Zu Hause ist es überraschend ruhig, aber …
Der wochenlange Corona-Ausnahmezustand kann für Paare und Familien zu einer Belastung werden. Häusliche Gewalt könnte zunehmen. Doch diese Befürchtung hat sich bislang nicht bestätigt. Der Oberaargauer Regierungsstatthalter Marc Häusler differenziert jedoch: «Tatsächlich haben wir nicht mehr Meldungen über häusliche Gewalt als sonst, aber wir wissen nicht, was noch auf uns zukommt», sagt er, mit dem Hinweis darauf, dass Gewaltopfer bislang kaum die Möglichkeit hatten, Verfehlungen unbemerkt von Partner und Familie zu melden, was mit den eintretenden Lockerungen aber durchaus vermehrt geschehen könnte.
Oberaargau · Seit mehreren Wochen leben wir wegen der Corona-Pandemie im sozialen Ausnahmezustand. Ängste und Sorgen belasten uns und wirken sich auf das psychische Wohlbefinden aus. Für Paare und Familien in schwierigen Lebensphasen kann die Situation besonders dramatisch sein. Fachpersonen warnen seit längerer Zeit, es müsse mit einem Anstieg von häuslicher Gewalt gerechnet werden. Während viele Länder ansteigende Fallzahlen von häuslicher Gewalt melden, ist es diesbezüglich in der Schweiz relativ ruhig geblieben. Zwar vermeldeten Frauenhäuser in St. Gallen und Zürich eine Zunahme der Anrufe und zum Teil auch eine vermehrte Aufnahme von Frauen, aber gesamtschweizerisch präsentiert sich die Lage stabil. Trotzdem: Experten vermuten, dass die Vorfälle zunehmen, aber aufgrund der aktuellen Lage deutlich weniger gemeldet werden.
Anderes Szenario erwartet
Ähnlich präsentiert sich die Lage in unserer Region, wie Marc Häusler, Regierungsstatthalter Oberaargau, auf Anfrage bestätigte. «Im Bereich der häuslichen Gewalt ist es in unserer Region aktuell überraschend ruhig und stabil», sagt er und erwähnt, dass man seit Anfang Jahr 13 Fälle von häuslicher Gewalt registriert habe, davon deren vier während des Corona-bedingten Lockdowns. Weshalb die Fallzahlen bislang nicht anstiegen, das könne er nicht sagen, da sei wohl ein Psychologe die bessere Ansprechperson. Häusler vermutet jedoch, dass sich Paare und Familien auf die besondere Situation einstellen und sich momentan im Umgang miteinander mehr Mühe geben. Der Regierungsstatthalter gibt zu, dass er von dieser Situation etwas überrascht ist, «denn wir haben uns auf ein anderes Szenario eingestellt. Aber bislang gab es keinen Fall, bei dem wir genötigt gewesen wären, ein sogenanntes Tätergespräch zu führen», gibt er zu verstehen. Doch Marc Häusler traut dem häuslichen Frieden nicht ganz. «Es könnte durchaus sein, dass bislang gewisse Verfehlungen einfach nicht gemeldet wurden, weil der Partner oder Familienmitglieder omnipräsent sind», sagt er. Es würde ihn deshalb nicht sonderlich überraschen, wenn mit den eintretenden Lockerungen die Fallzahlen plötzlich doch noch ansteigen würden, bemerkte er abschliessend.
Damit dies nicht geschieht, haben sich die beiden Organisationen «Ihre Kultur – unsere Begleitung vor Ort» (IKuB) Niederbipp sowie die «Schoio Familienhilfe» in Langenthal entschlossen, vorübergehend eine Familienberatungshotline für den Oberaargau anzubieten (Beratungen sind kostenlos und unverbindlich).
Eine zusätzliche Hilfestellung
Eltern, Jugendliche, Kinder und weitere Bezugspersonen können sich während der ganzen Woche telefonisch melden (032/530 11 22). Erfahrene Mitarbeitende beider Organisationen bieten täglich, während bestimmten Zeiten, unkomplizierte, fachliche und regionale Unterstützung und Beratung an (der «Unter-Emmentaler» berichtete). Bei «Schoio» hat man Erfahrung in Begleitung von Familien in schwierigen Situationen. Hier habe man nach dem verordneten Lockdown gespürt, dass sich durch die neue Ausgangslage eine bereits angespannte Situation in einer Familie zusätzlich verschärfen kann, berichtet Sarah Bleiker, Heil- und Sozialpädagogin sowie Fachbereichsleiterin Fallunspezifische Sozialraumarbeit bei der Schoio AG. «Deshalb wollten wir während der ausserordentlichen Lage Familien eine zusätzliche Hilfestellung bieten», erläutert sie die Gründe für die Schaffung der Familienberatungshotline Oberaargau. Bleiker ist nämlich überzeugt, wenn man frühzeitig handelt, kann man gute und für alle Beteiligten befriedigende Lösungsansätze erarbeiten.
Zusätzliches Konfliktpotenzial
Gleichzeitig macht sie aber auch klar, dass sich durch die aktuelle Lage eine angespannte Situation in einer Familie nicht zwangsläufig verschärfen muss, sondern auch positiv entwickeln kann. «Aber grundsätzlich stellen wir fest, dass durch die neue Situation in vielen Familien zusätzliches Konfliktpotenzial entstanden ist.» Diese Aussage beziehe sie nicht bloss auf jene Familien, die man bei «Schoio» bereits zuvor begleitet habe, denn während des Corona-Lockdowns seien auch neue Fälle dazugekommen, die diese Aussage bestätigen würden. Ob der Lockdown nun zu mehr Fällen von häuslicher Gewalt oder zu schwerwiegenderen Familienproblemen im Vergleich zu den Vorjahren geführt hat, lasse sich zum jetzigen Zeitpunkt schlicht nicht schlüssig beantworten, betont Sarah Bleiker, denn für eine solche Analyse sei es noch viel zu früh, weil auch sie vermutet, dass in diesem Bereich vieles noch im Dunkeln liegt. Gerade deshalb appelliert sie an Familien und deren Mitglieder, in einer schwierigen Situation externe Hilfe zu holen. «Obwohl für Aussenstehende gewisse Probleme klein und unwichtig erscheinen, können diese eine Person oft stark beschäftigen. In solchen Momenten ist es sicher nicht falsch, externe Hilfe beizuziehen, denn bei familiären Problemen gibt es keine unwichtigen Fragen», ermuntert sie Betroffene, die Familienberatungshotline zu kontaktieren, «weil man sich sofort besser und sicherer fühlt, wenn man sich jemandem anvertrauen kann.»
Von Walter Ryser