• Die Altbürerin Géraldine Ruckstuhl an der U23-EM mit Siebenkampf-Gold und dem Maskottchen, einer Gävle-Ziege. Bild: athletix.ch

18.07.2019
Sport

«Wenn es zählt, stimmt meine Leistung»

Die 21-jährige Géraldine Ruckstuhl (STV Altbüron) wird in Schweden U23-Europameisterin im Siebenkampf und berichtet dem «UE» über den Abschluss ihrer Nachwuchs-Laufbahn.

SIEBENKAMPF · Interview: Stefan Leuenberger

Sie haben dem grössten Schweizer Sportler aller Zeiten etwas voraus.

Roger Federer?

Genau. Sie haben an der U23-EM in Schweden – im Gegensatz zu Roger Federer in Wimbledon – im richtigen Moment den Sack zugemacht. 

Das stimmt. 

Es war ein Nervenkrimi. Sie wussten vor der siebten und letzten Disziplin, dem 800-m-Lauf, dass Sie 1,5 Sekunden vor der Deutschen Sophie Weis-senberg ins Ziel kommen müssen, um Gold zu gewinnen.

Nach dem Speerwerfen gab es eine mehrstündige Pause. Ich nutzte sie, um etwas zu essen sowie für einen 30-minütigen Powernap. Dann lief ich im Deutschen Lager vorbei, um zu zeigen, dass ich parat bin. Weissenberg machte da schon einen sehr nervösen Eindruck. 

Anschliessend habe ich mit meinen Trainer die Taktik besprochen. Ich wusste, dass gleich vier Athletinnen noch um Bronze kämpfen und dementsprechend Gas geben werden. Diesen wollte ich mich anhängen. Speziell der Belgierin Hanne Maudens, die mir vor dem Start sagte, dass sie eine Zeit um 2:08 Minuten anstrebe. Der Rest lief bei mir frei nach Anita Weyermanns Motto «Gring ache u seckle». Ich ging «All In».

Sie liefen auf den zwei Bahnrunden in 2:12,05 Minuten eine hervorragende neue persönliche Bestzeit. Nur gerade die Bronzegewinnerin Hanne Maudens war in 2:08,79 Minuten schneller.

Ich habe alles gegeben, mich total verausgabt. Darum habe ich im Ziel weder eine Zeit gesehen noch über den Ausgang Bescheid gewusst. Ich bin sofort zu Boden gefallen. Nach einem 800-m-Lauf kann ich jeweils kaum noch gehen, weil ich wirklich alles reinlege. Erst vom Stadionspeaker habe ich erfahren, dass ich Gold gewonnen habe – und dies mit neuer Bestzeit über 800 m. Die Emotionen gingen hoch. 

Wie erklären Sie sich, dass die einstige Sorgendisziplin – Sie benötigten einst zweieinhalb Minuten für die 800 m – zu einer Waffe geworden ist?

Früher mochte ich diese Disziplin gar nicht. Nun beginne ich, sie zu lieben. Ich finde, dass der 800-m-Lauf vor allem eine Kopfsache ist. Ich habe die Gabe, mich total «auskotzen» zu können. Etwas, was viele Gegnerinnen nicht können. 

Etwas fällt auf: Bei Ihrem U18-WM-Titel 2015 in Kolumbien liefen Sie in der finalen Disziplin in 2:17,58 Minuten ebenfalls persönliche Bestzeit. Ihnen liegt es, auf den Punkt bereit zu sein.  

Wenn es zählt, kann ich meine Leistung abrufen. Ich bin halt einfach ein Wettkampftyp. 

Wie können Sie mit 21 Jahren mental schon so gefestigt sein?

Es ist schwierig, zu erklären. Bis jetzt war ich immer parat, wenn es zählte. Über Jahre hinweg. Einen speziellen Mentaltrainer habe ich keinen. 

Ihr erster Wettkampftag verlief nicht optimal. War der Rücken- und Gegenwind eine derartige Knacknuss?

Ich hatte wirklich noch nie so schlechte Bedingungen an einem Wettkampf. 

Mit der Kälte hatten Sie aber nicht zu kämpfen?

Doch, auch. Es war bloss zwölf Grad. Ich bin aber immer mit allen erdenklichen Kleidern ausgerüstet. Und speziell beim Weitsprung am zweiten Tag zeigte sich, dass ich mit den speziellen äusseren Bedingungen am besten umgehen kann. Gewohnt bin ich im Weitsprung hinten in der Rangliste anzutreffen. Die Konkurrenz hatte aber derart Mühe, dass ich in dieser Disziplin mit 5,87 m die viertbeste Athletin war. Es zahlte sich aus, dass ich auch draussen trainiere, wenn es «Katzen hagelt». 

