• «Wir sind der grösste Industriekanton, der sehr viele Arbeitsplätze anbietet. Deshalb denke ich, dass wir Berner hin und wieder ein wenig selbstbewusster auftreten könnten», findet Stefan Costa. · Bilder: Thomas Peter

  • «Ich bin ich am Morgen jeweils nicht anders aufgestanden als vor meiner Wahl zum Grossratspräsidenten.»

  • «Es war zweifellos ein sehr spezielles Jahr. Ich erinnere mich noch, dass ich am Tag meiner Wahl im Juni 2020 besonders angespannt und nervös war.»

24.06.2021
Oberaargau

Stefan Costa: «Ich bin stolz auf mein ganz spezielles Jahr»

Grossratspräsidenten kommen und gehen, aber er wird in die Geschichte eingehen, der Langenthaler Stefan Costa. Er war während eines sehr speziellen Jahres höchster Berner. Vieles, wenn nicht sogar alles war anders und hat den 54-jährigen FDP-Grossrat gefordert und herausgefordert. Doch Stefan Costa bedauert es nicht, dass ausgerechnet er kein «normales» Jahr als Grossratspräsident absolvieren konnte. «Ganz und gar nicht, denn es war eben doch mein Jahr, mein spezielles Jahr», sagt er im Monats-Interview mit dem «Unter-Emmentaler».

Walter Ryser im Gespräch mit Stefan Costa, FDP-Grossrat aus Langenthal und abgetretener Grossratspräsident

Stefan Costa, ein ganzes Jahr lang waren Sie höchster Berner (Grossratspräsident). Wie hat sich das angefühlt?
Stefan Costa: Es war zweifellos ein sehr spezielles Jahr. Ich erinnere mich noch, dass ich am Tag meiner Wahl im Juni 2020 besonders angespannt und nervös war. Zugleich freute ich mich aber auch, nicht zuletzt nach der Wahl, als nicht weniger als 156 Grossrätinnen und Grossräte meine Wahl bestätigten (bei nur einer leeren Stimme, Anmerkung der Redaktion). Gleichzeitig spürte ich in diesem Moment auch eine gewisse Erwartungshaltung des Parlamentes mir gegenüber.

Eine solche Wahl erlebt man als Politiker nur einmal, entsprechend dürfte das bei Ihnen auch etwas ausgelöst haben?
Zweifellos, vor allem die Grossratspräsidentenfeier in Langenthal war für mich sehr emotional. An diesem
Anlass habe ich einige schöne, unvergessliche Stunden verbracht, mit vielen angenehmen Begegnungen. Aber glauben Sie mir, in den folgenden Wochen bin ich am Morgen jeweils nicht anders aufgestanden als vor meiner Wahl zum Grossratspräsidenten (lacht)?

Wenn Sie auf das Präsidial-Jahr schauen, was bleibt in den Erinnerungen zurück?
Aufgrund der Corona-Pandemie war die Leitungstätigkeit im Rat sicher anders als in einem normalen Jahr. Die Situation erforderte, dass wir stets in Szenarien denken mussten. Können wir die Session normal durchführen, müssen wir das Programm anpassen oder kürzen? Solche Fragen beschäftigten uns vor einer Grossrats-Session. Die Ratsplanung und die Priorisierung der Geschäfte war anders als sonst.

Sie als Ratspräsident und die Mitglieder des Grossen Rates haben diese Herausforderung aber mit Bravour gemeistert.
In der Tat, ich bin wirklich dankbar dafür, dass unser Kantonsparlament die ganze Zeit im Normalbetrieb tagen und die Demokratie aufrechterhalten konnte. Das war für mich wichtig, das war für uns wichtig und ich denke, es war auch für die Bevölkerung wichtig. Denn ich bin der Meinung, dass es äusserst wichtig ist, dass ein Parlament auch in Krisenzeiten tagt, die Regierung konstruktiv – aber auch selbstbewusst – begleitet, sich einbringt und sich sämtliche Unterlagen und Geschäfte unterbreiten lässt.

Was hat Sie in diesem Jahr am meisten beeindruckt, was hat Ihnen gefallen oder was hat Sie genervt?
Ich habe festgestellt, dass ich mit Ruhe und einer gewissen Gelassenheit als Ratspräsident den gesamten Rat steuern kann, weniger Hektik und Unruhe entsteht und alles in einem geordneten Rahmen abläuft. Das hat mich sehr beeindruckt. Ich war mir zuvor nicht bewusst, welch grossen Einfluss der Ratspräsident auf das Geschehen im Rat während einer Session hat. Bedauert habe ich aber, dass ich in meinem Präsidial-Jahr den Rat und den Kanton Bern gegen aussen nicht wie gewünscht vertreten konnte.

