«Weltweit die Beste zu sein, ist schön»
Die 81-jährige Huttwilerin Heidi Graber ist in ihrem Alter die weltbeste Speerwerferin. Trotz grossen Rückenproblemen im Vorfeld hat die Huttwilerin im August an der Masters-WM in Schweden ihren vierten Weltmeistertitel gewonnen. Eine Ausnahmeleistung.
Leichtathletik · Wenige Wochen vor der Leichtathletik-WM der Seniorinnen und Senioren in Schweden von Mitte August konnten Sie sich kaum bewegen.
Ich hätte noch im Juli niemals gedacht, dass ich an der WM starten könnte, wollte meine Anmeldung stornieren. Mein Mann hat mich aber immer motiviert, abzuwarten und nicht aufzugeben. Meine Spinalkanalstenose – eine Verengung des Wirbelkanals mit Druck auf das zentrale Nervensystem – löste bei mir extreme Rückenschmerzen aus. Ich konnte kaum aufrecht gehen. An normales Fortbewegen geschweige denn Sport war nicht zu denken. Dank Physiotherapie, ständigem Salben und meinem kämpferischen Willen schaffte ich es schliesslich doch noch, mich in kürzester Zeit einigermassen wettkampffit zu machen.
Der Rücken hielt und Sie holten sich in Göteborg im Speerwerfen Ihren insgesamt vierten Weltmeistertitel. Aufgrund der Vorgeschichte ein ganz besonderer.
Es ist jene Medaille in meiner Sammlung, die am meisten Wert hat. Dass sie trotz der Vorgeschichte golden glänzt, ist für mich eine unglaubliche Genugtuung. Schon nur, dass ich an der WM überhaupt starten konnte, grenzte an ein Wunder.
Sie sind – trotz den aktuellen Rückenbeschwerden – viel fitter und vifer als die anderen 81-Jährigen. Dies dürfte dem Sport geschuldet sein?
Auf jeden Fall. Und wenn du ein Leben lang Sport machst, kannst du damit auch nicht aufhören. Zweimal pro Woche steht bei mir ein Leichtathletik-Training auf dem Programm, immer montags besuche oder leite ich das Seniorinnen-Turnen im Turnverein Huttwil. Immer sonntags trainiere ich frei. Und einmal pro Woche stärke ich im eigenen kleinen Kraftraum die Muskeln. Dazu helfe ich meinem Sohn in der eigenen Gerberei, was viel Treppenlaufen beinhaltet.
Man kann also sagen: Sie sind lieber am «Spörtle» als daheim am «Lisme»?
Auf jeden Fall. Ich stricke nur, wenn ich muss, sprich, wenn mein Mann Socken benötigt.
Auf Trab werden Sie auch von Ihren beiden Enkeln gehalten.
Genau. Da heisst es immer «Grosi chumm, mach, tueh ...»
Los ging Ihre sportliche Karriere in der Jugendriege.
Weil ich damals in Langenthal wohnhaft war und meine ältere Schwester bereits dabei war, trat ich 1950 in die Jugendriege des Satus Langenthal ein. Wegen meinem harten Willen – oder besser sturen Kopf – konnte ich bereits als Erstklässlerin dabei sein, obwohl die Jugi damals eigentlich erst ab der dritten Klasse besucht werden konnte. Als ich später den Wohnort nach Huttwil verlegte, habe ich zum Turnverein Huttwil gewechselt.
Was trieb Sie an, die Leichtathletik auszuüben?
Damals gab es in Langenthal für die Mädchen praktisch nichts anderes als die Leichtathletik. Die Disziplinen haben mir aber alle zugesagt.
Wie kam es zur Spezialisierung auf die Wurfdisziplinen Kugelstossen, Diskuswerfen und vor allem Speerwerfen?
Dies kam erst später, als ich den Sprint sowie den Weit- und Hochsprung wegen der grossen Belastung des Rückens gesundheitstechnisch nicht mehr ausübte.
Sie waren schon in jungen Jahren sehr ehrgeizig. Die Erfolge blieben nicht aus.
Ich habe an den Satus-Turnfesten und Schweizer Meisterschaften viele Siege erzielt. Höhepunkte waren verschiedene Länderkämpfe, insbesondere aber die Arbeiter-Olympiade in Israel 1966, an der ich Gold im Speerwerfen gewann. 1968 wurde ich zur Schweizer Satus-Sportlerin des Jahres gekürt.
