Zwei Mal über den Atlantik spaziert
Nächsten Juni liegt der Aufruf von Fritz Müller für einen gemeinsamen Morgenspaziergang in Madiswil bereits zehn Jahre zurück. Er hätte damals nicht gedacht, dass sich noch heute täglich Spaziergängerinnen und Spaziergänger um «Haubi Achti» auf dem Kirchplatz treffen, um den Tag mit Fitness und in Gemeinschaft anzugehen. Inzwischen dürfte auf insgesamt rund 2500 Spaziergängen bereits eine Strecke von Madiswil nach New York und retour zurückgelegt worden sein ...
Madiswil · Die Morgendämmerung ist bereits fortgeschritten, die Strassenlampen sind erloschen und der Verkehr brummt wie immer fleissig auf der Hauptstrasse. Es ist in Madiswil nicht wirklich kalt, aber doch so, dass sich die ungeschützten Hände nach einigen Minuten auf dem Velo langsam klamm anfühlen. Gerade noch rechtzeitig auf den Glockenschlag um
7.30 Uhr erreiche ich den Kirchplatz. Eine wackere Gruppe von zehn älteren Personen steht vor dem Chilespycher bereit, um loszuziehen. Wie an jedem Werktagmorgen machen sie sich auf den Weg für einen rund einstündigen Spaziergang in und um Madiswil.
«Hier duzen wir uns alle», sagt Fritz Müller zur Begrüssung gleich unkompliziert. Wegen der Corona-Pandemie verzichten wir auf das Händeschütteln, und mit genügend Distanz schreiten wir zuerst auf der Plattenstrasse und danach über die Felder entlang Richtung Zielacker. Fritz Müller läuft mit seinem geschnitzten Haselstock vorneweg. Er hat manchmal Mühe mit dem Atmen und leider lassen ihn auch seine Augen etwas im Stich. Er sieht nur noch Bruchstücke seiner Umgebung. Trotzdem wirkt sein Schritt sicher, denn er kennt den Weg auswendig. Jahrelang hatte er öffentliche Wanderwege gehegt und gepflegt, Wegrechte verteidigt oder sogar neue Fusswege angelegt.
Faszinierende Sicht aufs Dorf
Mein Schuhwerk ist ungenügend, meine Socken sind vom feuchtkühlen Gras bereits durchnässt. Doch die faszinierende Sicht auf das von Nebelschwaden durchzogene Dorf lässt solche Unannehmlichkeiten unwichtig erscheinen. Langsam, aber sicher lockert sich der Nebelvorhang, die Sonne drückt durch das noch sanfte Grau und über uns wird bereits der blaue Himmel sichtbar. Fritz Müller zeigt auf den Wanderweg, der dem Waldrand entlang führt und erzählt: «An zahlreichen Samstagen packte ich den Mäher und das nötige Material ein, fuhr mit dem Töffli hier rauf und habe das Gras gemäht, um den Weg wieder passierbar zu machen.»
Tiere beobachten, Pilze sammeln oder einfach sein
Wir tauchen in den Wald ein. «Im Frühling geniessen wir das Vogelgezwitscher. Manchmal können wir auch ein Reh, einen Fuchs oder sogar einen Schwarzspecht erspähen», erzählt Rösli Merz, die heute ausnahmsweise ohne ihren Mann René dabei ist. «Wenn die Gruppe jedoch zu gross ist, hören uns die Tiere und lassen sich nicht blicken.» So auch heute – die Spaziergängerinnen und Spaziergänger «prichte zäme» und es klingt auch immer wieder mal ein Lachen durch den Wald. Statt Tiere zu beobachten können wir aber den erdigfrischen Duft des Waldes geniessen. Auf dem Waldboden leuchtet das sattgrüne Moos im morgendlichen Licht und die noch etwas zaghaften Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg zwischen den teilweise mit Flechten bedeckten Baumstämmen hindurch. Fritz Müller deutet auf den kleinen Weg, der sich durch den Wald schlängelt: «Diesen Weg haben wir gepfadet.»
Für die Gesundheit und gegen Einsamkeit
Manchmal besteht die «Haubi-Achti»-Gruppe nur aus einer Handvoll Spaziergängerinnen und Spaziergängern, häufig sind es rund ein Dutzend. «Einmal waren wir sogar 20 Personen», erinnert sich Fritz Müller. Und in den insgesamt fast zehn Jahren ist es trotz Regen, Wind und Schnee nur einmal passiert, dass er ganz alleine losziehen musste.
