«Wir sind noch nicht am Ziel angekommen»
Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss (SP) war eine aktive Kämpferin für das Frauenstimmrecht und setzt sich noch heute für die Gleichstellung ein. Anlässlich des «Frauen-Jahres» beantwortet sie dem Unter-Emmentaler ein paar Fragen zum Thema.
Das Interview führte Irmgard Bayard mit Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss
Obwohl Sie bereits 1960 20 Jahre alt waren, konnten Sie auf Bundesebene erst elf Jahre später abstimmen und wählen. War dies vor 1971 für Sie überhaupt ein Thema?
In Genf war ich mit 20 schon Vollbürgerin auf kantonaler und Gemeindeebene. Die Gegnerkampagne vor der negativen Abstimmung von 1959 empfand ich als entmündigend – was sie auch war – und beleidigend.
Wie haben Sie sich konkret für die Frauenrechte eingesetzt?
Die folgenden zwölf Jahre waren für mich eine sehr aktive politische Zeit. Ich trat der SP bei und sehr rasch auch den Gewerkschaften, engagierte mich für internationale Fragen, demonstrierte an der Uni und natürlich für das Frauenwahl- und -stimmrecht. Es gab viele Vorträge und Anlässe, sowie eine grosse Kundgebung in Bern, an denen ich teilnahm.
Waren Sie eine Alleinkämpferin oder haben sich in der Westschweiz Frauen zusammengetan?
Der Sieg schien uns in Reichweite und es gab eine sehr breite Teilnahme von Frauen aus verschiedenen Parteien und Berufsverbänden. Der Bund der Frauenorganisationen spielte eine wichtige Rolle. Und in der Westschweiz kämpften viele Männer auf unserer Seite. In Genf, um nur ein Beispiel zu nennen, stimmten weniger als 9 % der Männer gegen die politischen Rechte der Frauen.
Wie haben Sie die Frauenstreiks von 1991 und 2019 erlebt?
1991 wurde der Streik von den Gewerkschaften ausgerufen und getragen. Zu dieser Zeit war ich als Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds eine der Organisatorinnen. Und wir waren überwältigt vom Erfolg und von der Breite der Forderungen, die uns alle so stark vereinigte. 2019 war ich eine der 500 000 Frauen – und feministischen Männer – die zusammen die Gleichstellung weiterentwickeln wollten und die gegen Diskriminierungen und Gewalt an Frauen sowie an Menschen mit verschiedenen sexuellen Orientierungen demonstrierten.
Was hat sich Ihrer Meinung nach in Bezug auf die Gleichberechtigung positiv verändert?
Das Erreichen des Wahl- und Stimmrechts war nicht nur der Sieg einer hundertjährigen Bestrebung, es war nicht einfach das Ende der Verweigerung eines Menschenrechts, es war ein Anfang. Erst dann wurden die meisten Gesetze nach Diskriminierungen überprüft und korrigiert, zum Beispiel im Ehe- und Scheidungsrecht oder in der AHV. Auch Hindernisse in der Ausbildung, in der Berufswahl, beim Schwangerschaftsabbruch und beim Mutterschaftsurlaub wurden abgebaut.
Wo gibt es bis heute die grössten «Baustellen»?
Wir sind noch nicht am Ziel angekommen und brauchen effektivere Massnahmen im Bereich Lohngleichheit, Teilnahme an Verantwortungsgremien in den Betrieben und ebenso sehr Verbesserungen in Bezug auf die prekären und schlecht bezahlten Berufe, die meistens von Frauen ausgeübt werden. Die Wichtigkeit dieser Dienstleistungen, die während der Pandemie so offensichtlich wurde, muss auch eine bessere Anerkennung bekommen.
Hat sich für Sie die Arbeit als Gewerkschafterin positiv auf die Gleichberechtigung ausgewirkt?
In der Gewerkschaftsbewegung hat sich vieles geändert, als Frauen sich vermehrt engagierten, also Arbeiterinnen und dann auch Vertreterinnen der «neuen Frauenbewegung». Lange Zeit blieb die Besserstellung des männlichen «Ernährers der Familie» im Vordergrund und die Anliegen der Frauen waren zweitrangig. Das ist nicht mehr der Fall und ich bin glücklich, einen Beitrag dazu geleistet zu haben.
Wie engagieren Sie sich heute?
Heute bin ich wieder mehr auf internationaler Ebene tätig, zum Beispiel gegen die Todesstrafe und für Reformen in der Drogenpolitik. Aber ich verfolge immer die Themen, die mich seit jeher beschäftigen: die Sozialversicherungen, die Gesundheitspolitik, der Schutz der Umwelt und des Klimas, Migration.
Was raten Sie jungen Frauen, wie sie sich engagieren und wehren sollen?
Ich sage Ihnen, dass es Freude macht, sich mit vielen Gleichgesinnten für die Verbesserung der Gesellschaft einzusetzen und dabei viel zu lernen. Und dass es nicht nur darum geht, sich zu wehren, sondern Verantwortung wahrzunehmen.