• Im Schweizer Fernsehen machte die 22-jährige Linda Leuenberger auf Machtmissbrauch in ihrem Schwimmverein aufmerksam. · Bild: SRF

19.11.2020
Sport

«Zuckerbrot- und Peitsche-Erziehung war heftig»

Linda Leuenberger, Ex-Schwimmerin SK Langenthal – Während ihrer Schwimmsportkarriere erlebte die heute 22-jährige Langenthalerin Linda Leuenberger Machtmissbrauch im Verein. Im «Sportpanorama» im Schweizer Fernsehen äusserte sie sich. Der «UE» befragte sie nach dem sportlichen Coming-out. Er liess auch den betroffenen Schwimmklub zu Wort kommen. Der in der Kritik stehende Trainer* war nicht erreichbar.

Schwimmen · Seit Monaten ist der Schweizerische Turnverband wegen Verfehlungen im Gespräch. In den Disziplinen Kunstturnen und Rhythmische Gymnastik wurden immer wieder Spitzenturnerinnen von ihren Trainern gedemütigt. Das Thema wurde auch in der Sendung «Sportpanorama» auf SRF2 am vergangenen Sonntag wieder aufgegriffen. Völlig überraschend folgte nach der Berichterstattung im Turnbereich auch noch ein Zusatzbericht.

«Geschehenes darf nicht mehr sein»
Die Magglingen-Protokolle haben zwei Schwimmerinnen dazu bewogen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Im Bericht im Sportpanorama schilderte das Duo im Restaurant Chrämerhuus in Langenthal verbale Verfehlungen ihres damaligen Haupt-Schwimmtrainers. «Mein Bestreben bestand darin, einen Beitrag zum durch die Magglingen-Protokolle entfachten gesamtschweizerischen Diskurs zu leisten. Ich befürworte eine verstärkte Qualitätssicherung auf allen Ebenen des Schweizer Sports», begründet Linda Leuenberger den Schritt an die Öffentlichkeit. Die heute 22-jährige Journalistin möchte einfach, dass sich Geschehenes nicht mehr wiederholt. «Junge Sportlerinnen und Sportler sollen in Zukunft besser geschützt werden.» Sie hegt mit ihrem Schritt an die Öffentlichkeit keine Rachegelüste. «Ich habe keine Vergeltungsgedanken. Ich habe auch kein Interesse daran, einer oder mehreren Personen oder einem Verein in irgendeiner Form zu schaden.» Darum nennt Leuenberger weder den Headcoach noch ihren einstigen Schwimmverein namentlich.

Negativerlebnis beim ersten SM-Start Wie ihre einstige Wassersport-Trainingskollegin Zoë Dasilva, mit der sie im Sportpanorama zu sehen war, wühlten die Magglingen-Protokolle die eigenen Erlebnisse auf. «Ich konnte mich so gut mit den Turnerinnen identifizieren, erlebte Flashbacks», erzählt die in Langenthal aufgewachsene Linda Leuenberger. Als Siebenjährige begann sie mit dem Schwimmsport. Leuenberger war talentiert. Doch die einstige Spitzenschwimmerin erinnert sich rückblickend an mehrere Verfehlungen, eine davon an ihrer ersten Schweizermeisterschaft im Juli 2009 in Renens: «In einem Rennen schwamm ich nicht so gut, wie mein Trainer es gerne gehabt hätte. Er beschuldigte anschliessend meine damalige Zimmerkollegin. Sie sei schuldig für meine schlechte Leistung. Er tobte richtig», erinnert sich Leuenberger. Diese ungerechte Behandlung verletzte sie sehr. Da Linda Leuenberger zu den besten Nachwuchsschwimmerinnen des Vereins gehörte – zu einem Sprung in ein Nachwuchs-Nationalkader reichte es nicht – und in der Folge eifrig Medaillen an Schweizermeisterschaften sammelte, erntete sie auch viel Lob. «Es hat uns viel bedeutet, wenn er uns lobte. Im Nachhinein gesehen rechtfertigt es aber nicht die passierten Demütigungen», findet Leuenberger im Rückblick auf die «Zuckerbrot- und Peitsche-Erziehung» ihres Haupttrainers. «Wir wurden unter anderem durch Aufmerksamkeitsentzug auf ungesunde Art von seinem Lob abhängig, dass wir Demütigungen über uns ergehen liessen. Rückblickend würde ich von emotionalem Missbrauch sprechen.»

