Wenn es einfach nicht mehr geht, …
… dann ist die mobile Akutbehandlung (moab) der psychiatrischen Dienste SRO Langenthal da. Sie betreut Patientinnen und Patienten, welche sich in einer akuten psychischen Krise befinden, in ihrem gewohnten Umfeld – also zu Hause. Der «Unter-Emmentaler» begleitete den Psychologen Adrian Widmer und die Pflegefachfrau Maja Domislic bei einem Besuch einer Patientin.
Psychatrische Dienste SRO · Strahlend öffnet Manuela H. (*) ihre Wohnungstüre. Man sieht der jungen Frau nicht an, dass sie in einer Krise steckt. Sie hat sich auf den Besuch gefreut und ist gerne bereit, Auskunft zu geben. Bewundernswert, denn psychisch krank zu sein wird oft als peinlich abgestempelt und man schämt sich. «Man soll sich nicht schämen», sagt sie. «Es ist, wie wenn man einen Beinbruch hatte, da nimmt man den Physiotherapeuten in Anspruch. Bei der Seele ist der Psychologe dann einfach der Physiotherapeut für die Seele», sagt sie bestimmt.
Die grosse Leere
Manuela H. ist 40 Jahre alt, verheiratet, hat zwei Kinder und ein schönes Haus. Eigentlich alles, um glücklich zu sein, oder? «Ich habe mich für andere verausgabt bis ich total erschöpft war. Ich hatte nur noch negative Gedanken, war traurig und hatte keine Kraft mehr. Ich hatte eine grosse Leere in mir und war selbst böse mit mir. Ich redete mir ein, dass ich nichts auf die Reihe kriege, nichts schaffe und nichts bin. Ich dachte, es ist ja kein Wunder, dass mich niemand mag und niemand etwas mit mir zu tun haben will. Ich suchte Anerkennung durch Helfen und verausgabte mich dadurch komplett. Und vor allen Dingen vergass ich mich dabei selbst.» Dann hat sie sich selbst Hilfe geholt. Nicht zum ersten Mal. «Ich habe seit 20 Jahren immer wieder Krisen, war auch schon stationär in einer Klinik. Aber diesmal konnte und wollte ich nicht in die Klinik. Ich konnte und wollte meine Familie nicht im Stich lassen. Zu organisieren wäre es sicher gewesen, aber das schlechte Gewissen und die ständigen Gedanken, ob zu Hause alles funktioniert, hätten mich mehr belastet, als mir der Aufenthalt genutzt hätte», erzählt sie ihre Wahl für das «moab». «Oft ist es so, dass dann das schlechte Gewissen ‹therapiert› werden muss und das eigentliche Problem in den Hintergrund rutscht», bestätigt Psychologe Adrian Widmer.
Therapie zu Hause
«Ich war damals einfach froh, dass sie da sind und mir helfen», meint Manuela H. auf die Frage, ob es nicht komisch war, als die Betreuung zum ersten Mal zu ihr nach Hause kam. «Das sind professionelle Menschen, die mich fragen, wie es mir geht und mir helfen wollen. Es sind keine Schnüffelnasen und sie urteilen nicht über mich, wenn vielleicht nicht Staub gesaugt oder nicht abgewaschen ist.» Es sei, wie wenn sie Besuch bekommen würde. «Und mit der Betreuung bei mir zu Hause bin ich näher am normalen Leben. Wenn ich sechs Wochen in die Klinik gehen würde, käme ich zurück und müsste erst wieder im Alltag ankommen.»Am Anfang besuchte die Bezugspflegende Maja Domislic Manuela H. jeden Tag. Adrian Widmer war ein- bis zweimal die Woche bei ihr vor Ort und führte Gespräche mit ihr. Mit der Zeit konnten die Gespräche zwischendurch auch per Telefon geführt werden, was für die Patientin auch sehr gut war. Maja Domislic: «Wir Pfle-ge-fach-personen helfen den Patientinnen und Patienten, damit sie ihren Alltag wieder gestalten können und helfen so, die Ressourcen der Patienten wieder zu finden. Wenn es nötig ist, geben wir Starthilfe, etwa um einkaufen zu gehen oder was sonst alles anfällt, das der Patientin Mühe bereitet.» «Für uns ist der Besuch und die Betreuung zu Hause sehr wertvoll und gibt uns einen Einblick in das Umfeld des Patienten», erklärt Adrian Widmer. «Ich fühle mich mit ‹moab› sehr gut aufgehoben und betreut. Zu Hause kann ich mehr mich selbst sein, als wenn ich in die Praxis gehen müsste», sagt Manuela H.
