Selbsthilfe: Gemeinsam geht es besser
Selbsthilfegruppen im Kanton Bern sind gefragt. Für fast alles gibt es eine Schicksalsgemeinschaft. Das Beratungszentrum Burgdorf feiert heuer das 10-Jahr-Jubiläum. Silvia Kiener, Leiterin der Kontaktstelle, und Betroffene erzählen, was eine Selbsthilfegruppe ist und was sie bewirken kann.
EMMENTAL · Die Abendsonne scheint über die Hügel, Wiesen und Wälder des Emmentals. Mitten in dieser idyllischen Landschaft liegt das Panoramarestaurant Fritzenfluh. Auf der Restaurant-Terrasse sind an diesem klaren Sommerabend fast alle Tische besetzt. «Es ist ein wunderbarer Ort für unser heutiges Treffen», freut sich Martina Gerber*. Die 36-Jährige ist die Initiantin einer Selbsthilfegruppe, die sich einmal im Monat trifft. «Wir sind eine lebensfrohe Gruppe und treffen uns jeweils in einem tollen Restaurant, wo wir auch fein essen können», erzählt eine 61-jährige Frau und freut sich am geselligen Zusammensein.
Die Gruppe besteht aus fünf Frauen und einem Herrn – und sie alle leiden unter einer chronisch entzündlichen Erkrankung der Gelenke. «Eine Krankheit mit vielen Gesichtern – und heftigen Schmerzen», weiss Martina Gerber. Dies sei dann auch der Grund gewesen, weshalb sie vor zwei Jahren eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen habe.
Von unschätzbarem Wert
«Der Arzt verschreibt Medikamente, die sein müssen, was aber der Austausch mit Gleichgesinnten mir gibt, ist von unschätzbarem Wert», erzählt eine 40-jährige Frau aus der Gruppe, die den Abend sichtlich geniesst. Sie ergänzt:« Wir vertrauen einander, können auch gut über schwierige Themen reden, einander Tipps geben und uns so gegenseitig helfen – und wir pflegen eine schöne Freundschaft auch aus-serhalb der Treffen.» Sie seien eine fröhliche, aufgestellte Gruppe und immer füreinander da – sind sich alle einig. Bei ihnen gäbe es trotz schmerzhafter Krankheit oft einen Grund zum Lachen und zum Fröhlichsein.
Ein wichtiges Angebot
Ein altes, schönes Haus nahe dem Burgdorfer Bahnhof. In den Räumen im Erdgeschoss hat sich das Beratungszentrum Burgdorf eingemietet. Es ist eines der vier Zentren der Selbsthilfe BE. Seit einem Jahr ist Silvia Kiener Fachleiterin für das Beratungszentrum Burgdorf. Die Sozialpädagogin arbeitet eng mit den drei andern Beratungszentren Bern, Thun und Biel zusammen. Im Kanton Bern engagieren sich rund 250 Selbsthilfegruppen zu unterschiedlichen Themen in den Bereichen körperliche und psychische Krankheiten. «Selbsthilfegruppen sind ein überprüfbares Angebot geworden und haben inzwischen eine wichtige Funktion im Gesundheitswesen», erklärt Silvia Kiener.
Eine Selbsthilfegruppe aber ersetze keine Therapie, hält sie fest. Man könne jedoch vom Austausch mit Menschen profitieren, die ähnliche Erfahrungen gemacht hätten, und das sei eine grosse Unterstützung im Alltag. Die Erfahrung habe gezeigt, wie wichtig der Austausch mit Gleichgesinnten sei. «Bei vielen wächst in der Gruppe die Zuversicht, die eigene Situation bewältigen zu können.» Letztlich könne es auch für das Gesundheitswesen eine Entlastung sein, wenn vermehrt Eigenverantwortung für das eigene Wohlbefinden übernommen werde.
Selbsthilfegruppen sind gefragt – von A wie Autismus über K wie Krebserkrankungen bis Z wie Zöliakie. Auf einer Liste der Kontaktstelle Burgdorf sind für die Region Emmental/ Oberaargau rund 30 Themen aufgeführt, zu denen es verschiedene Gruppen gibt. Fünf neue Gruppen werden derzeit aufgebaut. Thematisiert wird eigentlich alles. In den letzten zehn Jahren würden Themen im psychischen Bereich einen grossen Raum einnehmen, erklärt Silvia Kiener.
