Wir sind wie eine grosse Familie
Der Verein «Träffpunkt am Rand» begegnet der Not und Einsamkeit von Menschen, die von sozialer Ausgrenzung bedroht sind und bietet ihnen Gemeinschaft in familiärem Rahmen an. Für dieses ehrenamtliche Engagement wurde der unabhängige Verein mit dem Sozialpreis des Jahres 2021 der Stadt Langenthal, dotiert mit 10 000 Franken, ausgezeichnet.
Langenthal · «Es gibt mir ein starkes Gefühl von Familie hier, wenn ich jeweils die Menschen an den Tischen sitzen sehe – Menschen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen», sinniert David Fuhrer, Präsident und Vereinsgründer von «Träffpunkt am Rand». In diesem Moment sind die Leute glücklich.
So unterschiedlich wie ihre Geschichten und Schicksale sind die Menschen, welche den Treffpunkt besuchen. Es sind längst nicht nur Suchtkranke, sehr viele haben keine sozialen Kontakte und sind ungewollt allein. Einsamkeit ist ein grundsätzliches Thema, unabhängig von Weihnachten. Doch für Menschen am Rand ist sie in der Adventszeit noch spürbarer und weckt verklärte Erinnerungen an die Kindheit. Die Menschen sehnen sich besonders nach dem Aufgehobensein in der Gemeinschaft. «Deshalb feierten wir gemeinsam Weihnachten mit Singen und Musizieren. Bereits am Nikolaustag brachte der ‹Samichlous› allen ein Säcklein; einige haben noch nie eines erhalten», sagt David Fuhrer leise.
Wir sind eine Familie
Am wichtigsten ist das Zusammensein in einem familiären Rahmen und das gemeinsame Essen am grossen Holztisch. Zweimal wöchentlich bereiten Freiwillige im Vereinslokal am Dennliweg ein Abendessen zu, welches von bis zu 20 altersmässig durchmischten Gästen besucht wird. «Es gibt drei Menschen, die haben noch nie gefehlt in den vier Jahren», zeigt sich David Fuhrer beeindruckt. Von den Stammgästen hat jeder ein «Ämtli», sei es Tisch decken oder die Kaffeemaschine betreuen. Ein grosser Teil ist arbeitslos, andere sind berufstätig, oft in einem geschützten Rahmen oder bei temporären Projekten. Zu den Besucherinnen zählen auch ältere Frauen, die sich allein fühlen, seit ihre Männer verstorben sind, und Gesellschaft suchen. Sie sind die «Grosis», und einige betrachten David Fuhrer wie einen Vater. Er hat selber drei Kinder und seine Frau Mirjam unterstützt sein Engagement unter anderem als Vorstandsmitglied. «Uns allen ist es ein Anliegen, dass man von Familie spricht. Auch wenn die einen mehr Privilegien haben; wenn wir zusammensitzen, sieht man oft nicht, wer ist jetzt Mitarbeitender oder wer ist Gast. Wir begegnen uns auf Augenhöhe.»
Einsamkeit als gemeinsamer Nenner
Schon vor der Vereinsgründung hat sich David Fuhrer sozial engagiert, sei es in der Langenthaler Gassenküche oder wenn er regelmässig mit Kaffee und Gipfeli den Wuhrplatz besuchte. Die tragischen Geschichten von Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen und ausserhalb des «Wuhr» keinen Ort haben, bewegten den 47-Jährigen. Neben seinem Beruf als Werk- und Zeichenlehrer in Zofingen ist er auch künstlerisch tätig. Gegründet wurde der «Träffpunkt am Rand» im März 2018. Heute sind es zehn Freiwillige, die für das Wohl der Gäste besorgt sind. Finanziert wird der unabhängige Verein mit Spenden von Gönnerinnen und Gönnern, Institutionen sowie Einzelpersonen. Der Verein versucht, Personen in schwierigen Lebenslagen bei der sozialen Integration zu unterstützen, eigenständiger zu werden. Manchmal kann geholfen werden, indem gute Adressen vermittelt werden, etwa bezüglich Finanzberatung oder Wohnungsvermittlung.
Ein Daheim zum Wohlfühlen
Der originell eingerichtete Raum wirkt einladend: Hier sind alle willkommen. Im Zentrum stehen zwei lange Holztische, eine Theke, Möbelstücke im Retrostil, Bilder und liebevoll ausgesuchte Accessoires, die den Kellerraum in eine heimelige Wohnstube verwandeln. Auf einem Blechschild an der Wand ist eine Harley Davidson abgebildet. Ursprünglich hat David Fuhrer Töffmechaniker gelernt und lässt diese Leidenschaft mit unkonventionellen Gegenständen wie einem restaurierten Fahrrad oder einer legendären Mobylette in den Raum einfliessen. «Dadurch entstehen oft spontane Fachsimpeleien unter den Gästen», meint er mit einem Schmunzeln. Für sie ist dieser Treffpunkt nicht selbstverständlich. Sie schätzen einen schönen Ort, eine Familie, wo sie sich wohl und geborgen fühlen. Selber wagen sie sich oft nicht, in ein gemütliches Kaffee zu gehen oder können es sich schlicht nicht leisten. Während der Pandemie ist die Zahl deutlich zurückgegangen. Damit sich die Leute im Vorraum trotzdem treffen konnten, wurde auf Take-away umgestellt.
Nächstenliebe, ohne zu missionieren
«Wir vertreten christliche Werte. Das wollen wir leben, aber nicht predigen», betont David Fuhrer. Ihre Mission sei Nächstenliebe und Annahme gegenüber den Menschen. Sie würden spüren, hier herrsche eine gute Gesinnung und Menschen, die sie gerne haben. Dadurch bekommen sie mehr Stabilität und Vertrauen, sich zu öffnen. Gerne erzählen sie auf dem behaglichen Sofa oder kommen schon mal in die Küche und berichten, wenn der Hund krank ist oder sie ein neues Werkzeug gekauft haben.
Sozialpreis der Stadt Langenthal
Die Anerkennung durch die Stadt fördert den Stellenwert und das Ansehen sozialer Leistungen in der Gesellschaft. «Wir sind überrascht und dankbar über diese Wertschätzung. Diese unerwartete Auszeichnung öffnet neue Türen. Geplant ist noch nichts Konkretes, auch wenn Ideen und Visionen durchaus vorhanden sind», argumentiert David Fuhrer. Mit einem Raum im Stadtzentrum könnte beispielsweise ein Mittagstisch angeboten oder irgendwann ein Bistro eröffnet werden und Gäste des Treffpunkts am Rand mitarbeiten.
Von Brigitte Meier