Die «moab» ist sehr stark mit der Spitex, Hausärzten, Erziehungsberatung und vielen weiteren Institutionen vernetzt und kann im Bedarfsfall weitere Unterstützung hinzuholen.
Sie ist sieben Tage die Woche an 24 Stunden erreichbar. Manuela H. hätte sich auch getraut, mitten in der Nacht um Hilfe zu bitten. «Die Betreuenden sind ausgebildet dafür und wissen, dass jederzeit jemand anrufen kann», sagt sie. «Wenn es nötig ist, fahren wir mitten in der Nacht zu den Patienten», sagt Maja Domislic ganz selbstverständlich. Es sei wichtig, Hilfe zu bekommen, wenn man sich denn schon traue, anzurufen.
Auf dem Weg zur Besserung
Wie ist es für die Familie von Manuela H.? «Mein Mann ist froh, dass ich Hilfe bekomme und er spürt auch, dass es mir langsam besser geht. Er lässt uns Raum zum Reden und ist bei Bedarf auch bei den Gesprächen mit dabei», erzählt sie offen. «Die Kinder verstehen mit ihren fünf und sieben Jahren noch nicht so richtig, worum es geht. Sie wissen einfach, die Mama bekommt Besuch und dieser fragt, wie es mir geht.» Adrian Widmer findet, Manuela H. habe eine sehr gute Art, mit ihren Kindern zu kommunizieren. «Ich habe meinen Kindern mit Hilfe von einem Buch erklärt, dass ich eine dunkle Wolke vor mir habe, die mich traurig macht. Dass sie aber nicht schuld sind an dieser Wolke und dass ich die Wolke mit dem Besuch wieder kleiner mache, damit die Sonne wieder durchscheinen und ich mich wieder freuen kann.» Und so bekommen die Kinder nicht viel mit, nehmen es an, wie es ist. Manuela H. ist auf dem Weg der Besserung, sie hat gelernt, besser auf sich acht zu geben und sich Zeit für sich zu nehmen. Und das Wichtigste: Sich abzugrenzen. «Es ist nicht immer einfach, aber ich habe eine sehr gute Betreuung, die mich unterstützt und jederzeit für mich da ist», sagt sie. Medikamente und weitere ambulante Gespräche helfen ihr, in Zukunft stabil zu bleiben. Denn die Heim-Betreuung endet bald. «Irgendwie bin ich froh, es gibt mir wieder mehr Freiraum. Aber dennoch ist es ein Abschied, der schmerzt, da mir das Behandlungsteam auch ans Herz gewachsen ist», sagt sie mit tränenerstickter Stimme. Sie sagt selbst, dass ihre Probleme sie ihr Leben lang begleiten werden. «Aber ich habe gelernt, dass ich Hilfe annehmen darf und diese Krisen nicht alleine durchstehen muss. Ich bin stolz auf mich, dass ich selbst Hilfe geholt habe», sagt sie. Einen Wunsch hat sie: «Ich möchte einmal so intensiv glücklich sein, wie ich traurig bin.» Eine Aussage, die berührt und nachdenklich stimmt.
Home-Treatment – «moab»
«Home-Treatment», die mobile Akutbehandlung (moab), startete im März 2020 und war ein Versuchsprojekt. Mittlerweile ist aus dem Projekt ein fester Bestandteil der psychiatrischen Dienste des SRO geworden und nicht mehr wegzudenken. Die Behandlungsform sei sehr nachhaltig. «Die ‹moab› schliesst eine bestehende Lücke zwischen der ambulanten und der stationären Betreuung», sagt Adrian Widmer überzeugt. Die Rückmeldungen seien durchwegs positiv und die «moab» sei nicht mehr wegzudenken. Manuela H. ergänzt: «Man kann mit der ‹moab› die Anonymität besser wahren. Man kann zu Hause bleiben und ist nicht sechs Wochen einfach weg. Vielleicht trauen sich durch dieses Angebot mehr Menschen, Hilfe in Anspruch zu nehmen – ich wünsche es mir, denn es würde sicher vielen Menschen gut tun, etwas mehr auf sich acht zu geben», sagt sie hoffnungsvoll. Maja Domislic ergänzt: «Es ist sehr wichtig, dass die Menschen wissen, dass sie Hilfe einfordern dürfen und auch erhalten. Sie müssen nicht mit einer ärztlichen Diagnose ‹psychisch krank› einhergehen. Wenn jemand merkt, es wird mir zu viel, dann darf und soll sich die Person melden. Dafür sind wir da.» Maja Domislic und Adrian Widmer gehen mit sehr viel Feingefühl, grossem Respekt und Konzentration auf ihre Patienten ein – nicht umsonst musste sich Manuela H. Tränen wegwischen.
