Strom ist nicht gleich Strom
Im Kanton Bern beliefern viele Gemeinden selbst ihre Haushaltungen mit Elektrizität. Wie alle Schweizer Elektrizitätsversorger sind auch die Gemeindebetriebe verpflichtet, jährlich Bericht über die Stromherkunft abzulegen. Der «Unter-Emmentaler» hat sich aufgemacht, die Quellen der Elektrizität miteinander zu vergleichen. In den nächsten Wochen und Monaten werden die Herkunftsnachweise für das laufende Jahr gekauft.
Oberaargau · Wer bestimmt, woher der Strom aus meiner Steckdose kommen soll? Im Kanton Bern ist in jeder Gemeinde ein Netzbetreiber und Energieversorger für die Beschaffung des Stroms zuständig. In den grösseren Gemeinden der Region sind diese in selbstständige Aktiengesellschaften ausgelagert: In Huttwil sind es die Industriellen Betriebe Huttwil AG, in Langenthal die Industriellen Betriebe Langenthal AG und in Sumiswald die Energie Sumiswald AG. Alle drei Aktiengesellschaften sind jeweils im Besitz der Gemeinden. Andernorts wird die Energieversorgung durch die onyx Energie AG, einem Unternehmen der BKW, sichergestellt, während in fünf Gemeinden der Region die kommunalen Gemeindebetriebe die Haushaltungen, Gewerbebetriebe und Industrie mit Strom beliefern. Was alle Stromversorger eint, ist die Pflicht, jährlich offenzulegen, aus welchen Quellen der verkaufte Strom stammt.
Produktion und Verbrauch ausgleichen
Doch Herkunft ist nicht gleich Herkunft, denn Strom kann, anders als Wasser oder andere Güter, nicht gelagert werden. Für die Privatkunden speisen alle Stromproduzenten in das gleiche Netz ein und alle Verbraucher beziehen aus dem gleichen Netz Strom. Stellt man sich das Stromnetz stark vereinfacht wie ein Wasserreservoir vor, so sind Dutzende von Zuleitungen, sprich Kraftwerke, die unterschiedliche Mengen einspeisen. Ziehen Wolken auf, so bringen die Zuleitungen der Photovoltaikanlagen weniger, während Flusskraftwerke oder die vier Schweizer Atomkraftwerke sogenannte «Bandenergie» liefern und ihr Zufluss ins Reservoir konstant bleibt. Vom Reservoir fliessen Leitungen weg in die Haushalte, die Industrie und zu anderen Verbraucher. Die Kunst der Regulation ist es, dass der «Pegel» ständig gleichhoch bleibt – ansonsten droht ein Ausfall des Netzes, denn Strom kann nicht gespeichert werden. Das heisst, die Menge produzierten Stroms (Zufluss) und des Verbrauchs (Abfluss) muss sich die Waage halten.
Herkunft von Stromfluss losgelöst
Speist nun ein Kraftwerk ein, zum Beispiel ein Flusskraftwerk entlang der Aare und bezieht gleichzeitig die Verbraucherin Müller Strom, so ist es nicht möglich, zu garantieren, dass Verbraucherin Müller aus genau dem Flusskraftwerk Energie bekommt. Deshalb werden seit 2006 pro Kilowattstunde Strom sogenannte «Herkunftsnachweise» (HKN) ausgestellt. Die HKN sind eigenständige Zertifikate und vom physischen Stromfluss losgelöst. Der HKN ist eine rein buchhalterische Grösse, die vom Stromlieferanten, beispielsweise einer Elektri-
zitätsversorgung, für seine Kundinnen und Kunden eingekauft und entwertet wird.
Mit der Entwertung eines HKN für eine Kilowattstunde Strom aus dem Flusskraftwerk kann der Stromlieferant der Verbraucherin Müller bestätigen, dass sie eine Kilowattstunde Strom aus dem Flusskraftwerk an der Aare bezogen hat.
