Träger des Berner Literaturpreises 2019 zu Gast
Das Amt für Kultur des Kantons Bern und die kantonale deutschsprachige Literaturkommission verleihen jedes Jahr literarische Auszeichnungen für ausgewählte, herausragende neue Werke, Texte, Produkte oder Programme von professionellen Berner Literaturschaffenden. Auf Empfehlung der Literaturkommission wurden fürs laufende Lesejahr 2018/19 sieben Autorinnen und Autoren ausgezeichnet. Der Preis ist mit 9000 Franken dotiert. Aktuell sind nun die Autoren und Autorinnen auf der Lesereise «Literatour» durch die Regionen des Kantons. Die Anlässe werden von einem Mitglied der deutschsprachigen Literaturkommission des Kantons moderiert. Vier preisgekrönte Autoren waren in der Regionalbibliothek Langenthal zu Gast.
Bibliotheken veranstalten regelmässig Events, um neue Literatur bekannt zu machen und schaffen neue Werke an, um so einem breiten Publikum Lesestoff günstig zur Verfügung stellen zu können. Eine zentrale und wichtige Aufgabe, denn Lesen bildet und ist eine unabdingbare Grundkompetenz, die man beherrschen sollte. Die Frage, ob im Zeitalter von Social Media überhaupt noch jemand die Neuerscheinungen lese, taucht immer wieder auf. Um so mehr sind Bibliotheks-Anlässe wichtig. Für Kinder im Zeitalter des Smartphones, um die Lesekompetenz zu fördern, die Lust aufs Lesen zu fördern und um vielleicht zukünftige Kulturschaffende heranzuziehen. Für Erwachsene, um ein breiteres Publikum zu erreichen und zu informieren. Lese-Events sollen Appetit auf Neues, Unbekanntes entfachen und Zugang zu grossartiger Literatur schaffen.
Die vom Amt für Kultur organisierte Lesetour «Literatour» in Langenthal war ein genussreicher Anlass für Literatur-Interessierte. Mit Ariane von Graffenried und Martin Bieri, Franz Dodel und Jürg Halter durfte die Leiterin der Regionalbibliothek, Monika Hirsbrunner, vier Preisträger sowie die Moderatorin Daniela Dill, Mitglied der Literaturkommission des Kantons Bern, begrüssen.
«Nicht bei Trost. Capricci»
Autor Franz Dodel las aus seinem Band «Nicht bei Trost. Capricci». Er empfahl den Anwesenden, beim Zuhören abzuschweifen, die eigenen Gedanken kreisen zu lassen, in einen Dämmerzustand zu versinken und dann wieder zurückzukehren. 2002 begann er mit seinem Endlos-Poem, ursprünglich von der Machart der traditionellen japanischen Dichtkunst Haiku inspiriert. Haiku gilt als die kürzeste Gedichtform der Welt. Von dem Begriff distanziere er sich mittlerweile, weil er darauf angesprochen werde, es sei kein echtes Haiku, was er auch so sehe, da es ein «Endlos-Poem» sei. Es ist ein assoziatives Kettengedicht, ein «work-in-progress», anachronistisch, mit eigenem Erleben verknüpft und dem, was ihn gerade beschäftige.
Sein Werk ist wie die Bibel auf Dünndruckpapier gedruckt, im Internet wird es täglich fortgesetzt, und dies seit siebzehn Jahren, die Silben der Zeilen immer im Rhythmus 5,7,5,7. Ihn fasziniere, dass Wörter Bestand hätten, ohne an ein Gelingen gebunden zu sein. Inzwischen ist er bei rund 36 000 Zeilen angelangt. Die Moderatorin hat ausgerechnet, dass er in rund 6200 Tagen täglich rund sechs Zeilen schrieb. Franz Dodel betont, sein Werk setze sich jeden Tag wie von selbst fort, es sei ein Ritual.
Verleidet sei es ihm bisher noch nicht. Seine kunstvoll und endlos aneinandergereihten Zeilen sind schön zum Lesen, zum Verweilen. Die eigenen Gedanken schweifen wirklich ab, man kommt zurück und ist berührt.