«Ein Trainer darf hart sein»
Linda Leuenberger war zu dieser Zeit ein Kind, trainierte in der Leistungssportgruppe im Alter von etwa 11 bis 16 Jahren. «Es ist wichtig, dass dich dein Trainer stützt – und nicht ignoriert, beschimpft, beleidigt und Teamkolleginnen gegeneinander ausspielt.» Acht Trainings in sechs Tagen absolvierte sie damals. Sie war motiviert, so gut wie möglich zu sein und dafür hart zu trainieren. Die Erfolge blieben nicht aus. Am Schweizer Jugend-Cup-Final im April 2011 in Chur wurde Linda Leuenberger beispielsweise als beste Schweizer Schwimmerin mit Jahrgang 1998 ausgezeichnet. Leuenberger sammelte beim Nachwuchs viele Medaillen. «Ein Trainer darf hart sein, muss manchmal durchgreifen, damit solch hohe Ziele erreicht werden können. Aber es sollte immer auf Augenhöhe passieren», sagt die nun in Luzern lebende Ex-Schwimmerin. Fairness sei elementar. Ihre Mutter war damals als Administrations-Verantwortliche im Vorstand ihres Schwimmklubs. «Sie und andere Eltern haben die Zwischenfälle beim Trainer und Verein angesprochen – leider jeweils langfristig erfolglos», berichtet Leuenberger.

Zu Übertraining gedrängt
Schon mit 13 Jahren ging es mit Leuenbergers sportlichen Leistungen steil bergab. Rückblickend hat dies wohl am Übertraining gelegen, wie sie sagt. «Mir wurde eingetrichtert, dass ich schlecht sei, weil ich zu wenig trainiere. Ich war erschöpft, aber habe es geglaubt.» Im Alter von 16 Jahren, als sie die Freude am Schwimmen längst verloren hatte, hörte Linda Leuenberger mit dem Sport, der ihr einst alles bedeutete, auf. Aufwand und Ertrag haben für sie nicht mehr gestimmt. Heute geht sie nur noch zum Plausch baden. «Es kommt höchst selten vor, dass ich ein paar Längen ziehe, zumal ich Schwimm- und Hallenbäder sowieso meide.» Den sportlichen Ausgleich findet sie mittlerweile mit Besuchen im Fitnessstudio.

Schwimmklub-Präsident antwortet
Im «Sportpanorama»-Bericht kamen der betroffene Headcoach sowie der Schwimmverein von Linda Leuenberger nicht zu Wort. Der «UE» rechechierte und fragte nach. Linda Leuenberger war 2005 bis 2014 Aktivmitglied des Schwimmklubs Langenthal. Christoph Bühler ist seit der Saison 2010/11 Präsident des erfolgreichen Oberaargauer Schwimmvereins. Er nimmt zu den Vorwürfen Stellung. «Verfehlungen in der Art, wie diese neulich in den Medien von Linda Leuenberger und Zoë Dasilva geschildert wurden, tolerieren wir grundsätzlich in unserem Verein nicht. Weder bei den jüngsten Kindern, noch in den ambitionierten Leistungssportgruppen. Wir sind überrascht und zugleich bestürzt über die Schilderungen der Vorkommnisse Jahre danach», sagt Bühler. «Die Athleten trainieren dem Alter entsprechend je nach Talent und Potenzial mehrere Einheiten pro Woche. Die Trainer sind grundsätzlich mit viel Herzblut und Emotionen dabei und versuchen gleichzeitig zu fordern wie auch zu fördern; die Eltern sowie der Vereinsvorstand wollen ebenfalls das Beste für ihre Athleten», meint Bühler, während seiner Aktivzeit elffacher Schweizermeister und Olympiateilnehmer 2000 in Sydney.