So besteht im Moment eine Nachfrage für Gruppen rund um das Thema «Angehörige von Menschen mit Narzissmus». In Langenthal zum Beispiel ist eine Gruppe für Menschen mit Angststörungen und Panikattacken geplant sowie eine Gruppe für Menschen mit Asperger Syndrom. Es gibt Gruppen sowohl für direkt Betroffene als auch für Angehörige. Themen wiederholen sich, das Interesse daran bleibt. Manche bleiben einer Gruppe während Jahren treu.
Öffentlichkeitsarbeit ist wichtig
Zu den Aufgaben der Beratungszentren gehört die Unterstützung bei Aufbau einer Selbsthilfegruppe und deren Begleitung. «Zum Beispiel wird ein Coaching angeboten, wenn es schwierige Situationen gibt», erklärt Silvia Kiener. Ein Patentrezept jedoch gibt es nicht. Jede Gruppe muss ihren eigenen Weg finden. «Humor ist hierbei etwas sehr Wichtiges – aber auch der gegenseitige Respekt und der Wille, verbindlich in einer Gruppe mitzumachen.» Wann, wo und wie oft eine Gruppe sich trifft, und wie die Treffen ablaufen sollen, bestimmen die Teilnehmenden selbst.
Die Fachleiterinnen in den Beratungszentren helfen Interessierten beim Suchen einer passenden Gruppe. Durch Weiterbildungsangebote für Fachleute und Öffentlichkeitsarbeit soll das Bewusstsein für den Wert der Selbsthilfe gestärkt werden.
«Eine schöne Aufgabe»
Silvia Kiener ist an vielen Fronten gefordert. Fast täglich bekommt sie Anfragen für neue Themen oder es erkundigt sich jemand zum Beispiel nach einer Gruppe für Hochsensibilität. «Es gibt eigentlich keine Schranken für Themen», sagt sie.
Für seltene jedoch sei es manchmal schwierig, genügend Teilnehmende zu finden; sie würden dann jeweils versuchen, mit Öffentlichkeitsarbeit und Zusammenarbeit mit anderen Beratungszentren Menschen zu finden, die sich zu diesem Thema austauschen möchten. «Immer wieder bin ich beeindruckt, wie Menschen mit grosser Herausforderungen im Leben umgehen und sich gegenseitig stärken können.» Silvia Kiener spricht von einer spannenden und sehr bereichernden Aufgabe, von bewegenden Momenten und wie es sie beeindruckt, was in einer Selbsthilfegruppe alles möglich ist.
Das Beratungszentrum Burgdorf feiert heuer das 10-Jahr-Jubliläum.
*Name geändert
Was bringt Selbsthilfe der Gesellschaft?
Seit 16 Jahren engagiert sich die Selbsthilfe Schweiz schweizweit für die Förderung der gemeinschaftlichen Selbsthilfe. Derzeit bestehen 2700 Selbsthilfegruppen zu rund 230 Themen. Und es gibt immer mehr in der Schweiz – 1100 mehr Gruppen als vor zehn Jahren, also ein Anstieg von 70 Prozent in dieser Zeit. «Es wäre noch viel mehr möglich, aber unsere Strukturen reichen nicht, um den Bedarf abzudecken», sagt Sarah Wyss, die Geschäftsführerin der Dachorganisation Selbsthilfe Schweiz. Die gesetzliche Verankerung auf nationaler Ebene fehlt, um den Bedarf finanziell abdecken zu können und die Selbsthilfe allen zu ermöglichen. Zwar ist sie kostenlos, aber die regionalen Beratungszentren, die sehr wichtig sind, müssten mehr gestärkt werden. Zu beziffern, was die Selbsthilfe der Gesellschaft bringe, sei schwierig, sagt Sarah Wyss. Derzeit sind es eine Million Stunden, die Menschen in einer Selbsthilfegruppe verbringen – etwas geben und mit anderen deren Erfahrungen teilen. «Und das ist volkswirtschaftlich relevant.» Denn Prävention, die unter anderem in einer Selbsthilfegruppe geschieht, vermindert Erkrankungen und dadurch kommt es beispielsweise zu weniger Arbeitsausfällen – und das senkt die Gesundheitskosten. «Auch möchten wir die Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegenden fördern. Sie kennen teilweise die Selbsthilfe kaum», erklärt Sarah Wyss. «Für mich persönlich ist die Selbsthilfe eine Bereicherung, aber auch für unsere Gesellschaft, weil sie schlussendlich unser Gesundheits- und Sozialsystem entlastet – gerade in einer Zeit, in der man immer mehr von Gesundheits- und Sozialkosten redet. Ein Punkt mehr, die Selbsthilfe zu fördern – und dazu wir sind auf gutem Weg.»
Von Elsbeth Anliker