Silbermedaille, die golden hätte werden sollen
Mountainbike-WM in Mont Sainte-Anne – Mathias Flückiger aus Leimiswil wird auf seiner Lieblingsstrecke in Mont Sainte-Anne in Kanada Vize-Weltmeister im Mountainbiken. Obwohl es der grösste Elite-Triumph des 30-Jährigen ist, hadert er wegen des verpassten WM-Titels. Ein Vorderrad-Defekt in der vierten der sieben Runden verhinderte den ganz grossen Triumph.
Radsport · «Ich wollte Weltmeister werden», meinte Mathias Flückiger aus Leimiswil mit einiger zeitlicher Distanz zu seinem bisher grössten Erfolg an Titelkämpfen der Elite immer noch leicht enttäuscht. Was erst etwas kurios tönen mag, ist beim genaueren Hinschauen völlig erklärbar. Der am 27. September 1988 geborene «Highlander» aus Ochlenberg, der jetzt in Leimiswil wohnt, blickt auf die beste Saison seiner Karriere zurück. Bis zur Saison 2019 standen in Flückigers Weltcupbilanz vier Top-3-Podestplätze auf der Cross-Country-Strecke (darunter der allererste Weltcup-Sieg in Kanada 2018) zu Buche. In der Traumsaison 2019 schaffte «Math» nun den Sprung an die absolute Weltspitze. Mit dem Sieg in Albstadt in Deutschland, dem 3. Rang in Nové Mesto in Tschechien, dem 2. Rang in Vallnord in Andorra, dem 2. Rang in Val di Sole in Italien und dem 3. Rang beim Heimrennen in Lenzerheide schaffte er in nur einer Saison mehr Weltcup-Top-3-Klassierungen als in seiner gesamten langjährigen Elitekarriere zuvor. Ausserdem war es Mathias Flückiger, der bei der WM-Hauptprobe vor einem Jahr auf der Strecke im kanadischen Mont Sainte-Anne in der Provinz Québec das Rennen dominierte und seinen ersten Weltcupsieg feierte. Und dann noch dies: Der absolute Topmountainbiker der Gegenwart, Mathieu van der Poel aus Holland, verzichtete im Hinblick auf die Strassen-WM auf einen Start an den Welttitelkämpfen der Biker in Kanada. Werden all diese Tatsachen beachtet, ist die Reaktion des ehrgeizigen Highlanders nachvollziehbar. «Meine Beine und mein Kopf waren bereit. Es hätte Gold werden können», sagte Flückiger.
Vorerst alles im Lot
Fast 100 Biker starteten am Samstag auf jener Strecke, auf welcher «Math» Flückiger 2010 U23-Weltmeister wurde, zum WM-Rennen über sieben Runden. Wie gewohnt liess es der 30-Jährige auf seiner absoluten Lieblingsstrecke ruhig angehen. Nach zwei Kilometern lag er an der elften Stelle. Doch schon bei der ersten Zieldurchfahrt nach 5,1 km lag Flückiger an achter Stelle – mit nur zwei Sekunden Rückstand auf den Leader. Nach zwei Runden war es die sechste Position mit zehn Sekunden Rückstand. In der dritten Runde «explodierte» der Leimiswiler, der als 9-Jähriger in Farnern sein erstes Rennen bestritt, förmlich. Er katapultierte sich an die zweite Stelle an die Fersen von Teamkollege und Kronfavorit Nino Schurter aus Chur. In der heftigen Abfahrt über etliche Steine wählte «Math» die schnellere aber risikoreichere Linie – und war deutlich schneller als Schurter, der auf der sicheren Linie fuhr. Bei der dritten Zielpassage lag das Duo Schurter/Flückiger bereits elf Sekunden vor den nächsten Verfolgern.