Wenn man Jürg Halters Internetseite aufsucht, findet man Sätze wie: «Schreiben heisst ja nicht, permanent der Sprache zu misstrauen – und trotzdem fasziniert zu bleiben»: «Mein Hobby, Leute, die mich beim Leute beobachten beobachten, so lange zu beobachten, bis sie mich nicht mehr beobachten.» – «Würden wir die Stille überhaupt ertragen, wenn wir nur von den Dingen sprächen, von denen wir etwas verstehen?» Das macht neugierig auf einen Autor, der in seinem Werk «Erwachen im 21. Jahrhundert» das Empfinden seiner Generation wiedergibt. Der Protagonist des Romans, Kaspar, unternimmt den Versuch, sich mit der aktuellen Welt auseinanderzusetzen. Denn der Mensch könne ja nicht in jedem Augenblick an alles denken. Der Gedanke, dass aus den Beweggründen einer aktuellen Situation sich eine neue Bewegung entwickeln könnte, entsteht, und gleichzeitig liegt ein Schwerpunkt darauf, nach dem Gemeinsamen zu suchen und nicht nach dem Trennenden. Das Buch ist scharf analysierend, es ist poetisch und sehr mutig. Man bemerkt, dass es auf viel exakter, fleissiger Recher-chearbeit basiert, was dem Autor sehr wichtig ist. Das Buch ist alles, von wütend bis komisch. Es spricht zusammengefasst von der jetzigen Menschheit als «dem erfolgreichst gescheiterten Projekt aller Zeiten». Der dichte Roman fasziniert und ist grosse literarische Kunst.
Schreibauftrag der Stadt
Die beiden Literaturschaffenden Ariane von Graffenried und Martin Bieri lasen aus ihrem Theaterstück «Donkey der Schotte und das Pferd, das sich Rosi nannte». Das Theaterstück war ein Schreibauftrag der Stadt Bern, ein Märchen für Kinder ab sechs Jahren. Autorin und Autor haben sich entsprechend dem Auftrag den Roman «Don Quijote» des spanischen Schriftstellers Miguel Cervantes (1547 bis 1616) vorgenommen, einem Stück, das in den vergangenen Jahrhunderten unzählige Interpretationen erfahren hat. Der Roman Cervantes wird der Gattung der Ritterromane zugeordnet. Diese wurden im Spätmittelalter extrem gerne gelesen, zum Leidwesen der Gebildeten, die fanden, das «verneble die Gehirne der Leser». Die Beliebtheit dieser Art Romane zog aber grosse Mengen neuer Folgen nach sich, in welchen immer unwahrscheinlichere, exotischere Erlebnisse und Ereignisse erzählt wurden. So tritt in «Don Quijote» der Titelheld Cervantes einen sinnlosen Kampf gegen Windmühlen an, die er für Riesen hält, und erlebt andere unglaubliche Dinge.
Von Graffenried und Bieri haben sehr verspielt und extrem lustvoll den komplexen Stoff umgesetzt und sehr gekonnt auf die Neuzeit adaptiert. Daraus entstanden ist eine lustige, unterhaltsame, vergnügliche und lockere, abenteuerliche Geschichte, die anders als die literarische Vorlage, die Sicht der Tiere widerspiegelt. Da gibt es den belesenen, eigensinnigen Esel Donkey, die junge Rosinante, ein temperamentvolles Pferd. Dann ist da noch die Katze Dulcinea, Don Quijotes heimliche Liebe. Seit einigen Jahren also ziehen der edle Ritter Don Quijote und sein Freund Sancho Pansa schon durch die Welt – ihre engsten Begleiter, die Tiere, müssen mit, werden aber nicht um ihre Meinung gefragt. Das Stück ist originell, dicht und auch rebellisch. Aktuelle Themen wie Demenz, Migration, LGBT, Energiequellen kommen darin vor und wurden verständlich eingebaut. Die Protagonisten, die Tiere, handeln aus der Perspektive von Kindern und ein moralischer Zeigefinger wurde weggelassen. In enger, intensiver Zusammenarbeit mit den Schauspielern ist ein ungemein gelungenes Werk entstanden. Auf der Bühne würden andere Gesetzmässigkeiten herrschen als auf dem Papier, eine enge Zusammenarbeit sei daher unumgänglich, wie Martin Bieri sagt. Rund zwanzig Aufführungen mit etwa 10 000 Zuschauern haben stattgefunden. Sie sind bereits am nächsten Projekt für die Stadt Bern, und dieses Stück sollte man sich unbedingt ansehen gehen.
Lobenswerte Literaturkommission
Mit ihrer Wahl hat die Literaturkommission des Kantons Bern ausgezeichnete Arbeit geleistet. Die Preisträgerin und die Preisträger verdienen den Preis. Ihre Texte berühren, sind inhaltlich wertvoll, sie rütteln auf, sind kunstvoll, kreativ, unterhaltsam und machen Lust auf mehr. Wer mehr von Ariane von Graffenried, Martin Bieri, Franz Dodel und Jürg Halter wissen möchte, findet auf ihren Webseiten eine Übersicht über ihr vielseitiges Wirken und Schaffen.
Von Marianne Plüss