musste. Nach der Reha in Belp blieb sie in der Stampfe und hatte im August erneut einen Sturz, womit sie wieder nach Langenthal ins Spital kam. Von dort kam sie in das damalige Alters-und Pflegeheim Weimatt in ein Ferienbett. Trotz vielseitigen Widerstands gegen den Umzug – einen alten Baum versetzt man nicht – zog sie am 29. Oktober 2020 im Seniorenpark Sonnegg in Huttwil ein. Die Leiterin Iris Schenker und das Team fühlen sich sehr geehrt, Hedwig Zaugg betreuen zu dürfen. Das trotz ihres hohen Alters noch recht rüstige «Mubli» freut sich über ihre Enkel und Urenkel und ist an deren Entwicklung und Leben interessiert. Wenn etwas nicht so läuft, wie es soll, dann kann sie auch schlaflose Nächte mit den Sorgen verbringen. Noch heute mag sie Ausflüge und Reisen und geniesst diese auch. Gerne verbringt sie Zeit im Pavillon im Seniorenpark und beobachtet die Vögel. «An der Kreuzung beim Gassenwald in Walterswil steht eine alte Eiche, die ‹Mubli› sehr liebt. Oft fahren wir einfach dort vorbei und steigen auch mal aus», erzählt ihre Tochter.

Bald 108 Jahre alt
Sie überlebte zwei Weltkriege, die spanische Grippe und im hohen Alter Corona. Sie lebte immer sehr gesund und den Arzt suchte sie selten bis nie auf, da sie auch sehr wenig krank war und stets bei guter Gesundheit sein durfte. Dass sie nun bald 108 Jahre alt wird, kümmert «Mubli» wenig. «Das ist halt so», sagt sie. Ihre Tochter meint: «Uns sagt sie immer, werde ja nie so alt wie ich!» Hedwig Zaugg ist ihr ganzes Leben lang dankbar und zufrieden gewesen. Auch heute noch. Jetzt, mit bald 108 Jahren ist aber das Sehen, Hören und Lesen mühsam und sie ist etwas lebensmüde geworden. Und so antwortet sie auf die Frage, was sie sich noch wünschen würde: «Bald sterben zu können.» Da bleibt einem nur ein leeres Schlucken. «Ihren Abschied hat sie schon lange geplant und darüber gab es viele Diskussionen. Einmal, es war 2018, schrieben wir auf, wer alles zur Beerdigung eingeladen werden sollte. Plötzlich sagte sie: Aber dann bin ich ja nicht mehr hier. Ja, stimmt! Was tun? Nach kurzer Überlegung meinte sie, man könnte doch jetzt ein Abschiedsfest veranstalten? Das wäre eine gute Gelegenheit, sich von allen zu verabschieden. Dieses ‹Abschiedsfest› fand am 13. Oktober 2018 in der Mehrzweckhalle in Walterswil statt. Über 100 Gäste kamen an jenem Nachmittag vorbei, sogar einige Verwandte aus Kanada», erzählt ihre Tochter. Der tatsächliche Abschied wird dann eines Tages nur noch im engen Familienkreis stattfinden. Denn auch ein uralter, noch so robuster Baum, wird irgendwann einmal müde.

Von Marianne Ruch