Der verhängnisvolle Zwischenfall
Alles schien nach Plan zu laufen. Für kurze Zeit übernahm Flückiger sogar die Rennspitze, schnupperte an Gold. Dann kam zum vierten Mal die besagte Abfahrt mit den zwei Routenmöglichkeiten. «Math» wählte wieder die schnellere. Aber das Risiko zahlte sich nicht aus. «Dieser Zwischenfall hat mich den Titel gekostet.» Was war passiert? «Ich erwischte nach einem Fahrfehler einen Stein und bemerkte nach der Abfahrt, wie mein Vorderrad die Luft verliert», bedauerte Flückiger. Mit dem Platten kämpfte er sich in die Techzone. «Dort klappte nicht alles nach Mass, was weitere Zeit kostete.» Nach dem Radwechsel passierte der «Thömus»-Teamfahrer das Ziel nach vier Runden an siebter Stelle mit 36 Sekunden Rückstand auf Leader Schurter (33), der fortan Vollgas gab und so seinen achten WM-Titel feiern durfte. Dahinter zeigte Flückiger gros-sen Kampfgeist. «Ich brauchte kurz einen Moment, um wieder angreifen zu können. Zum Glück war die Verfolgergruppe und somit die Podestplätze nicht wirklich weit weg», erklärte Flückiger den Schlüsselmoment im Rennen. Und er erholte sich gut vom Schock. Bei der fünften Zielpassage lag Flückiger an siebter Position mit 40 Sekunden Rückstand auf Schurter. Aber die Distanz zur Silbermedaille betrug nur elf Sekunden. Und ideal war die Tatsache, dass im ersten Verfolger-Trio mit zwei Franzosen und einem Tschechen niemand Führungsarbeit übernehmen wollte. Von hinten hingegen rückte ein sehr starker Gerhard Kerschbaumer aus Italien auf. An seinem Hinterrad schloss Flückiger tatsächlich wieder zum Verfolger-Trio auf. Der Italiener – zu diesem Zeitpunkt schneller als Schurter unterwegs - war so stark, dass er sich sofort an die zweite Stelle setzte – mit Flückiger im Schlepptau. «Gerhard fuhr sehr stark. Ich konnte in dieser Phase nicht folgen», meinte Flückiger. Der ärgerliche Zwischenfall mit dem Vorderrad hatte halt doch etwas Kraft gekostet. Folglich zog Kerschbauer davon. Auch der Franzose Stéphane Tempier zog am Vizeschweizermeister vorbei. Die letzte Runde nahm «Math» mit 13 Sekunden Rückstand auf die Silbermedaille an vierter Stelle in Angriff. Auf einmal rückte sogar eine Medaille in die Ferne.
Ein toller und glücklicher Finish
Doch in der Schlussrunde griff Mathias Flückiger kurz vor der ersten harten Steigung des Rundkurses unwiderstehlich an und liess den Franzosen einfach stehen. Auf Bronzekurs liegend, passierte dann etwas Unvorhergesehenes. Genau an der gleichen Stelle wie Flückiger zuvor erlitt der Italiener Kerschbaumer, zu diesem Zeitpunkt und kurz vor Rennschluss 13 Sekunden vor Flückiger fahrend, einen Platten, kam das Bike stossend und ziemlich frustriert nur an fünfter Stelle ins Ziel. Silber holte sich damit Mathias Flückiger. «Es tut mir leid für Gerhard. Ihn kostete der Defekt eine Medaille, mich den Weltmeistertitel.» Damit hatte die Schweiz tatsächlich einen WM-Doppelsieg geschafft. Der Churer Schurter siegte 30 Sekunden vor dem Leimiswiler Flückiger.
Die Enttäuschung sitzt
Wo reiht Mathias Flückiger, der vor Ort durch seine Freundin und deren Eltern mental unterstützt wurde, seine zweite WM-Medaille seiner Karriere in seinem Palmarès ein? «Mein Weltcupsieg in Albstadt im Mai, wo ich die gesamte Weltspitze bezwingen konnte, ist wohl noch etwas höher einzustufen», sagte Flückiger. Die leise Enttäuschung über das knapp verpasste WM-Gold wirkte immer noch nach. Doch bald dürfte die Freude über diesen riesigen Triumph auch bei Mathias Flückiger einkehren. Und wer weiss, vielleicht wird der ehrgeizige Oberaargauer am 22. September so richtig Grund zur Freude haben. Mathias Flückiger startet dann nämlich auch noch an der Heim-Marathon-WM in Grächen. «Ich trete an, um eine Medaille zu gewinnen.» Ohne Defekt und in der aktuellen Topverfassung ist diese dem Vize-Weltmeister im Cross Country durchaus zuzutrauen. Und wenn die Freude dann immer noch nicht Einzug hält, dann verspricht dies einiges für das Olympische Mountainbikerennen im August 2020 in Tokio. Dann könn-
te die ganz grosse Stunde des peda-lenden «Molasse-Highlanders» aus Ochlenberg schlagen.
Auszug aus der Rangliste: Elite Männer (84 Klassierte): 1. Nino Schurter, Schweiz, 1:27:05; 2. Mathias Flückiger, Schweiz/Leimiswil, + 0:30 zurück; 3. Stephane Tempier, Frankreich, + 0:38; 4. Titouan Carod, Frankreich, + 0:56; 5. Gerhard Kerschbaumer, Italien, + 1:02; 9. Andri Frischknecht, Schweiz, + 2:00; 15. Florian Vogel, Schweiz, + 3:05; 19. Mathias Stirnemann, Schweiz, + 3:49; 23. Reto Indergand, Schweiz, + 4:17; 37. Thomas Litscher, Schweiz.
Von Stefan Leuenberger