Der Starttag beinhaltete ein Hoch. Im 4-kg-Kugelstossen schafften Sie mit 14,58 m eine neue eigene Freiluft-Bestweite. 

Erst musste ich die schwierigen Bedingungen akzeptieren. Dann sagte ich mir beim Kugelstossen «Jetzt erst recht». 

14,22 Sekunden über 100 m Hürden (Bestzeit: 13,76 Sekunden), 1,76 m im Hochsprung (Besthöhe: 1,83 m) und 25,22 Sekunden über 200 m (Bestzeit: 24,74 Sekunden): Haben Sie nach dem ersten Tag und Rang 4 noch an den Titel gelaubt?

Ehrlich? Nein, nicht mehr. Die Gefühls- lage war nicht gut. Doch das Ziel «Medaillengewinn» hatte ich noch nicht aufgegeben. 

Erwartungsgemäss waren Sie in Ihrer absoluten Paradedisziplin Speerwerfen die beste Siebenkämpferin. Sie warfen den 600 Gramm schweren Speer 2,80 m weiter als die zweitbeste Athletin. Waren Sie mit den 54,82 m zufrieden?

Die Weite war aufgrund der Begebenheiten okay. Die Würfe waren aber technisch schlecht. Ich habe keinen Versuch richtig getroffen. 

Im Speerwerfen reduzierten Sie den Rückstand auf Sophie Weissenberg (sie warf nur 47,92 m) auf 18 Punkte und konnten im 800-m-Lauf den Coup perfekt machen. Mit 6274 Punkten erreichten Sie das viertbeste Siebenkampf-Total Ihrer Karriere (Bestmarke: 6391 Punkte, aktueller Schweizerrekord). 

Eigentlich wollte ich meinen Schweizerrekord verbessern. Das Wetter hatte aber etwas dagegen. Gemessen daran ist das Resultat sehr gut. 

An der U20-EM in Grosseto im Juli 2017 gewannen Sie die Silbermedaille. Geschlagen wurden Sie damals von der Ukrainerin Alina Shukh. Diese klassierte sich an der U23-EM auf dem 15. Rang. Sie scheinen Ihre Karriere geschickter vorangetrieben zu haben?

Ich weiss nicht, ob sie zu früh zu viel gemacht hat. Ich habe darauf geachtet, immer Step by Step vorwärts zu gehen. Ich bin froh, diesen Trainings-Weg eingeschlagen zu haben. Die 

jetzige Situation zeigt mir, dass es der richtige war. 

Siebenkampf-Europameisterin in der U23-Kategorie. In der Weltsportart Leichtathletik. Ein weiterer Meilenstein Ihrer Erfolgskarriere. Wo reihen Sie ihn ein?

Obwohl jeder Titel schön ist, dürfte es der bedeutenste sein. Er hat mir aufgezeigt, dass all meine getätigten Änderungen Früchte tragen. Und er ist wertvoll im Hinblick auf meine Zeit bei der Elite. 

Der EM-Zeitplan ermöglichte es Ihnen, auch noch in Ihrer Paradedisziplin Speerwerfen antreten zu können. Mit 54,59 m qualifizierten Sie sich für den Final der besten zwölf Athletinnen. Dort blieben Sie mit 51,84 m (5. Rang) deutlich hinter Ihrer Bestmarke von 58,31 m, die zu Bronze gereicht hätte, zurück. War die Luft draussen?

Die Ruhezeit vom 800-m-Lauf zur Speer-Quali war mit einer kurzen Nacht gering. Trotzdem gelang sie mir. Dann war aber wirklich die Luft draus-sen. Im Final einen weiteren Tag später quittierte mein Körper den Dienst. Es ging nichts mehr. Ich akzeptiere dies, obwohl es mich auch etwas fuxt, denn mit einer normalen Leistung wäre die Bronzemedaille möglich gewesen. 

Was war Ihr schönstes Erlebnis an den Titelkämpfen in Schweden?

Ganz klar die Ehrenrunde. Die Erleichterung nach dem Wissen, es geschafft zu haben. Und das Teilen und Genies-sen des Erfolgs zusammen mit meinen Trainern, der mitgereisten Familie, der Freunde und Sponsoren. Ohne sie wäre dies nicht möglich gewesen. Es war sehr emotional.

Mit Ihren Fingernägeln haben Sie einen Hauch Swissness nach Schweden gebracht. 