(*) Name geändert.
Marianne Ruch im Gespräch mit Dr. med. Manuel Moser, Chefarzt Psychiatrische Dienste im SRO, und Tschowe Wildbolz, Bereichsleiter Home-Treatment.
Manuel Moser, wie kamen Sie auf die Idee, Heim-Betreuung anzubieten?
Manuel Moser: Wir haben vor Jahren festgestellt, dass wir weniger als die Hälfte aller Oberaargauer, die eine psychiatrische Hospitalisation benötigen, auch bei uns am SRO und somit in der Region versorgen können. Das Psychiatriezentrum Münsingen als unser traditioneller Partner ist halt schon recht weit weg. Dazu hatten wir viele Rückmeldungen von Betroffenen und Hausärzten, mehr Kapazität zu schaffen. Also dachten wir zuerst daran, einfach eine zusätzliche Bettenstation zu bauen. Wir hatten ja schon zwei, die sehr gut funktionierten. Dann stiessen wir auf neue Modellprojekte vom sogenannten «Home-Treatment». Die Idee, dass sich nicht die Menschen auf uns zu bewegen müssen, sondern wir uns auf sie und ihr Umfeld, hat bei uns rasch gezündet. Wir dachten, dass der Widerstand für eine notwendige psychiatrische Behandlung vielleicht kleiner wäre und wir früher eingreifen könnten. Wir wollten also eine Art virtuelle Station aufbauen. Als dann noch der Kanton Pilotprojekte dazu ausschrieb, passte uns das genau. Die Spitalführung machte auch mit. Wir packten die Chance! Die Psychiatrie soll sich am Menschen orientieren und nicht umgekehrt.
Was genau ist das Home-Treatment?
Tschowe Wildbolz: Wir bieten eine Art «Station auf Rädern» an. Wir haben sechs Autos, die übrigens nicht mit SRO angeschrieben sind. Wir liefern auf Fachchinesisch «akutstations-äquivalente Behandlung» täglich nach Hause. Unser Team ist, ähnlich wie auf der Station, interdisziplinär aufgestellt mit Berufsleuten aus den Bereichen Psychiatrie-Pflege, Psychologie, Medizin und Sozialarbeit. Besuche finden ein- bis mehrmals täglich statt, der Zeitraum der Behandlung beinhaltet Tage bis Wochen, mit dem Fokus auf der akuten Situation. Die Betroffenen können 24 Stunden an sieben Tagen die Woche auf den Pikettdienst zugreifen, der stützende Entlastungsgespräche bietet und bei Bedarf auch in der Nacht ausrückt. Im Vergleich zum stationären Aufenthalt ist automatisch die Beratung und Unterstützung der Angehörigen etwas niederschwelliger möglich.
Wann sind Sie mit dem Projekt gestartet? Und in welchem Umkreis bieten Sie die Heim-Betreuung an?
Tschowe Wildbolz: Wir gingen am 16. März 2020, zu Beginn des Covid-19 Lockdowns, zu unserer ersten Patientin. Wir bieten unsere Diens-te im ganzen Oberaargau an, von Eriswil bis Farnern.
Werden Sie beim Projekt von Institutionen unterstützt?
Manuel Moser: Wir arbeiten mit dem Netzwerk zusammen, das wir schon gut kennen. Also mit hiesigen Psychiatern, Hausärzten und den Spitex-Diensten. Unterstützung bekamen wir vom Kanton durch eine sogenannte Anschubfinanzierung. Ohne die hätten wir nicht starten können.
Stellt das «Home-Treatment» ein eigenes Team?