Einzelangebot versus Produktepalette
Ein kleiner Prozentsatz der gelieferten Elektrizität ist bei allen Versorgern in der Schweiz fix, der sogenannte «geförderte Strom». 2020 waren dies 7 Prozent der HKN. Pro Kilowattstunde verkauftem Strom wird ein sogenannter Netzzuschlag von derzeit 2,3 Rappen verrechnet. Mit diesem Geld wird die erneuerbare Stromproduktion aus Wasserkraft, Sonnenenergie, Windenergie und Biomasse gefördert. Über die restlichen 93 Prozent des gelieferten Stroms konnten 2020 die Elektrizitätsversorger autonom bestimmen. Sie können ihren Kundinnen und Kunden eine Produktepalette mit unterschiedlichen HKN bieten oder ein einziges Energieprodukt verkaufen. In Huttwil sind die Industriellen Betriebe Huttwil AG (IBHAG) für die Energieversorgung zuständig. Die IBHAG bieten ein einziges Stromprodukt an, das 2020 zu knapp 93 Prozent aus Wasserkraft stammte. Ein kleiner Teil (0,2 Prozent) stammte aus Sonnenenergie, die restlichen 7 Prozent des gelieferten Stroms waren 2020 «geförderter Strom». Jeweils nach dem Lieferjahr beschliesst der Verwaltungsrat, welche HKN für das zurückliegende Jahr gekauft werden. Im ersten Quartal 2022 werden die IBHAG die HKN für das Lieferjahr 2021 beschaffen – erst dann kann gesagt werden, woher der Huttwiler Strom genau kam.
IBL versorgt Ursenbach und Melchnau
Ähnlich funktioniert es auch bei den Industriellen Betrieben Langenthal AG (IBL) und den Versorgungswerken Melchnau und Ursenbach. Die Versorgungswerke der beiden Gemeinden werden von der IBL im Auftrag der Gemeinden geführt. Im Unterschied zu den Huttwilerinnen und Huttwilern können die Verbraucherinnen und Verbraucher aus Langenthal, Melchnau und Ursenbach aus mehreren Produkten auswählen: Graustrom, Blaustrom und Strom aus Sonnenenergie (letzteres in Langenthal: «Sonnenklar»; in Ursenbach: «Ursenbacher Naturstrom»; in Melchnau: «Melchnauer Sonne»). «Unsere Kundinnen und Kunden bestellen ein Produkt und jeweils Ende Jahr beschaffen wir, je nach Verbrauch, die nötigen Herkunftsnachweise», erklärt Florian Oehen, Leiter Energiewirtschaft der IBL. Hat sich eine Verbraucherin in Melchnau für Sonnenenergie entschieden, so kauft die IBL die entsprechende Menge an HKN von Melchnauer Photovoltaikanlagen. «Zurzeit wird in Melchnau noch mehr Strom aus Sonnenenergie produziert, als verbraucht wird», weiss Oehen. Entsprechend werden die weiteren HKN etwa den Stromverbrauchern von Ursenbach zugeteilt, die Ursenbacher Naturstrom beziehen.
Weg vom günstigen Atomstrom
Die Haushalte der Gemeinde Madiswil werden unterschiedlich versorgt. In den Ortsteilen Kleindietwil, Leimiswil und Gutenburg ist die onyx Energie AG für die Versorgung verantwortlich, entsprechend können die Haushalte aus der Produktepalette des Unternehmens auswählen. Das Dorf Madiswil wird von den Gemeindebetrieben versorgt. Jeweils im ersten Quartal des Folgejahrs beschliesst die zuständige Kommission, welche HKN eingekauft werden. In den letzten Jahren entschied sich Madiswil, zusätzlich zum geförderten Strom ausschliesslich auf die günstigste Stromquelle Atomstrom zu setzen. Mit Blick in die Region zeigt sich, dass Madiswil die einzige Gemeinde ist, die nur auf die Kernenergie setzt. Wie Markus Bracher, Gemeinderat und Präsident der zuständigen Kommission Gemeindebetriebe gegenüber dem «Unter-Emmentaler» erläutert, zeichnen sich in Zukunft Änderungen in der Beschaffung ab: «Nach einer ersten Diskussion soll in Zukunft die Mehrheit des Stroms aus erneuerbaren Quellen stammen. Der definitive Entscheid wird bis im Februar 2022 erwartet.» Die Kursänderung erfolgt unter anderem auch deshalb, weil sich die Behörden als Legislaturziel setzten, in Zukunft selbst Strom auf den öffentlichen Dächern zu produzieren.
Diesem Ziel kommt die Gemeinde Schritt für Schritt näher. Auf dem sanierten Dach des ehemaligen Primarschulhauses Homatt in Kleindietwil wird bereits Strom produziert, während bei der derzeit laufenden Sanierung des Werkhofs ebenfalls eine Photovoltaikanlage installiert wird. Allerdings ist Strom aus nachhaltiger Herkunft auch teurer. «Für Madiswil wird die Umstellung Mehrkosten von ein bis zwei Rappen pro kWh ausmachen», rechnet Bracher vor, «gleichzeitig steigen die Einkaufspreise generell, unabhängig welche HKN eingekauft werden.»
Von Patrik Baumann