1973 kam Ihr erster Sohn Beat auf die Welt. Sie zogen sich vom Wettkampfsport zurück.
Mit der Geburt von Kindern endeten die Sport-Karrieren der Frauen. Das war damals so. Ich bereute es aber nicht. Ich hatte mit den Kindern, dem eigenen Geschäft und dem Leiten im Turnverein Huttwil genügend zu tun. Ausserdem startete ich mit dem TV Huttwil an den Turnfesten, womit die Bewegung nicht gänzlich wegfiel.
Im Alter von 60 Jahren, als die Gleichaltrigen die Pension planten, kehrten Sie in den gezielten Wettkampfsport zurück. Aus welcher Motivation?
Ich erhielt ein Angebot, für die Schweiz an einem Länderkampf in der Masters-Leichtathletik mitzumachen. Ich habe zugesagt. Und meine Leistungen stimmten, womit es mir «dr Ärmu wieder ine gnoh het».
Seither treten Sie in den sogenannten Masters-Kategorien an, wo die Altersklassen in Fünfjahresschritten unterteilt sind. Sie sind sehr erfolgreich. Jedes Jahr sammeln Sie unzählige nationale und internationale Medaillen. Wo bewahren Sie diese auf?
Die hängen unterteilt in unserer Wohnung. An einer Wand sind die Welterfolge zu sehen, an einer anderen Wand die Europaerfolge. Auf die SM-Medaillen habe ich zuletzt verzichtet, weil es einfach im Verlauf der Jahre zu viele wurden. Ich erhielt dafür jeweils eine gute Flasche Wein (sie schmunzelt).
Mittlerweile sind Sie in der Stufe der 80- bis 84-Jährigen angelangt. Oft haben Sie gar keine Konkurrentinnen mehr.
In der Schweiz ist dies seit Jahren so. Ich bekomme einen Titel aber nicht geschenkt. Es gibt einen Medaillenstandard. Ich muss eine gewisse Weite erreichen, um titelberechtigt zu sein.
Was gefällt Ihnen an diesen Senioren-Wettkämpfen am meisten?
Wir sind wie eine kleine Familie, kennen einander grösstenteils seit vielen Jahren. Der Zusammenhalt ist so gross, dass es an einer EM oder einer WM wie ein nach Hause kommen ist. Mit den Chinesen und Japanern verständige ich mich jeweils nur mit Zeichen und Gesten, weil sie kein Englisch sprechen.
An die Wettkämpfe im Ausland reisen Sie wenn immer möglich im eigenen Wohnmobil.
Es ist einfach am praktischsten. Ich habe mein eigenes Bett, kann selber kochen und bin stets nahe am Wettkampfzentrum. Ausserdem ist es am kostengünstigsten.
Ständiger Begleiter und persönlicher Trainer in Training und Wettkampf ist Ihr Ehemann Fritz Graber, einst selbst erfolgreicher Leichtathlet, Leichtathletik-Schiedsrichter-Experte und während 34 Jahren Chef der Männerriege des Turnvereins Huttwil. Wo hilft er Ihnen am meisten?
Er ist mein Motivator in allen Bereichen. Wenn es mir einmal stinkt, zu trainieren, fordert er mich dazu auf.
Gibt es nie Meinungsverschiedenheiten?
Die gibt es schon. Meist liegt er mit seinen Bemerkungen und Verbesserungen aber schon richtig. Er fotografiert oder filmt und gibt mit Hilfe der Bilder technische Verbesserungsvorschläge. An der WM beispielsweise habe ich bei meinem besten Versuch im Speerwerfen beim Anlauf über eineinhalb Meter verschenkt. Solche Sachen zeigt er mir sofort auf.
Sie treten an den Wettkämpfen immer für den Turnverein Huttwil und die Leichtathletik-Vereinigung Huttwil an. Was hat es damit auf sich?
Ich bin ganz klar ein aktives Mitglied des Turnvereins Huttwil. Dieser ist aber nicht Mitglied von Swiss Athletics, was für meine Leichtathletik-Wettkampfstarts erforderlich ist. Darum bin ich seit langem ebenfalls Mitglied der LV Huttwil.