Bei Hochrüti am Waldrand werfen wir einen Blick auf den Nebel, der noch immer in Richtung Jurasüdfuss liegt. Margrit Wittwer geniesst solche Augenblicke: «Ich bin, wenn immer möglich, dabei.» Auch für Alice Graber, mit 87 Jahren die inzwischen älteste Teilnehmerin, gehört dieser morgendliche Spaziergang zum Alltag. «Wenn ich nicht mitgehe, fehlt mir etwas.» Sie ist seit dem Beginn vor zehn Jahren regelmässig dabei. Neben der Bewegung fördert dieses Ritual auch Austausch und Gemeinschaft. Es kommen jedoch nicht nur Pensionierte mit, sondern auch Berufstätige, wenn es sich vor der Arbeit zeitlich einrichten lässt. «Der Hausarzt hatte sich bei mir augenzwinkernd beklagt, ich nähme ihm mit dieser Spaziergruppe die Kunden weg – weil die Leute dank der Bewegung eher fit und gesund blieben», erzählt Müller und lacht.
Der Tag beginnt ein zweites Mal
Weiter geht es durch den Wald, wir passieren ein paar Treppenstufen, die ebenfalls von Fritz Müller hergerichtet wurden. Es wird heller und als wir beim Zielacker aus dem Wald treten, leuchtet die Sonne wie ein greller Scheinwerfer auf uns.
Das goldige Gegenlicht bestätigt das bekannte Sprichwort «Morgenstund hat Gold im Mund». Die «Haubi-Achti»-Spaziergruppe wirft einen Blick auf das Dorf, das uns alle verbindet, und geht den Hang hinunter zurück Richtung Kirchplatz. Danach haben die Spaziergängerinnen und Spaziergänger noch fast den ganzen Tag vor sich – er startet nach dem Morgenspaziergang quasi ein zweites Mal.
Auch mein Arbeitstag kann zwar mit nassen Füssen, aber mit durchgelüftetem Kopf und einem guten Gefühl beginnen.
Fritz Müller
Fritz Müller kam 1934 zur Welt und wuchs im Madiswiler Ortsteil Rüppiswil auf. Er lernte Schreiner und wollte in jungen Jahren in die USA auswandern. Doch nach der Hochzeit mit Meili hatte er andere Pläne und verabschiedete sich von diesem Traum, es gab für das Ehepaar hier in der Heimat viel zu tun. Zudem gründeten sie eine Familie und zogen gemeinsam vier Kinder auf. Am 21. Januar 2021 konnte das Ehepaar nach 65 Jahren Ehe die «Eiserne Hochzeit» feiern.
Fritz Müller arbeitete 37 Jahre bei der ehemaligen Rohr AG in Madiswil im technischen Büro. Er hat aber auch sonst viel und oft mit Holz gearbeitet. Das Wohnhaus am Kirchgässli hat er selber ausgebaut und auch die eigenen Möbelstücke geschreinert. Sein Traum von der Auswanderung und einem Leben auf der anderen Seite des Atlantiks hat nun an seiner Stelle eine seiner Töchter verwirklicht, die seit 20 Jahren in Kanada lebt.
Die «Haubi-Achti»-Spaziergruppe
Meili Müller geht seit 29 Jahren jeden Werktag morgens um sieben mit einer Freundin spazieren. Die heute 89-Jährige hatte damit auch ihren Mann inspiriert. Nach seiner Pensionierung zog Fritz Müller rund zehn Jahre lang zusammen mit seinem Berner Sennenhund los. Als der Hund die langen Spaziergänge nicht mehr prästierte, fehlte dem Madiswiler «Ureinwohner» die Bewegung. Also rief er im Juni 2011 in der Madiswiler Dorfzeitung LINKSMÄHDER für einen gemeinsamen Morgenspaziergang um «Haubi Achti» auf. Er rannte damit offene Türen ein: Den Tag gemeinsam mit Bewegung und an der frischen Luft zu beginnen, stiess auf grossen Anklang, und damit war der inzwischen traditionelle Rundgang in und um Madiswil geboren. Fritz Müller lotst die Spazierenden immer wieder auf verschiedenen Wegen durch die Landschaft. Er kennt kleine, öffentliche Fusswege, von denen viele nicht mal wissen, dass es sie gibt. Die Unverbindlichkeit ist ihm ein Anliegen – jede und jeder, der Lust hat, kann spontan mitspazieren. Noch heute wird diese unkomplizierte Organisation geschätzt. Wer Zeit und Lust hat, in Gemeinschaft einen Spaziergang zu machen und neue Wege zu entdecken, ist herzlich willkommen. Der Spaziergang findet bei jedem Wetter von Montag bis Freitag statt und dauert 60 bis 90 Minuten. Weder Anmeldung noch Abmeldung sind erforderlich. Die einzige Verbindlichkeit ist die Startzeit: Punkt Haubi Achti auf dem Kirchplatz Madiswil.
Von Patrick Bachmann