Wenn Verantwortung nicht mehr gelebt wird ...
Politgeograf Michael Hermann sieht die Schweizer Verantwortungskultur in Gefahr. An einem überparteilichen Wahlanlass im Hotel «Guter Hirte» in Huttwil mahnte er, sorgsam mit einer Errungenschaft umzugehen, die seit der Gründung des Bundesstaates tief in der «DNA» unseres Landes verankert ist.
Am 20. Oktober wählen die Huttwilerinnen und Huttwiler einen neuen Gemeinderat. Aus diesem Grund veranstalteten die sechs Parteien FDP, SVP, EDU, SP, Grünliberale und Die Mitte einen überparteilichen Wahlanlass, an dem sich alle Kandidierenden für den Gemeinderat vorstellen und Werbung in eigener Sache machen konnten. Therese Löffel, Präsidentin der FDP Huttwil, zeigte sich bei der Begrüssung in einem erstaunlich gut gefüllten Saal erfreut, dass sich so viele Personen für die Wahl in den Gemeinderat zur Verfügung stellen. Das zeige ihr, dass es noch Menschen gebe, die gewillt seien, Verantwortung für die Allgemeinheit zu übernehmen. «Wir als Gesellschaft sind gefordert, in allen Bereichen unseres Lebens wieder mehr Verantwortung zu übernehmen», appellierte sie an die Anwesenden.
Gespür für sozialen Ausgleich
Damit lieferte sie dem Gastreferenten des Abends, dem bekannten Politgeografen und Geschäftsführer des Meinungsforschungs-Instituts sotomo in Zürich, Michael Hermann, eine Steilvorlage. Der gebürtige Huttwiler sorgt sich nämlich um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land, weil er festgestellt hat, dass die Schweizer Verantwortungskultur in der Krise steckt. Einleitend präsentierte er den Anwesenden ein Bild von einer Firmenbelegschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Darauf waren die Mitarbeitenden der Firma Ammann in Langenthal zu sehen. Gemäss Hermann stehe das Bild symbolhaft für das Thema seines Referats. «Hier wird der Zusammenhalt zwischen der Firma, deren Chefs und den Mitarbeitenden eindrücklich dargestellt», erwähnte der Referent. Die Wirtschaft habe schon immer ein gutes Gespür gehabt für den sozialen Ausgleich in unserem Land, fügte Hermann hinzu.
Bevölkerung wird einiges zugetraut
Er erinnerte daran, dass 2012 das Schweizer Volk eine Initiative für sechs Wochen Ferien für alle abgelehnt habe. «Das war nur möglich, weil bei uns der Graben zwischen der Wirtschaft und den Angestellten nicht so gross ist wie in anderen Ländern und bei uns die gegenseitige Verantwortung funktioniert», gab er zu verstehen. Diese Verantwortung sei seit der Gründung unseres Bundesstaates 1848 tief in der «DNA» unseres Landes verankert. Der Referent blickte dabei zurück und erwähnte, dass es damals, 1848, vielerorts in Europa zu revolutionären Aufständen kam. Aber nur in der Schweiz sei die liberale Bewegung nachhaltig erfolgreich gewesen. «Aus dem Sonderweg nach 1848 entwickelte sich die schweizerische Kultur des Vertrauens.» Nur in unserem Land traue die Regierung der Bevölkerung einiges zu und lasse diese über Sachfragen abstimmen. «Dass man bei uns sogar die Armeewaffe zu Hause aufbewahren kann, ist Teil unserer Vertrauenskultur», bemerkte der Referent. Doch die Schweiz und mit ihr die Gesellschaft verändert sich. Michael Hermann stellt bei seinen Umfragen und Auswertungen eine zunehmende Wettbewerbs-Skepsis in unserem Land fest. «Die Leute sind für weniger Wettbewerb und für mehr staatliche Kontrolle.» Verantwortlich für diese Trendwende sei ebenfalls die Wirtschaft oder besser gesagt, einige Wirtschaftskapitäne und Manager. «Viele von ihnen haben sich in den letzten Jahrzehnten Amerika als Vorbild genommen, wo die Wirtschaft von Geld dominiert wird.» Auch hier hätten einige begonnen, die Gewinnmaximierung über alles andere zu stellen. Die Folge davon sei bekannt und unschön, wie etwa die Fälle der Swissair, der UBS und jüngst der CS beweisen würden, bei denen nur dank staatlicher Hilfe ein verheerendes Fiasko habe abgewendet werden können.