Wie gehen Sie damit um, wenn Sie belächelt und Ihre Tätigkeit als «Altersheim-Sport» verspottet wird?
Das ist immer lustig, wenn ich zeitgleich mit den jungen Mädchen einen Wettkampf bestreiten muss. Kürzlich war dies im Kugelstossen so. Spätestens als ich – zugegebenermassen mit einer etwas leichteren Kugel – weiter gestossen habe als die Mädchen, haben die zuerst fragwürdigen Blicke in Bewunderung umgeschlagen. So im Sinne von «Grosi hat es ja drauf».
Sie werfen den 400 g schweren Speer mit 81 Jahren immer noch deutlich über 20 m. Um den Kritikern das Maul zu stopfen: Wie weit würde der Speer dann fiktiv umgerechnet bei einer 20-Jährigen fliegen?
Um die 56 m.
Wow, beeindruckend, denn der Schweizer Rekord im Speerwerfen von Géraldine Ruckstuhl vom STV Altbüron aus dem Jahr 2017 liegt bei 58,31 m ...
Schon oft waren Sie Ende Jahr in Ihrer Altersklasse die Nummer 1 der Weltrangliste im Speerwerfen. Welche Bedeutung haben solche Auszeichnungen?
Über ein ganzes Jahr die Beste weltweit zu sein, bedeutet mir besonders viel. Darum werde ich mich am morgigen Masters-Meeting in Bellinzona besonders anstrengen, da ich derzeit in der W80-Weltrangliste im Speerwerfen 2024 auf dem 2. Rang liege. Mir fehlt etwa ein halber Meter zur führenden Finnin.
Haben Sie trotz den immer wiederkehrenden Erfolgen noch nie ans Aufhören gedacht?
Doch, doch. Die Gesundheit ist elementar. Sollten sich meine Rückenprobleme nicht verbessern, werde ich im Wettkampfsport wohl bald kürzer treten müssen. Der Aufbau den Winter über wird wegweisend sein. Was ich auf jeden Fall weiterhin ausüben werde, ist das Montagsturnen im Turnverein Huttwil. Mit dem Sport werde ich nie aufhören. Ich brauche die Bewegung. Sie hält mich jung.
STECKBRIEF
Rufname: Heidi
Wohnort: Huttwil
Familie Ehemann Fritz, Söhne Beat (51) und Urs (48)
Geboren: 1. April 1943
Gewicht: 65 kg
Grösse: 165 cm
Sternz.: Widder
Beruf: Schuhverkäuferin, später Büro in der eigenen Gerberei
Hobbys: Leichtathletik, Lesen, Kochen
Farbe: Blau
Kleidung: bequem
Essen: Fondue Chinoise, Heisser Stein, Riz Casimir
Getränk: Wasser, Bier, Glas Wein, Kaffee
Musik: Harry Belafonte, Wiener Walzer
Lektüre: gehe fast alle 14 Tage in die Bibliothek, am liebsten historische
Bücher
TV: Tagesschau, Sportpanorama, Kochsendungen
Kurz Gefragt
Erster Wettkampf
Dieser war 1950 an meinem ersten Jugitag.
Lieblingsdisziplin
Rosette Lanz machte mir beim Satus Langenthal 1960 das Speerwerfen schmackhaft. Sofort packte es mich. Der gesamte Bewegungsablauf und die Technik des Speerwerfens faszinieren mich.
Vorbild
Habe ich keines.
Anzahl SM-, EM- und WM-Medaillen und Schweizer Rekorde
88 Schweizer-, fünf Europa- und vier Weltmeistertitel sowie acht Schweizer Rekorde.
Ihr grösster Fan
Dies ist ganz klar mein Mann. Er managt alles, insbesondere das Administrative. Fritz freut sich immer sehr über die Erfolge. Ebenso wie meine beiden Enkel, die interessiert verfolgen, was ich im Sport leiste.
Tattoos/Piercings
Das ist beides gar nichts für mich.
Netflix
Haben wir nicht abonniert. Ich habe schon fast zu wenig Zeit, um Fernsehen zu schauen.
Süssigkeiten
Ich mag Schokolade sehr gerne.
Jahreszeit
Frühling und Sommer. Nebel im Herbst ist der Graus.
Feriendestination
Malediven. Wir waren schon dreimal dort. Und natürlich der Camping Union Lido im italienischen Cavallino.