Vize-Olympiasieger und Vize-Weltmeister
WM in Val di Sole – Wieder Silber: Nach der WM in Mont-Sainte-Anne in Kanada 2019, der WM in Leogang in Österreich 2020 und den Olympischen Spielen in Tokio 2021 wird der Leimiswiler Biker Mathias Flückiger auch an der WM in Val di Sole in Italien 2021 Zweiter. In einem packenden Duell unterlag der 32-Jährige seinem Landsmann Nino Schurter, der etwas überraschend seinen neunten WM-Titel feiern konnte.
Radsport · Was hätte Mathias Flückiger aus Leimiswil anders machen müssen, um nach vielen Silbermedaillen an Grossanlässen an der WM in Val di Sole endlich die langersehnte Goldmedaille gewinnen zu können? Diese Frage musste sich der 32-jährige Oberaargauer Bikeprofi am Samstag nach dem hochdramatischen WM-Rennen oft anhören. «Für einmal fehlte mir etwas das Selbstvertrauen. Der Killerinstinkt, um einfach vorne wegzufahren, war nicht da. Wenn ich mir etwas vorwerfen kann, dann dies», analysierte der Leimiswiler das über 25,96 km führende WM-Rennen nüchtern.
Zuerst einmal mehr Ondrej Cink
Die Startphase des Staub-Rennens im Trentino war der einzige Rennmoment, der nicht vom Schweizer Duo Nino Schurter (Chur) und Mathias Flückiger geprägt wurde. Genau neun Minuten sorgte der Tscheche Ondrej Cink für Tempo. Wie an den Olympischen Spielen (Platten) hatte der Mitfavorit auch an der WM Pech und fiel später wegen einem Defekt an der Gangschaltung am Ende auf den 16. Rang zurück. Ebenfalls nicht um die Spitzenplätze kämpften Olympiasieger Tom Pidcock (Grossbritannien) und Mathieu van der Poel (Holland) – beide traten gar nicht zum WM-Rennen an.
Angriff von Nino Schurter
Nino Schurter übernahm nach einem kleinen Fahrfehler von Cink die Rennspitze und schaffte mit einem Zwischenspurt eine kleine Lücke. Fünf Minuten später, nach fünf gefahrenen Kilometern, schloss Flückiger zum Bündner auf. Eine elfköpfige Spitzengruppe formierte sich. Aber nur für eine ganz kurze Zeit. Beim Aufstieg löste sich das Duo Schurter/Flückiger mit einem energischen Antritt vom Rest. Innert einer halben Runde distanzierten die beiden Schweizer die nächstfolgenden Konkurrenten um eine knappe halbe Minute. Nach 26 Minuten Renndauer und knapp neun Kilometern ging Mathias Flückiger an die Rennspitze. Fortan hatte der gebürtige Ochlenberger das Renndiktat inne. Der physisch stärkste Fahrer wagte aber nicht, sich mit einem seiner berüchtigten Kicks von der 35-jährigen Bündner Mountainbike-Legende zu lösen. «In den Aufstiegen konnte ich mich immer ein paar Meter lösen. In den Abfahrten und den technischen Rollpassagen hatte Nino die Vorteile auf seiner Seite und schloss die Lücken immer wieder», bilanzierte Flückiger. Ein wirklich satter und kompromissloser Angriff vom Weltcupleader und Saisondominator, welcher den Routinier zermürbt hätte, blieb aber aus, was Schurter die restliche Renndauer über ermöglichte, sich immer wieder ans Hinterrad von Flückiger zu schleichen.
Pacemaker Matthias Flückiger
55 Minuten lang machte der Leimiswiler fast ununterbrochen die Pace, während der Olympia-Vierte Schurter dahinter die Rennsituation überwachte und dabei sogar etwas Körner sparen konnte. Nach zehn Kilometern – und damit vor der Rennhälfte – stand fest: Ohne Defekt gehen WM-Gold und -Silber in die Mountainbikenation Schweiz. Die Konkurrenz lag bereits 43 Sekunden und mehr zurück. Weg kam Flückiger aber nicht. «Ich war, dies muss ich zugeben, nervös. Das Können wäre da gewesen. Ich hätte an den mir liegenden Streckenabschnitten offensiver fahren müssen.» Dies tat der Olympia-Silbermedaillengewinner nicht. Und so lag das Schweizer Duo auch vor dem letzten Anstieg zwei Kilometer vor dem Ziel noch beisammen. «Ich sprintete den Hügel hoch in der Annahme, dass der Fahrer, welcher zuerst in die letzte Abfahrt gehen würde, das Rennen für sich entscheidet.» Flückiger lag besagter Schlussabfahrt tatsächlich vorne. Alles deutete auf den ersten WM-Titel von Flückiger in der Elite hin.