Meinungsverschiedenheiten
«Der Vereinsvorstand ist und war in der Vergangenheit oft durch Eltern der aktiven Schwimmer besetzt, welche dadurch in einer Doppelfunktion stehen. Sie können dadurch oft direkt zur Lösungsfindung beitragen oder Situationen relativieren. Das Engagement aller Beteiligten ist gross, die Erwartungen ebenfalls», sagt der 46-Jährige.
«Der Trainer fordert eine professionelle Trainingseinstellung und Disziplin; der Athlet will fair und mit Anstand gefördert werden. Und doch kommt es neben all den schönen und positiven Erlebnissen immer wieder zu
Meinungsverschiedenheiten, Enttäuschungen oder Frustration auf Seiten der Athleten oder auf Seiten Trainer. Gemeinsam sucht man nach Gründen für ausbleibende Leistungen bei doch immensem Trainingsaufwand und Engagement – die Teammitglieder erleben dies mit und bilden sich selber auch ihre eigene Meinung.»
Der Präsident des aktuell 170 Mitglieder zählenden Schwimmklubs Langenthal weiter: «Wir achten seit Jahren darauf, dass wir Konflikte im Dialog mit den Betroffenen besprechen und im Beisein der Athleten, Eltern, Trainer und dem Vorstand lösen. Konkrete Vorkommnisse wurden auch mit dem beschuldigten Trainer thematisiert, auch im Beisein der beiden Mütter, die zugleich im Vorstand vertreten waren. Die Türen waren stets offen und der Dialog wurde geführt, früher wie heute.» Bühler, der zusammen mit dem gebürtigen Huttwiler Spitzenschwimmer Lorenz Liechti in Staffeln zahlreiche Schweizerrekorde aufstellte, schliesst wie folgt: «Wir sind bestrebt, uns laufend zu verbessern, investieren in die Ausbildung unserer Trainer und halten uns an die Vorgaben von Jugend+Sport. Wir führen regelmässig Elternabende durch, um die Anliegen der Athleten/Eltern besprechen zu können. Des Weiteren besteht an der jährlichen Mitgliederversammlung ein weiteres Gefäss für den Austausch und Dialog mit allen Beteiligten. Ausserdem verfügt der Schwimmverband gemäss Stellungnahme auf seiner Website seit einigen Jahren über eine Meldestelle für allfällige Vorkommnisse. Wir stehen für einen fairen Sport ein und bedauern es, wenn sich Athleten Jahre danach nicht richtig
behandelt oder nicht richtig verstanden gefühlt haben. Um so mehr freut es mich, dass Linda und Zoë heute nach wie vor Mitglied im Trainerteam sind.»

Zufriedenes aktuelles Aushängeschild
Vom aktuellen sportlichen Aushängeschild des Schwimmklubs Langenthal wollte der «UE» wissen, wie sich die aktuelle Situation in den Trainings präsentiert. «Ich gehe sechsmal pro Woche in das Schwimmtraining und freue mich immer sehr darauf», antwortet Ann Grossenbacher. «Die Trainings sind immer super. Ich habe mich auch noch nie schlecht behandelt gefühlt», sagt die 15-jährige Gymnasiastin aus Huttwil. «Meine Trainerin Yvonne Geiser macht einen super Job», lobt Grossenbacher, die bereits seit sieben Jahren beim Schwimmklub Langenthal trainiert.
Der «UE»-Sport wollte auch den damaligen und in der Kritik stehenden Headcoach zu Wort kommen lassen. Dieser konnte aber weder auf telefonischem noch schriftlichem Weg erreicht werden.


* Name der Redaktion bekannt

Von Stefan Leuenberger