• Frank Demenga mit der «Hans-Joggeli»-Puppe und Marlise Fischer mit jener von «Vreneli». · Bild: Hans Mathys

  • Sie gestalteten im Theater 49 die Einführung zur «Vreneli»-Uraufführung (von links): Autor Heinz Stalder, Puppenbauerin Delia Dahinden und Reto Lang. · Bild: Hans Mathys

02.11.2021
Langenthal

Starke, berührende «Vreneli»-Uraufführung

Bei der Uraufführung von «Vreneli» nach dem ältesten Schweizer Volks­lied «S’Vreneli ab em Guggisbärg» mit den Autoren Heinz Stalder und Reto Lang verdient sich das Theater überLand Bestnoten. Die Produktion mit Marlise Fischer, Andreas Beutler und Frank Demenga ist am 13. November auch in Huttwil zu sehen.

Langenthal · Das 2007 vom damaligen Langenthaler Theaterdirektor Reto Lang, von Marlise Fischer und Marianne Weber-Peyer gegründete Theater überLand ist seit 2009 in der ganzen Schweiz erfolgreich unterwegs. Mit der Stadt Langenthal besteht seit Ende 2008 eine Kooperations-Partnerschaft. Da­zu gehört, dass das Stadttheater Langenthal Uraufführungsort aller Produktionen ist. Das Theater überLand hat sich zum Ziel gesetzt, mit zeitgenössischen Schweizer Autoren Geschichten auf die Bühne zu bringen, die die Menschen unseres Landes berühren, anregen und unterhalten. In zwölf Jahren produzierte das Ensemble 16 Uraufführungen, bot 130 Vorstellungen und beglückte damit über 15 000 Zuschauer. Mit «Vreneli» gelingt dem Theater überLand erneut ein grosser Wurf.

Puppenbauerin, Autor, Regisseur
Die Einführung im Theater 49 – im Untergeschoss des Stadttheaters – lockte über hundert Interessierte an: Rekord. Heinz Stalder, Delia Dahinden und Reto Lang erzählen viel Wissenswertes zur «Vreneli»-Produktion. «Vreneli»-Autor ist der 82-jährige Schweizer Schriftsteller Heinz Stalder. Die vermutlich wahre Handlung basiert auf dem Lied «S‘Vreneli ab em Guggisbärg», dem ältesten bekannten Schweizer Volkslied – erstmals erwähnt 1741. Die bedrückende, tragische Geschichte soll sich zwischen 1660 und 1670 zugetragen haben. Die Figuren haben eine gemeinsame verschwiegene Vergangenheit. Erst die Liebe zwischen Vreneli und Hans-Joggeli bringt das Verborgene ans Licht. «Vreneli wäre eigentlich der Grundstoff für eine Oper», sagt Reto Lang, der von Juli 2008 bis Oktober 2020 Leiter des Stadttheaters Langenthal war. Er ist für die theatralische Umsetzung von «Vreneli» zuständig und hat als Mitautor die Version von Heinz Stalder noch ergänzt.
«Der Lockdown kam, als ich den Auftrag erhalten hatte», blickt die 62-jährige Puppenbauerin Delia Dahinden bei der «Vreneli»-Einführung zurück. Schwer sind sie, die vier Puppen mit den äusserst aussagekräftigen Gesichtern, die sie mit viel Feingefühl erschaffen hat. So sind bei den drei Akteuren, die diese auf der Bühne vor sich tragen und bewegen, Kondition und Kraft erforderlich. «Eine gute Geschichte erzählen», antwortet Heinz Stalder auf die Frage, was denn eigentlich der Kern des Stücks sei – und überreicht Reto Lang einen Talisman.

Viel Applaus bei Reto Langs Abschied
Nach der Einführung disloziert das Publikum vom Theater 49 in den bereits gut besetzten Theatersaal und auf die Galerie. Auf der Bühne begrüsst der neue Theaterleiter Ernst Jäggli das Publikum: «Für mich gibt es heute mehrere besondere Momente», sagt er. «Zum ersten Mal darf ich euch vor fast vollen Rängen begrüssen», beginnt er, erwähnt den speziellen Saisonstart mit der «Vreneli»-Uraufführung – diese musste wegen Corona zweimal verschoben werden – und dankt seinem Vorgänger Reto Lang, der das Stadttheater Langenthal zwölf Jahre lang leidenschaftlich geleitet habe.
Das Publikum quittiert dieses Lob an Neu-Rentner Reto Lang – vom 1. November 2020 bis Ende März 2021 noch auf Mandatsbasis tätig – mit grossem Applaus. «Er ist hinter der Bühne und hört mit», so Jäggli, der signalisiert, dass der abgetretene Theaterleiter als «Vreneli»-Regisseur so unmittelbar vor der Uraufführung halt hinter der Kulisse gefragt sei. «Vorhang auf für die neue Spielzeit – und viel Vergnügen», ruft Ernst Jäggli dem wegen der Zertifikatspflicht unmaskierten Publikum zu.

