Was ist bloss mit unserer Gesellschaft los?
Ruth Gschwind kann es nicht verstehen. «Wieso macht es bei den Menschen nicht langsam Klick?» Seit 14 Jahren sammelt sie an den Strassenrändern in der Region Abfall auf, trennt ihn bei sich zu Hause und entsorgt ihn danach fachgerecht – ohne auch nur einen Franken dafür zu verlangen. Nun überreichte die Gemeinde Huttwil der 76-jährigen Wyssacherin ein Geschenk als Wertschätzung für ihr grosses Engagement.
Wie sähen unsere Strassen wohl aus, wenn es Ruth Gschwind nicht gäbe? Die 76-jährige Wyssacherin ist fast tagtäglich in der Region unterwegs, um dasjenige aufzusammeln, was unachtsame Autofahrerinnen und Autofahrer aus ihren Fahrzeugen schmeissen oder sonst der Strasse entlang entsorgen. «Es ist ein Hobby, und in erster Linie mache ich das für meine Gesundheit», erklärt sie bescheiden. Spitzfindige Leserinnen und Leser denken nun vielleicht, dass anstelle von Ruth Gschwind die Kantons- oder Gemeindearbeiter den Abfall von den Strassenrändern und den Wiesen holen, danach entsorgen und die Strassen somit sauber halten würden. Der Effekt wäre wohl der Gleiche, doch was würde das den Steuerzahler kosten? Ruth Gschwind macht es kostenlos. Für den Gemeinderat Huttwil jedenfalls war das «Hobby» von Ruth Gschwind eine grosse Anerkennung wert. Als Respekt gegenüber ihrer wertvollen Arbeit wurde ihr anfangs dieser Woche ein Geschenk überreicht. Ein kleiner finanzieller Beitrag für ein grosses Engagement. «Uns ist bewusst, dass diese grosse Arbeit nicht bezahlt werden kann, es soll deshalb eine Wertschätzung sein», sagte der Huttwiler Gemeindepräsident Walter Rohrbach, während er Ruth Gschwind zusammen mit einem herzlichen Händedruck den Umschlag überreichte.
Bei Hitze und Kälte unterwegs
Im Schnitt ist die rüstige Rentnerin von Montag- bis Samstagnachmittag zwischen Wyssachen, Eriswil, Huttwil und Gondiswil zu Fuss unterwegs, bei grosser Hitze und bei klirrender Kälte – und das seit 14 Jahren. «Normalerweise fahre ich bis zu einem gewissen Punkt mit dem Auto, laufe dann zwei Stunden die Strasse entlang und zwei Stunden auf der anderen Strassenseite wieder zurück. Manchmal könnte ich dann, wenn ich zurück bin, schon wieder von vorne anfangen», erzählt sie kopfschüttelnd.
Trotz steigendem Umweltbewusstsein der Bevölkerung findet sie immer mehr Abfall. «Seit 2008 hat die Menge extrem zugenommen, früher sah es an der Strasse entlang nicht so schlimm aus wie heute», gibt sie zu bedenken. Die Corona-Krise hat sogar noch eine Schippe draufgelegt. «Am schlimmsten war es, als die Restaurants zuhatten. Die Leute haben am Waldrand im Auto gegessen und ihren Abfall danach einfach liegen lassen. Das ist bei einigen Leuten leider so geblieben, sie machen das heute immer noch», ärgert sich Ruth Gschwind.
Neben unzähligen Tetra-Paks, Plastikverpackungen, Kaffee- und Joghurtbechern (diese wäscht sie zu Hause aus, damit es nicht stinkt) und vielem mehr, bringt sie alle zwei Wochen zwischen 70 und 100 Alu-Getränke-Dosen zur Entsorgungsstation und einen PET-Sammelsack füllt sie mit ordentlich zusammengedrückten Flaschen alle sechs bis sieben Wochen. «Seit neun Jahren sammle ich auch Zigarettenstummel auf, obwohl ich das anfangs nicht machen wollte. Ich dachte, dann käme ich aus dem Bücken gar nicht mehr heraus.» Doch seit sie in einer Zeitschrift las, dass in einem einzigen Stummel 25 verschiedene Gifte enthalten sind und bei jedem Regen etwas davon in den Boden gelangt, die Kühe danach das Gras fressen und sie deren Milch trinkt und das Fleisch isst, entschloss sie sich, sich fortan auch für die Zigarettenstummel zu bücken. Eine Woche lang machte sie sich gar die Mühe, die Stummel zu zählen. Im Schnitt sind es zwischen 1000 und 1400 pro Sammeltag.
Anerkennung, aber auch Neid
Es gibt immer wieder Menschen, die dem «Ghüderfroueli», wie sie sich selbst nennt, spontan danken. So erhält sie Schokolade, «Chrömi», «Täfeli» und Trinkgeld geschenkt oder beim Einkehren in die Wirtschaft einen Kaffee gratis. Vom Kanton und auch von der Schürch-Sägerei in Huttwil erhält sie jedes Jahr ein grosses Weihnachtsgeschenk. Auch freut sie sich immer über ein anerkennendes Hupen von vorbeifahrenden Autos. «Aber», sagt sie bestimmt, «wenn jemand zuvor Sachen aus dem Auto geschmissen hat, sollte er es lieber bleiben lassen.» Doch neben den vielen Fans hat sie auch mit Neidern zu tun. «Einmal hat mir eine Frau eine Getränkedose nachgeworfen, die Dose landete auf der Strasse und die vorbeifahrenden Autos haben sie plattgedrückt, sodass ich das nicht mehr machen musste», erzählt sie lachend. Was Ruth Gschwind hingegen wirklich geärgert hat, war, als einmal die Schule in Wyss-achen einen Littering-Tag veranstaltete. «Die Kinder waren drei Stunden unterwegs und hatten Spass, aber es gab ein Elternpaar, das sich danach wegen Kinderarbeit beschwerte.»
Dennoch hofft sie weiter, dass es irgendwann einmal besser wird. Und solange es die Gesundheit zulässt, wird Ruth Gschwind auch in Zukunft den «Ghüder» anderer Leute am Strassenrand aufsammeln und jedem hupenden Auto mit Freude zuwinken.
Von Marion Heiniger