Vizeweltmeister nach turbulenten Zeiten
Mountainbike-WM in Saalfelden – Nachdem ihn eine Woche zuvor bei den beiden Weltcupeinsätzen in Tschechien noch Magenprobleme und eine Erkältung am Erfolg hinderten, holte sich der 32-jährige Leimiswiler Mathias Flückiger im WM-Rennen im österreichischen Saalfelden bei garstigen Bedingungen den Vizeweltmeister-Titel. Es war die dritte WM-Medaille in der Elite für «Math».
Radsport · Wenn ich denke, was in den letzten Tagen geschehen ist, bin ich mit dieser WM-Silbermedaille sehr zufrieden», meint Mathias Flückiger nach seinem WM-Einsatz im österreichischen Saalfelden. Noch eine Woche zuvor hatte der am 27. September 1988 geborene «Molasse-Highlander» aus Ochlenberg, der in Leimiswil wohnt, an den beiden einzigen Weltcuprennen der Saison 2020 in Tschechien ganz schwierige Momente verdauen müssen. Im ersten Rennen hatte er plötzlich mit Magenproblemen zu kämpfen, die ihn zur Aufgabe zwangen. «Im zweiten Rennen in Nove Mesto kam dann noch eine Erkältung hinzu», berichtet Flückiger. Der Körper des bloss 64 kg schweren regionalen Spitzensportlers war zu sehr geschwächt, um zu reüssieren. Vor den unerklärlichen Magenproblemen («wir hatten in Tschechien sogar unseren eigenen Koch dabei») hatte «Math» aber eindrücklich aufgezeigt, wie «förmig» er ist. Vor dem gesundheitlichen Knockout war er an der Rennspitze und setzte sich sogar leicht ab. «Dies gab mir für das WM-Rennen enormes Selbstvertrauen. Ich wusste, dass ich bei gesundem Zustand um den Titel mitkämpfen kann», sagt der 32-Jährige. Ganz gesund war «Math» nicht. «Erst im Training am Tag vor dem WM-Rennen fühlte ich mich wieder einigermassen wohl. 100 Prozent gesund bin ich aber keineswegs zum Medaillenrennen angetreten.»
Ein Gilet gegen die Kälte
Doch in all seinen Rennfahrerjahren – «Math» bestritt 1997 als 9-Jähriger in Farnern sein erstes Bikerennen – hat er viel gelernt. «Ich habe am Start alles ausgeblendet, mich total auf das Rennen fokussiert», sagt Flückiger. Die teils morastigen, recht feuchten und rutschigen Streckenverhältnisse kamen dem «Highlander» entgegen. Nicht aber die bittere Kälte. «Es war bloss sieben Grad. Und die Bise ging durch Mark und Bein. Ich musste einfach ein Gilet anziehen, um nicht unterkühlt keine Chance zu haben», erklärt Flückiger. An diesem Gilet, welches das Schweizer Trikot mit Kreuz überdeckte, war «Math» gut zu erkennen. «Die Geldbusse für das Tragen nahm ich in Kauf. Ich musste einfach warm haben.»