Vreneli mit «Miesch am Rügge?»
Eindrücklich, wie die 68-jährige Schauspielerin Marlise Fischer (Leiterin Theater überLand), der 58-jährige Andreas Beutler und der 63-jährige Frank Demenga mit den gewichtigen Puppen, hinter denen sie sich «verstecken», umzugehen wissen. Sie hantieren mit vier Puppen und übernehmen insgesamt zwölf Rollen. Auch dabei ist ein Polizist und ein Pfarrer. Marlise Fischer tritt nicht nur mit der Vreneli-Puppe in Erscheinung, sondern auch als Erzählerin. Die Hauptfiguren sind Vreneli, Hans-Joggeli sowie dessen Nebenbuhler Peter. Vreneli und der aus ärmeren Verhältnissen stammende Hans-Joggeli wissen, dass sie füreinander bestimmt sind. Hans-Joggelis reicher Kontrahent Peter will dies jedoch nicht kampflos hinnehmen. In den Augen von Vreneli ist Peter aber ein «Plagöri».
Um 20.40 Uhr ist erstmals die schlicht-feierliche Melodie des Guggisberg-Liedes zu hören. Die unüblich in Moll geschriebene Volksweise und die eindrückliche Kulisse – ein in Nebel gehüllter Wald – verfehlen ihre melancholische Wirkung nicht. Für ein Raunen im Publikum sorgt der Pfarrer, der beim Anblick von Vreneli und Hans-Joggeli prompt als Moralapostel in Erscheinung tritt: «Was macht ihr zwei so allein im Wald?» Er fordert Vreneli auf, sich umzudrehen. Er wolle wissen, ob Vreneli «Miesch am Rügge» habe.

Rückkehr des Pausensignets
Regelmässige Theaterbesucher freuen sich während der Pause. Sie entdecken rechts der Bühne den legendären Hinweis «20 Minuten Pause». Diese Leuchtschrift hing früher auf der linken Bühnenseite. Regelmässige Besucher des 1916 erbauten Theaters hatten diesen letzthin vermisst und fragten sich, ob dieser Pausenhinweis beim Verkauf alter Requisiten anlässlich der Stadttheater-Renovation 2016/17 verkauft worden sei. «Nein», verrät Bühnentechniker Volker Dübener in der Pause auf Anfrage. Der langjährige Bühnenmeister Hans Gerhard habe sich nämlich persönlich dafür eingesetzt, dass dieses geschichtsträchtige Requisit dem Theater erhalten bleibe.

Vreneli stirbt vor Gram
Das Stück «Vreneli» nimmt seinen (traurigen) Lauf. Als sich Hans-Joggeli und Peter begegnen, gehen sie sich an die Gurgel. «Plagöri» Peter fällt zu Boden, bleibt liegen und regt sich nicht mehr. Hans-Joggeli ist sich sicher, dass er Peter soeben umgebracht hat. Er flieht und tritt – damals keine Seltenheit – in fremde Kriegsdienste ein. Schauspielerin Marlise Fischer erzählt: «Vreneli wurde bringer und bringer, wollte nur noch schlafen.» Vreneli und Hans-Joggeli sehen sich nie mehr. Vreneli vermisst Hans-Joggeli sehr und stirbt vor Gram. Zu spät erfährt Hans-Joggeli fern der Heimat, dass sein tot geglaubter Rivale Peter das Handgemenge mit ihm überlebt hatte. Der Kreis schliesst sich – gemäss «Guggisbärglied». In der ersten Strophe heisst es: «S’isch äben e Mönsch uf Ärde – Simelibärg. Und s’Vreneli ab em Guggisbärg und s’Simes Hans-Joggeli änet em Bärg. S’isch äben e Mönsch uf Ärde, dass i möchte bi-ni-ihm sy.» Die 14. und zugleich letzte Strophe des Liedes verkündet das Ende: «S’Mühlrad isch broche, Simelibärg. Und s’Vreneli ab em Guggisbärg und Simes Hans-Joggeli ännet em Bärg. S’Mühlrad isch broche, die Liebi het es Änd.»
Das Publikum ist aufgewühlt vom Geschehen, aber angetan von der «Vreneli»-Produktion. Das Theater überLand wird für die eindrückliche, starke Darbietung mit stehenden Ovationen belohnt, das Ensemble mit Rosen – überreicht von Marianne Hauser Haupt. Sie war 16 Jahre Kulturbeauftragte der Stadt Langenthal und steht als stellvertretende Leiterin mit Marlise Fischer (Leitung) sowie Reto Lang (künstlerische Leitung) an der Spitze des Theaters überLand.

Gut zu wissen
Das Theater überLand geht mit «Vreneli» auf Tournee. Die je um 20 Uhr beginnenden Vorstellungen: Huttwil, Hotel Restaurant Kleiner Prinz (13. November); Niederbipp, Räberhus (18. November); Grasswil, Mehrzweckhalle (2. Dezember); Herzogenbuchsee, Hotel Restaurant Sonne (10. Dezember). Die Auftritte 2022: 12. und 13. März im Bernhard-Theater Zürich, am 22., 24., 29. und 30. April sowie am 1. Mai im Puppentheater Bern.

Von Hans Mathys