Die Aktion des Rennens
Doch dann setzte der routinierte Bündner seine Schlitzohrigkeit ein. Analog der EM 2020, wo er sich in gleicher Manier gegen den Franzosen Titouan Carod durchsetzte. Die zweitletzte Kurve, 200 m vor dem Ziel und kurz nach der Passerelle, schnitt Schurter auf der Innenseite stark und zog so links an Flückiger vorbei, der damit Tempo verlor. «Ich wollte die Spitzkehre rund und mit viel Schwung fahren, um dann mit Speed auf die letzten Meter zu gehen», sagte Flückiger. «Der Move von Nino kam unerwartet. Er stach rein und lag für die letzten Meter vorne. Ich hatte keine Chance mehr, die vier Meter Rückstand noch wettzumachen.» Ob die Aktion, welche Schurter den neunten WM-Titelgewinn einer grossartigen Karriere ermöglichte, ganz sauber war, wollte Flückiger gegenüber dem «UE» nicht beantworten. Er gab dafür zu Protokoll, dass die Aktion taktisch clever war, er selber an Titelkämpfen unter Nationalmannschaftskollegen eine solche Aktion aber nicht machen würde. Und der Weltmeister? «Ich bin unglaublich happy und stolz, dass ich es noch einmal geschafft habe. Zu sehen, dass ich es noch kann, ist wichtig – auch für meine weitere Karriereplanung. Ein paar Zweifel hatten sich schon eingeschlichen», sagte der 35-jährige Bündner im SRF-Interview zu seinem ersten Erfolg nach einer sieglosen Durststrecke.
Der drittplatzierte Franzose Victor Koretzky traf mit mehr als einer Minute Rückstand im Ziel ein. Der französische Titelverteidiger Jordan Sarrou war auf dem physisch und technisch anspruchsvollen Kurs gänzlich chancenlos und belegte den 26. Rang. Grandios war dafür die Fahrt des Ufhusers Marcel Guerrini. Der bald 27-jährige gebürtige Ostschweizer kam hinter Filippo Colombo als viertbester Schweizer auf den starken 13. Rang. Auf den WM-Titel verlor er nur 3:12 Minuten. Eine weitere Glanzfahrt des Ufhusers.
Gesamtweltcup im Visier
Für den WM-Silbermedaillengewinner Mathias Flückiger geht es Schlag auf Schlag weiter. Nach Olympia- und WM-Silber («irgendwann werde ich mich so richtig darüber freuen») kann sich der Leimiswiler 2021 immer noch einen ganz wichtigen Titel holen. Und zwar den Gesamtweltcup. Zwei Rennen (Lenzerheide und Snowshoe/USA) vor Schluss liegt Flückiger in Führung. Mit dem Gewinn des Gesamtweltcups würde er manifestieren, was sowieso Tatsache ist: Der Leimiswiler ist der erfolgreichste Schweizer Mountainbiker 2021.
Auszug aus der Rangliste: Elite Männer (89 Klassierte): 1. Nino Schurter, Schweiz/Chur, 1:22:31; 2. Mathias Flückiger, Schweiz/Leimiswil, 1:22:33; 3. Victor Koretzky, Frankreich, 1:23:39; 4. Vlad Dascalu, Rumänien, 1:24:07; 5. Maximilian Brandl, Deutschland, 1:24:14; 9. Filippo Colombo, Schweiz/Bironico, 1:25:02; 13. Marcel Guerrini, Schweiz/Ufhusen, 1:25:43; 14. Lars Forster, Schweiz/Neuhaus, 1:25:57.
Von Stefan Leuenberger