Wenn Glockenklänge Lebenskraft schenken
Was für ein Erfolg für das Initiativkomitee der Glockeninitiative Aarwangen. 1100 Unterschriften wurden innert zwei Monaten gesammelt, jede und jeder dritte Stimmberechtigte hat somit die Initiative unterzeichnet, 319 Unterschriften wären nötig gewesen. Ein Beschwerdeführer gegen das nächtliche Kuhglockengeläut hat seine Eingabe inzwischen zurückgezogen, der zweite wird im Oktober aus Aarwangen wegziehen.
Aarwangen · «Das ist eine unglaubliche Solidarität», zeigt sich der Landwirt Ernst Gerber sowohl bewegt wie beeindruckt und blickt in die Runde der gut 100 Sympathisanten, die am vergangenen Freitag mit dabei waren, als die 1100 Unterschriften an Gemeindepräsident Niklaus Lundsgaard-Hansen offiziell überreicht wurden. «So viele Menschen, das ist enorm. Sie alle zeigen offen, was ein grosser Teil der Bevölkerung im Stillen denkt.»
Mit und nicht gegeneinander
Gegen das nächtliche Glockengeläut der Kühe von Ernst Gerber war im vergangenen Jahr eine Beschwerde eingereicht worden, die das Ganze ins Rollen gebracht hat (der «UE» berichtete). Daraufhin wurde ein Initiativkomitee mit Andreas Baumann an der Spitze aktiv, das im Mai 2023 die Unterschriftensammlung lancierte und im Rekordtempo 1100 Unterschriften zusammentrug, was einem Drittel der Stimmberechtigten in Aarwangen entspricht. Am Freitagabend, vier Monate vor Ablauf der Sammelfrist, wurden diese nun den Behörden übergeben. Vor der eigentlichen Übergabe haben sich die Sympathisanten beim Hof von Ernst Gerber versammelt und sind mit Glockengeläut vom Mumenthal zum Gemeindehaus durchs Dorf gezogen. Am Strassenrand wurden sie von weiteren Frauen, Männern und Kindern mit Glocken begrüsst. Beim Gemeindehaus angekommen, zeigte sich der Bauernsohn und Neurologe Andreas Baumann hocherfreut über die Unterstützung und betonte in einer kurzen Ansprache: «Vordergründig geht es heute um das Glockengeläut an der Kirche sowie den Klang von Glocken, Schellen und Treicheln an Nutztieren. In Tat und Wahrheit geht es aber um sehr viel mehr. Es geht darum, wie wir als Schweizerinnen und Schweizer unsere gelebten Traditionen in der Zukunft bewahren und pflegen wollen.» Die Initiative verlange, dass die Gemeinde ein Reglement erarbeitet, die ein massvolles Nebeneinander der traditionellen Klänge an Kirchen und Nutztieren im Einklang mit der Lärmschutzverordnung und dem individuellen Bedürfnis nach Ruhe ermögliche. «Es geht nicht darum, in Polemik darüber zu reden, was jemand gut oder schlecht findet, welche Stimmen im Quartier für oder welche Stimmen nun dagegen sind. Es geht darum, einen politischen Diskurs anzustossen.» Das Miteinander und nicht Gegeneinander griff auch Gemeindepräsident Niklaus Lundsgaard-Hansen auf: «Ich bin sehr sicher, dass diese Initiative angenommen wird,» liess er durchblicken, bedacht, keine Stellung zu nehmen. «Ich hoffe aber, dass dies nicht zu einer Spaltung in Aarwangen führt.»
Abstimmungen Ende 2023 und im Juni 2024
Wie geht es nun weiter? «Wir werden zunächst die Gültigkeit der Unterschriften beglaubigen müssen, danach wird die Initiative den Stimmberechtigten vorgelegt», erklärt Niklaus Lundsgaard-Hansen gegenüber dem «Unter-Emmentaler». Dies dürfte entweder an der ordentlichen Gemeindeversammlung am 11. Dezember oder – angesichts der Vielzahl der anstehenden Geschäfte – an einer ausserordentlichen Versammlung bereits im November sein. Danach werde der Gemeinderat beziehungsweise die Verwaltung das Reglement unter Einbezug eines Juristen und eventuell des Initiativkomitees ausarbeiten. Niklaus Lundsgaard-Hansen geht davon aus, dass das Reglement dann an der Gemeindeversammlung im Juni 2024 zur Abstimmung gelangen wird. «Ich bin sehr gespannt darauf, was für Stimmen sich an den Gemeindeversammlungen zu Wort melden werden.» Er hoffe auf einen Dialog und kein zweigeteiltes Dorf, betonte er noch einmal. Ein Anliegen, das auch für Andreas Baumann zentral ist. So hat er vor Kurzem das Gespräch gesucht mit einem der beiden Beschwerdeführenden. Es blieb zwar ergebnislos, doch wird dieser Aarwangen im Oktober verlassen. Der andere hat seine Beschwerde bereits Ende Mai von sich aus zurückgezogen. Für eine Stellungnahme gegenüber den Medien waren aber beide nicht zu haben. Für Andreas Baumann ist aber klar: «Es geht hier nicht um die Beschwerde gegen die Glocken des traditionsbewussten Landwirtes, es geht darum, dass sich eine Bürgerinitiative aus Aarwangen dafür einsetzt, darüber zu sprechen, wie wir unsere Tradition bewahren wollen.»
Lebenskraft dank Glockenklängen
Auch wenn Andreas Baumann die grosse Zahl der 1100 Unterschriften sehr freue, so seien für ihn noch viel wertvoller all die Zettelchen und Briefe, die er erhalten habe, auf denen ihm die Menschen sagen, dass ihnen etwas fehlen würde, wenn die Glocken nicht mehr da wären. Ein Brief einer schwer erkrankten neuzugezogenen Frau, die ihre Wohnung nur selten verlassen kann, habe ihn dabei besonders bewegt. Sie schrieb: «Die Glocken gaben mir, bei allem Heimweh, das Gefühl, hier irgendwie doch zu Hause zu sein. Am Morgen gaben sie mir Kraft, mich nicht gleich schon vor dem Frühstück zum Sterben einrollen zu wollen. Ich war sehr allein, aber die Weidetiere waren noch da. Ich hätte ohne diese Glocken möglicherweise komplett aufgegeben im vergangenen Jahr. Und ich bin garantiert nicht der einzige Mensch, der daraus immensen Trost gewinnt. So wichtig kann eine kleine Schelle am Hals eines Rindviehs sein, jawohl!» Beim Lesen dieses Briefes habe er gewusst: «Es ist wichtig, sich für die gelebten Traditionen einzusetzen, um diesen Diskurs führen zu können.»
Von Thomas Peter