Es fand kein Linksrutsch statt
Diese Vorkommnisse haben laut dem Referenten dazu geführt, dass es auch in der Bevölkerung zu einer Veränderung gekommen ist. «Wir sind auf dem besten Weg, unsere Vertrauenskultur zu verlieren», zeigte sich Michael Hermann besorgt. Die Annahme der 13. AHV-Rente sei das beste Beispiel dafür. «Hier hat sich der Bürger gesagt, wenn wir allen anderen Geld geben und einige sich immer mehr nehmen, dann will ich jetzt auch ein Stück vom Kuchen», ordnet er die Abstimmung ein. Es habe sich in den letzten Jahren einiges getan in diesem Land und doch habe sich grundsätzlich nichts verändert, stellt Michael Hermann einigermassen erstaunt fest und liefert dazu die Erklärung: «Der Wähleranteil in unserem Land zeigt, dass seit dem zweiten Weltkrieg kein Linksrutsch stattfand, wie man das annehmen könnte.» In der Schweiz ändere sich nichts, wenn eine Partei bei den Wahlen ein paar Prozente Wähleranteile zulege, Veränderungen finden laut Michael Hermann in der Schweiz nur statt, wenn sich in der Mitte unseres politischen Spektrums die Haltung ändert. Aber der Graben zwischen den Parteien öffne sich weiter. Linke würden noch konsequenter links politisieren und wählen, das gleiche gelte für die rechte Seite. «Viele Leute vertreten immer extremere politische Positionen. Wir entfernen uns immer mehr voneinander, obwohl die Differenzen grundsätzlich sehr marginal sind», erklärte der Politgeograf.
Herausforderung für Gemeinden
Mitverantwortlich dafür sei auch, dass in unserem Land eine «Entdörflichung» des Dorfes stattfinde. «In vielen Gemeinden schliessen Beizen und Läden, Vereine haben Mühe, neue Mitglieder und ehrenamtliche Helfer zu finde. Das führt dazu, dass wir uns nicht mehr treffen und austauschen», wies Michael Hermann auf gesellschaftliche Entwicklungen hin. «Gemeinden erfahren die negativen Seiten der Urbanisierung, ohne die positiven zu entwickeln», kritisierte er und sprach von einer grossen Herausforderung, mit der viele Gemeinden konfrontiert seien. Er wolle aber niemanden depressiv nach Hause schicken, zeigte sich Michael Hermann zum Schluss versöhnlich. Wenn man sich etwas genauer in diesem Land umblicke, dann stelle man auch fest, dass es nach wie vor sehr viele Leute gebe, die bereit seien, Verantwortung zu übernehmen. «Viele nutzen diese Chance, wenn sie die Möglichkeit dazu erhalten. Der Geist unserer Verantwortungskultur, die vor fast 200 Jahren entstand, ist immer noch vorhanden», zeigte sich Michael Herrmann abschliessend doch noch hoffnungsvoll. Das beste Beispiel dafür lieferten anschliessend die Kandidierenden für den Huttwiler Gemeinderat. Insgesamt deren 24, so viele wie kaum jemals zuvor, bewerben sich um einen der sieben Gemeinderatssitze. Bei den Wahlen am 20. Oktober gibt es mindestens zwei neue Gemeinderäte zu wählen, denn mit dem abtretenden Gemeindepräsident Walter Rohrbach (Die Mitte) sowie Gemeinderat Sandro Schafroth (SP) treten zwei Mitglieder des Gremiums nicht zur Wiederwahl an. Alle übrigen Gemeinderäte (Manfred Eymann, Adrian Lienhart, Marcel Sommer, Alexander Grädel und André Schärer) stellen sich zur Wiederwahl.
Von Walter Ryser