Wie würden Sie als Sitzungsleiter die Disziplin der Grossratsmitglieder beschreiben?
Auch hier machten sich die speziellen Umstände bemerkbar, konnte doch keine Session im Rathaus stattfinden, was Auswirkungen auf den Ratsbetrieb hatte. Weil im Rathaus die Platzverhältnisse relativ eng sind, entsteht rasch eine gewisse Unruhe. Zudem sind die Wege im Sessionssaal kurz, was die Bereitschaft der Räte, sich zu Wort zu melden, erhöht. In der BEA-Halle, wo die Sessionen während der Corona-Pandemie durchgeführt wurden, war alles weitläufiger und die Räte sassen weiter auseinander, was spontane Diskussionen unter den Mitgliedern des Grossen Rates erschwerte. Wer zudem ans Rednerpult wollte, musste einen weiten Weg absolvieren und gewisse Corona-Schutzmassnahmen einhalten, was dazu führte, dass die Anzahl Reden im Vergleich zum Rathaus deutlich geringer ausfielen. Man könnte also sagen, dass mir der neue Tagungsort für die Leitung der Session entgegenkam. Allerdings ging in der BEA-Halle diesbezüglich auch eine gewisse Spontaneität verloren.

Sie waren in einem speziellen Jahr Ratspräsident, während einer Pandemie. Da gibt es keine Vergleichsmöglichkeiten und man kann sich beim Vorgänger keine Ratschläge holen. Wie gingen Sie mit dieser speziellen Situation um?
Ja, bei der Ratsführung befand ich mich teilweise wie in einem Blindflug. In dieser Situation war ich aber froh, dass ich über keine Vergleichsmöglichkeiten verfügte, so fühlte ich mich auch weniger unter Druck.

Haben Sie manchmal gedacht, weshalb muss gerade ich in dieser aussergewöhnlichen Zeit mein Amtsjahr als Grossratspräsident absolvieren?
Vielleicht erstaunt es Sie, aber ich würde mich ohne zu zögern wieder für dieses Jahr entscheiden, stünde ich vor der Wahl. Denn es war eben doch mein Jahr, mein spezielles Jahr. Wenn ich heute auf mein Amtsjahr zurückblicke, habe ich zwei Seelen in meiner Brust. Ich gehe ganz sicher als der Grossratspräsident in die Geschichte ein, welcher am wenigsten Anlässe besucht hat, fast gar nie um Ruhe bitten musste, den Räten beinahe sämtliche Apéros vorenthielt, in zwei Ersatzlokalen, aber niemals im ehrwürdigen Rathaus den Rat leitete. Ein ganz spezielles Amtsjahr also und zudem auch ein äusserst günstiges, was die Präsidialspesen betrifft (lacht herzhaft) …

Ein Grossratspräsident praktisch im Ruhestand also?
Beinahe, denn ich war wirklich fast ein reiner Parlamentspräsident. Speziell war dabei die hervorragende Zusammenarbeit im Präsidium mit den beiden Vize-Präsidenten Hervé Gullotti (SP, Tramelan) und Martin Schlup (SVP Schüpberg). Wir drei haben uns menschlich sehr gut verstanden, was sich auf die Ratsarbeit positiv ausgewirkt hatte. Ich finde das System des Kantons Bern mit zwei Vizepräsidenten sehr gut. So kann man vor der Wahl zum Grossratspräsidenten quasi zwei Lehrjahre absolvieren.

Was hat Sie diese Pandemie-Zeit als Politiker und Mensch gelehrt?
Dass das Leben nicht immer hochtourig verlaufen muss. Mir wurde auch bewusst, dass man als Politiker noch vermehrt in Varianten denken muss. Auch habe ich die Vor- und Nachteile von Videokonferenzen kennengelernt und gemerkt, wie wertvoll der Augenkontakt mit dem Gegenüber ist und dass man bei Videokonferenzen die Körpersprache der Gesprächsteilnehmer kaum mitbekommt. Es sind Signale, die Menschen aussenden, die einiges aussagen.

Ein Jahr lang durften Sie sich nicht zu politischen Geschäften äussern – wie schwer fiel Ihnen dies?
Ich bin selber erstaunt, wie leicht ich mich an das «Sprachverbot» gewöhnte. Zudem wusste ich ja bereits vor meiner Wahl, dass ich nun während eines Jahres quasi ein politischer Eunuch sein werde. Weil ich mich als Ratspräsident vor allem mit dem technischen Ablauf der Session befassen musste, war es mir gar nicht möglich, mich auch noch ausführlich mit den Inhalten der einzelnen Geschäfte zu befassen.

Wir bieten Ihnen hier die Möglichkeit: Zu welchem Thema hätten Sie gerne etwas gesagt?
Auf diese Möglichkeit verzichte ich gerne, weil ich nach meinem Präsidial-Jahr nicht einfach ein Geschäft herauspicken und dazu meine Meinung kundtun möchte.

Nun sind Sie zurück im normalen politischen Grossrats-Alltag. Was beschäftigt Sie als FDP-Grossrat aktuell?
Mich und meine Partei beschäftigen generell alle finanzpolitischen Fragen, aber auch raumplanerische Themen interessieren mich ganz besonders. Für mich waren zudem seit jeher die staatsnahen Betriebe ein wichtiges Thema. Hier vertrete ich eine sehr liberale Haltung und frage mich, weshalb braucht der Kanton Bern Mehrheitsbeteiligungen an einer BKW, einer Bahn wie die BLS oder eine mo­nopolistische Gebäudeversicherung?