Manuel Moser: Ja, vergleichbar mit dem Team, das auf der Akutstation arbeitet. Die Teamleitung ist auch Mitglied der obersten Leitung des Psychiatrischen Dienstes.
Wurde das Team speziell dafür zusammengestellt?
Tschowe Wildbolz: Ja, wir hatten einige wenige interne Bewerbungen und meistens externe, die wir ab Sommer 2019 rekrutierten.
Wie viele Mitarbeitende umfasst das Team?
Tschowe Wildbolz: Eine ärztliche und pflegerische Leitung, dann sieben Pflegefachleute, drei Psychologinnen und Psychologen oder Ärztinnen und Ärzte, eine Sozialarbeiterin und eine Sekretärin. Insgesamt 12,3 Stellen.
Bedarf diese Betreuungsform einer speziellen Ausbildung?
Manuel Moser: Die gibt es so eigentlich nicht, sondern sie entspricht einfach einer üblichen fachpsychiatrischen Ausbildung. Aber wir suchten natürlich Berufsleute mit Erfahrung, die viel Selbstverantwortung übernehmen wollten, weil sie den Menschen in seiner Krise – anders als auf der Station – nicht nonstop im Auge haben können. Zudem musste man auch noch die Freude an einem Pionierprojekt mitbringen.
Sind die Betreuenden stets alleine unterwegs?
Tschowe Wildbolz: Wir arbeiten mit dem dualen Fallführungsprinzip, das heisst, dass sich je eine Pflegeperson und eine Therapeutin aus dem Bereich Medizin oder Psychologie die Fallführung teilen, also die primären Bezugspersonen sind. Deshalb gehen wir zu Beginn oft zu zweit auf Hausbesuch, dann kann man sich direkt vor Ort absprechen und den Behandlungsplan gemeinsam erstellen. Wenn sich die Situation etwas stabilisiert hat und das gegenseitige Vertrauen da ist, machen wir Termine im Einzelsetting.
Für wen ist diese Betreuungsform geeignet?
Manuel Moser: Sie ist für Menschen, die sich in einer akuten, psychischen Krise und Krankheit befinden und früher auf eine psychiatrische Bettenstation zugewiesen worden wären, dies aber nicht wollten. Das sind etwa Eltern mit kleinen Kindern oder Menschen mit Haustieren. Oder auch Menschen, die zumindest Teilzeit arbeiten können und wollen, weil es ihnen in der Krise hilft.
Trifft das Angebot der Heim-Betreuung bei Patienten auf offene Ohren?
Manuel Moser: Oh ja. Wir bekommen direkte und positive Feedbacks. Zudem mussten wir in den ersten zwei Jahren dem Kanton Daten liefern, die uns durch ein wissenschaftliches Team aufbereitet wurden. Die Patienten und die Angehörigen bekamen anonymisierte Fragebogen zur Behandlungszufriedenheit. Die Rückmeldungen waren enorm gut und hat uns positiv überrascht. Fähigkeiten, die nach wie vor funktionieren, werden gefördert und können gleich zu Hause geübt werden. Wir hatten auch Patienten, die schon auf Bettenstationen waren, dort gesünder wurden, aber zu Hause allzu rasch wieder in alte Muster und Krisen fielen. Diese wollten unser neues Angebot ausprobieren und profitierten natürlich davon, dass man zu Hause sozusagen in der Lebensrealität alle Schwierigkeiten live sah und sie so zielgerichteter unterstützen konnte.
Wie sind die Rückmeldungen der betroffenen Personen?
Tschowe Wildbolz: Genau so positiv wie für unsere Station, das hatten die Forscher untersucht. Auch machten die Patienten mit dieser Behandlungsform gleich viele oder gar noch mehr Fortschritte.
Und was für Rückmeldungen erhalten Sie von Angehörigen?
Tschowe Wildbolz: Ja, da hatten wir die grössten Befürchtungen, weil sie ja oft auch in die Behandlung mit einbezogen wurden. Wir schauten aber auch, dass sie sich abgrenzen und erholen konnten. Die Rückmeldungen waren grundsätzlich sehr positiv, da haben wir schon gestaunt. Es gab vereinzelt Angehörige, die die Mitverantwortung gerne für ein paar Tage an eine Station ausgelagert hätten. Dazu passte dann unser sogenanntes «Backup-Bett» auf unserer Station im SRO sehr gut; wir blieben für dieses «Time-out» von zu Hause für maximal drei Tage weiterhin zuständig und machten dann sozusagen den Hausbesuch auf der Station.