Es ist wie ein Ritual. Seit der WM 2015 gehe ich eine Woche vor Grossanlässen immer ins Nagelstudio und verpasse meinen Nägeln einen Schweizer Look. 

Mit Siebenkampf-EM-Gold in der U23-Kategorie haben Sie einen ersten, unglaublich erfolgreichen Teil Ihrer Karriere abgeschlossen: Es war Ihr letzter Wettkampf beim Nachwuchs. 

Und ich habe mir so sehr gewünscht, diesen mit einem Titel abzuschliessen. Ich wollte den Elite-Athletinnen damit auch ein Signal senden. 

Wie schwierig wird es sein, auch bei den Aktiven ganz vorne Fuss zu fassen?

Ich brauche noch ein paar Jahre, um Boden gutzumachen. Aber ich will es auch bei der Elite schaffen. 

Zeit zum Ausruhen bleibt kaum. Am 2./3. Oktober starten Sie in Doha im Siebenkampf an der WM der Elite. Bei Ihrem WM-Debüt bei den Aktiven in Berlin 2017 schafften Sie den 11. Rang. Wie lautet Ihre Zielsetzung heuer?

Ich möchte meine technischen Fehler ausmerzen und überall die zur Zeit bestmögliche Leistung abrufen. Ich möchte meinen Schweizerrekord verbessern und mich als würdige U23-Europameisterin verkaufen. Ein Rangziel habe ich noch keines. 

Haben Sie den Sommer und Herbst über genügend Zeit, sich optimal vorzubereiten?

Nach einer Pause beginne ich mit dem Aufbau. Trainingszeit ist genügend da. Ich arbeite weiterhin 20 Prozent bei der Swiss Krono AG in Menznau, also an zwei Halbtagen. Allerdings möchte ich in den nächsten zwei Jahren zusätzlich noch meine Berufsmatur im Selbststudium absolvieren. 

Auszug aus der Rangliste: Siebenkampf Frauen (20 Klassierte): 1. Géraldine Ruckstuhl, Schweiz/STV Altbüron, 6274 (100 m Hürden 14,22; Hoch 1,76 m; Kugel 14,58 m; 200 m 25,22; Weit 5,87 m; Speer 54,82 m; 800 m 2:12,05); 2. Sophie Weissenberg, Deutschland, 6175 (14,21; 1,82; 14,18; 24,67; 6,04; 47,92; 2:20,39); 3. Hanne Maudens, Belgien, 6093 (14,06; 1,73; 13,36; 24,17; 6,22; 37,40; 2:08,79); 19. Lydia Boll, Schweiz, 5122 (15,10; 1,58; 11,60; 26,00; 5,35; 39,58; 2:19,25). – Speerwerfen Frauen (20): 1. Annika Fuchs, Deutschland, 63,68; 2. Eda Tugsuz, Türkei, 61,03; 3. Evelina Mendes, Frankreich, 55,57; 4. Luisa Sinigaliga, Italien, 52,23; 5. Géraldine Ruckstuhl, Schweiz/STV Altbüron, 51,84. 

Der Weg zum Gold

Géraldine Ruckstuhl vom STV Altbüron gewann an der U23-EM in Schweden ihre dritte Siebenkampf-Medaille an einer internationalen Meisterschaft innert fünf Jahren. 2015 wurde die 21-Jährige in Kolumbien U18-Weltmeisterin, 2017 in Italien EM-Zweite der U20-Altersklasse und nun fügte sie ihrem Leistungsausweis den Titel der U23-Europameisterin hinzu. Dank optimaler Trainingsarbeit mit ihren Trainern Terry McHugh, Adrian Rothenbühler und Raphaël Monachon wurde dieser Triumph Tatsache. 

Nach einem etwas schwierigen ersten Wettkampftag lag Ruckstuhl mit etlichem Rückstand auf dem 4. Rang. Am zweiten Wettkampftag arbeitete sich Ruckstuhl Position um Position nach vorne. Mit 5,87 m im Weitsprung schob sie sich auf den Bronzeplatz nach vorne, dank 54,82 m im Speerwerfen lag sie nach sechs Disziplinen auf Platz 2 und im 800-m-Lauf fing sie mit einer persönlichen Bestzeit von 2:12,05 Minuten auch noch die Deutsche Sophie Weissenberg ab. Mit 6274 Punkten übertraf die Schweizer Rekordhalterin (6391 Punkte) zum achten Mal die Marke von 6000 Punkten. Sie siegte mit 99 Punkten Vorsprung auf die Deutsche Sophie Weissenberg. Bronzegewinnerin Hanne Maudens aus Belgien erreichte 6093 Punkte.