Im kantonalen Vergleich zählt der Kanton Bern in vielen Bereichen nicht zur Spitzengruppe. Wo besteht Ihrer Meinung nach der grösste Handlungsbedarf in unserem Kanton?
Hier greifen wir ein beliebtes Medienthema auf. Schauen Sie, es gibt einfach strukturelle Gründe, weshalb der Kanton Bern nicht gleich gut dasteht wie andere Kantone. Diese Gründe lassen sich weder wegdiskutieren noch wegsparen, weil wir über eine ganz andere Infrastruktur verfügen als andere Kantone. Daneben gibt es aber auch Bereiche, in denen der Kanton Bern absolute Spitze ist, so sind wir beispielsweise der grösste Industriekanton, der sehr viele Arbeitsplätze anbietet. Deshalb denke ich, dass wir Berner hin und wieder ein wenig selbstbewusster auftreten könnten.

Nächstes Jahr stehen Wahlen an. Treten Sie zur Wiederwahl als Grossrat an?
Ja, das werde ich tun, weil ich nach wie vor grosse Freude an der politischen Arbeit habe und ich mich gerne weiter für unsere Region einsetzen möchte.

Vorausgesetzt, Sie werden wieder gewählt, welche Ziele haben Sie in der folgenden Legislatur im Visier?
Mein Fokus richtet sich zweifellos auf regionale Projekte. Auch bin ich der Meinung, dass es möglich sein sollte, dass die Berner Bevölkerung von einer geringeren Steuerbelastung profitiert.

Sie sind auch Geschäftsführer der Region Oberaargau, einer Region, auf die ebenfalls viele Herausforderungen warten. Wo setzen Sie hier Schwerpunkte?
Eine Hauptaufgabe wird sein, dass es uns gelingt, die Berechtigung für den Agglomerations-Perimeter Langenthal aufrecht zu erhalten, damit wir auch künftig bei der Realisierung von Projekten von Bundesgeldern profitieren können. Gleichzeitig muss es uns auch gelingen, gewisse Entwicklungen zu ermöglichen, beispielsweise beim Bahnhof-Areal in Her­zo­genbuchsee, das meiner Meinung nach über ein enormes Entwicklungspotenzial verfügt, wie auch das In­dustriegebiet Stockmatte in Niederbipp. Zugleich gilt es, die natürlichen Gegebenheiten dieser Region im Auge zu behalten, beispielsweise müssen wir darauf achten, dass die Siedlungstrennlinien zwischen Langenthal und den umliegenden Gemeinden bestehen bleiben und kein Siedlungsbrei entsteht wie in anderen Gegenden der Schweiz, wo man bei der Durchfahrt oftmals gar nicht mehr weiss, in welcher Ortschaft man sich befindet.

Gerade in jüngster Zeit war ein leichter Graben im Oberaargau spürbar, haben sich doch diverse Gemeinden gegen die Fokussierung auf die Zentrumsstadt Langenthal aufgelehnt. Während das Oberland und das Emmental von einer starken Gemeinschaft profitieren, fehlt dieser Zusammenhalt im Oberaargau weitgehend. Warum ist das so und wie kann der Zusammenhalt in unserer Region gestärkt werden?
Diesbezüglich muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass der Verwaltungskreis Oberaargau, so wie wir ihn heute kennen, erst seit elf Jahren besteht. Es braucht einfach eine gewisse Zeit, bis das Gebilde Oberaargau auch in den Köpfen der Leute fest verankert ist. Hier versuche ich beispielsweise als Co-Präsident des Vereins Identität Oberaargau einen Beitrag für diesen Prozess zu leisten.

2016 wollten Sie Stadtpräsident von Langenthal werden, mussten jedoch Ihrem damaligen Konkurrenten Reto Müller (SP) den Vortritt lassen. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf diesen Abschnitt Ihrer politischen und beruflichen Karriere zurück?
Selbstverständlich hätte ich damals die Wahl gerne gewonnen. Ich habe noch heute das Gefühl, dass ich
damals alles gemacht habe, was möglich war. So gesehen schaue ich gelassen auf diesen Abschnitt zurück. Das Thema ist für mich schon lange abgehakt.

Daneben gibt es auch noch ein privates Leben. Was steht hier noch auf der Wunschliste?
Es gibt tatsächlich noch ein paar Wünsche, die ich mir gerne erfüllen würde. So möchte ich noch einige Orte besichtigen und reisen, sobald dies wieder unbeschwert möglich ist. Konkrete Ziele oder Destinationen habe ich dabei aber noch nicht im Visier.

Die Corona-Pandemie geht dem Ende entgegen. Auf was freuen Sie sich ganz besonders in der bevorstehenden Post-Corona-Zeit?
Ich freue mich ganz besonders auf unkomplizierte Treffen mit Freunden, auf die nächste Langenthaler Fasnacht, auf einen Besuch in der Sumpfhühner-Bar am «glatte märit», auf einen SCL-Match – ich freue mich einfach auf das pralle Leben.