Wie viele Patienten hatten Sie bis anhin in dieser Betreuungsform?
Tschowe Wildbolz: 287, Stand heute.
Wie geht es weiter – jetzt kommt die Auswertung zum Projekt, und dann?
Manuel Moser: Wir wollen das Angebot und diese Betreuungsform unbedingt weiterziehen. Das Projekt hat sich zu einem wichtigen Glied in der Versorgungskette gemausert. Es schliesst eine Lücke. Mit den positiven Auswertungen gehen wir dann zu den Krankenkassen, damit wir das Angebot auch weiter betreiben können.
Wie beurteilen Sie selber das Projekt?
Tschowe Wildbolz: Es ist ein voller Erfolg und macht viel Freude. Wir sind näher an der Realität und Normalität des Patienten. Die Psychiatrie muss sich den Bedürfnissen der Patienten anpassen und nicht umgekehrt.
Was sind die Vorteile, was die Nachteile?
Manuel Moser: Vorteile sind sicher, dass es gelang, Menschen zu behandeln, die sonst auf die Station gekommen wären. Die Behandlung zu Hause ist näher am echten Leben und dadurch wahrscheinlich auch nachhaltiger, wie die Forschung im Home-Treatment der Kinder- und Jugendpsychiater in Bern zeigte.
Ein Nachteil ist sicher die Finanzierung: Da haben wir das grosse Problem, dass der Tarif, den wir abrechnen können, überhaupt nicht auf unsere intensive Behandlungsform ausgerichtet ist. Wir können nur den Tarmed-Tarif, der für private Praxen erfunden wurde, abrechnen. So kann die Rechnung letztlich nicht aufgehen. Deshalb versuchen wir, mit den Krankenkassen eine spezielle Abrechnungsform, ähnlich den stationären Ta-gestarifen, auszuhandeln. Erste Kon-takte hatten wir schon, aber wir vermissen etwas die Begeisterung für dieses Angebot, welches ja auch etwas günstiger als die stationäre Behandlung kommt.
Wird es in Zukunft keine Stationen mehr, sondern nur noch Behandlungen zu Hause geben?
Tschowe Wildbolz: Das glauben wir nicht. Es wird immer Menschen geben, die so stark krank und gefährdet sind, dass sie den Schutz und die Rundum-Versorgung einer Station benötigen.
Dass man wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung ist, ist in der Gesellschaft immer noch mit negativen Vorurteilen behaftet. Was sagen Sie dazu?
Manuel Moser: Dazu möchte ich das Beispiel «Depression» nennen: Sie kann jeden Menschen betreffen und erwischt jeden Fünften in der Schweiz mindestens einmal so stark in seinem Leben, dass er länger nicht mehr arbeiten kann. Es ist eine Volkskrankheit, unterdessen häufiger als Herzkrankheiten.
Es gibt auch Schweizer Persönlichkeiten, die öffentlich dazu stehen, wie etwa die Komikerin Ursula Schäppi und Radiomoderator Ruedi Josuran. Oder Winston Churchill, der immerhin eine Nation durch den Weltkrieg geführt hat. Oder Influen-cer, die sich outen, helfen sehr. Ein Patient hat mal gesagt, dass es eben nicht schwach sei, Hilfe zu suchen, sondern stark, zu seinen Schwächen zu stehen.
Auch in der Arbeitswelt gilt nach unserer Erfahrung: Ein (mit Mass) informierter Chef unterstützt in der Regel besser, weil er besser verstehen kann, wieso jemand plötzlich nicht mehr so arbeiten kann wie vorher. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Job behalten werden kann, ist so deutlich höher. Zeitungsberichte wie derjenige des «Unter-Emmentaler» dienen ebenfalls dazu, das Stigma, das in der Gesellschaft vorherrscht, zu reduzieren. Das «Normalisieren» und Sichtbarmachen von psychischen Krankheiten ist eminent wichtig.
Das Ziel ist es, dass etwa über Erschöpfungsdepression und Psychose mit gleich wenig Berührungsängsten gesprochen werden kann wie über Diabetes oder Herzinfarkt.
Von Marianne Ruch