Was für eine Aufholjagd
Aus der ersten Startreihe gestartet, nahm Flückiger, Mitglied von Thömus/RN Swiss Bike Team, das Rennen gewohnt ruhig in Angriff. «Nachträglich gesehen, war ich zu Rennbeginn wahrscheinlich zu verhalten gefahren», wertet Flückiger. Nach der ersten Steigung lag der Leimiswiler in der Tat nur an 17. Stelle. Der Rückstand auf die Spitze betrug bereits 35 Sekunden. «Der Franzose Sarrou konnte vorne ungehindert wegfahren, während ich mit Positionskämpfen beschäftigt war.» Diese bestritt Flückiger aber beeindruckend. Nach 5,75 Kilometer und der ersten von sechs Runden hatte sich «Math» bereits auf den 6. Platz vorgearbeitet und auch den chancenlosen Kronfavoriten und achtfachen Weltmeister Nino Schurter (schliesslich 9. Rang) «gefressen». Das Problem: Sarrou lag schon 39 Sekunden voraus. Dahinter zündete der Leimiswiler den Turbo. Erst löste er sich von seiner Gruppe, um dann wenig später in der Abfahrt mit Hilfe seines technischen Könnens mit dem Brasilianer Henrique Avancini (schliesslich 10. Rang) einen weiteren Kronfavoriten hinter sich zu lassen. Nach einem Renndrittel passierte Flückiger die Start- und Zielpassage im österreichischen Wintersportort an dritter Stelle. Nur noch der Holländer Milan Vader und der bereits 47 Sekunden vorausliegende Franzose Sarrou lagen vor dem Oberaargauer. Und dieser junge Holländer stürzte in der dritten Runde brutal, was ihn komplett aus dem Tritt brachte. Nur zwei Minuten später lag der «fliegende» Holländer bereits wieder im Morast. Und sogleich wurde er von Flückiger geschnappt. Im weiteren Rennverlauf legte Flückiger zusammen mit Titouan Carod (Frankreich), Avancini und dem Italiener Luca Braidot eine Minute hinter dem Leader Sarrou Kilometer um Kilometer zurück. In der vierten Runde löste sich Flückiger von der Gruppe, wurde aber wieder gestellt. «Maths» nächster Angriff gegen Ende der vierten Runde war dann erfolgreich. Kurz vor der letzten Runde schloss der Franzose Carod wieder zu Flückiger auf. Dieses Duo kämpfte in der Schlussrunde um Silber. In der letzten Steigung 1,5 km vor dem Ziel zündete «Math» den Turbo. Er hatte noch mehr Körner im Tank und zog unwiderstehlich davon. Mit der schnellsten Zeit auf der Schlussrunde überquerte er erleichtert als Zweiter die Ziellinie.
WM-Medaille mit besonderem Wert
WM-Silber, das golden glänzt für den Leimiswiler Topbiker. Es war seine dritte WM-Medaille bei der Elite. 2012 gewann Flückiger – ebenfalls in Saalfelden – WM-Bronze. Vor einem Jahr wurde Mathias Flückiger in Kanada Vizeweltmeister. 2020 folgte nun erneut der Vize-WM-Titel. «Dieses WM-Silber hat für mich einen speziellen Stellenwert», sagt der Olympiasechste von Rio 2016. «Es stecken in dieser Medaille eine Menge Emotionen. Ich musste mental sehr viel arbeiten.» Dementsprechend gross ist Flückigers Genugtuung, es trotz den Problemen der letzten Wochen geschafft zu haben. Definitiv auch abgelegt scheint der sich über Monate hinweg sowohl im Training wie auch im Wettkampf negativ auswirkende Schmerz nach der Trennung mit seiner langjährigen Freundin. «Ich konnte endlich einen Schlussstrich ziehen. Darüber bin ich sehr froh. Es hilft, mit diesbezüglich freiem Kopf fahren zu können», bestätigt Flückiger, der 2019 fünf Weltcup-Podestränge – darunter den Sieg in Albstadt – schaffte.
Bereits am Mittwoch reist der Vizeweltmeister ins Tessin, wo am Fusse des Monte Tamaro am Samstag das EM-Rennen stattfinden wird. Erholt sich Mathias Flückiger bis am Samstag komplett und kann im eigenen Land 100 Prozent gesund antreten, ist er absolut fähig, seine WM-Silbermedaille an der EM zu vergolden …
Auszug aus der Rangliste: Elite Männer (85 Klassierte): 1. Jordan Sarrou, Frankreich, 1:25:37; 2. Mathias Flückiger, Schweiz/Leimiswil, 0:45 zurück; 3. Titouan Carod, Frankreich, 0:55; 9. Nino Schurter, Schweiz/Chur, 2:33; 45. Lukas Flückiger, Schweiz/Wynigen, 8:47.
Von Stefan Leuenberger