• Erika Tiefenbach feierte vergangenen Freitag, als älteste Bürgerin in Affoltern ihren 100. Geburtstag. Noch immer wohnt die rüstige Rentnerin zuhause. · Bild: Marion Heiniger

02.10.2023
Emmental

100 «Chüechli» zum 100. Geburtstag

Die älteste Bürgerin von Affoltern wurde 100 Jahre alt. Dank der Hilfe durch die Spitex und ihrer Familie wohnt Erika Tiefenbach noch immer zuhause. Die rüstige Rentnerin macht gerne Ausflüge und sass bis vor zwei Jahren noch gerne auf dem Sozius vom Motorrad ihres Sohnes. An ihrem Geburtstag brachte ein Überraschungsbesuch 100 selbstgebackene Küchlein vorbei.

Affoltern · Erika Tiefenbach sitzt in ihrem Lieblingssessel in der Ecke des Wohnzimmers am Fenster. Vor ihr steht ein Rollator. Gleich daneben zwitschern zwei Wellensittiche. Nicht etwa in ihrem Käfig, sondern auf einem Ast. Einer der Sittiche startet und fliegt durch das Wohnzimmer in die Küche zum offenen Fenster, dass mit einem Fliegengitter gesichert ist. «Bei dem anderen Wellensittich haben sich die Schwungfedern nicht richtig ausgebildet, er kann nicht fliegen», erklärt Hanspeter Tiefenbach, der jüngste Sohn von Erika Tiefenbach. An diesem Freitagvormittag ist so einiges los im Stöckli, gleich gegenüber dem alten Dorfspycher von Affoltern. Erika Tiefenbach wird 100 Jahre alt und erfreut sich noch bester Gesundheit. Gemeindepräsident Roland Ryser ist zu Besuch und überbringt der ältesten Bürgerin von Affoltern die besten Glückwünsche.
Geboren wurde die rüstige Rentnerin am 29. September 1923 in Kirchdorf, nähe Thun, als Älteste von drei Schwestern. Ihr Vater war Sattler, ihre Mutter Ida, eine Bauerstochter aus Herbligen, Hebamme. Erika Tiefenbach erinnert sich an Erzählungen ihres Vaters. Als er um ihre Mutter warb, hätte er von deren Eltern die Antwort bekommen, dass sie keine Tochter hätten, die sie einem Sattler geben könnten. «Damals waren die Bauern den Handwerkern höhergestellt, doch ihr Vater gab nicht auf, bis er sie haben durfte», erzählt ihr Sohn weiter. Er wohnt mit seiner Familie im selben Haus im ersten Stock, die Mutter im Erdgeschoss.
Bis vor kurzem konnte sie noch vieles allein erledigen. Im Juni jedoch stürzte sie, seither fällt ihr das Gehen schwer und sie ist immer öfters auf fremde Hilfe angewiesen. Von der Spitex und von ihrer Familie. «Wir leben hier wie in einer Wohngemeinschaft, obwohl wir eigentlich im ersten Stock wohnen, spielt sich das Leben der Familie mehr oder weniger im Erdgeschoss ab, wir kochen und essen hier zusammen», erklärt Schwiegertochter Anne Tiefenbach.

Eine taffe Frau
Eine berufliche Ausbildung hat Erika Tiefenbacher nicht genossen. Sie arbeitete aber jahrelang als Haushälterin beim Radiodirektor von Radio Bern. «Das war damals ein wichtiger Mann während des Krieges», erklärt die rüstige Rentnerin mit stolzer Stimme, während sie ein gerahmtes Foto von ihrem verstorbenen Mann auf dem Piz Palü in den Händen hält. «Seit 62 Jahren bin ich Witwe, siebeneinhalb Jahre war wir verheiratet, als mein Mann an Leukämie starb. Er war ein guter Vater», erzählt sie den Tränen nahe. Oft waren die beiden auf dem Motorrad unterwegs. Damals wohnte die junge Familie in Zürich-Schwamendingen. Ihre drei Jungs waren beim Tod
des Vaters erst drei, fünf und sechseinhalb Jahre alt. «Meine Mutter ist eine taffe Frau, sie hat das mit uns drei Buben als Alleinerziehende sehr gut gemeistert, sie war Tagesmutter und ging putzen, um uns Kinder durchzubringen», merkt Hanspeter Tiefenbach stolz an.
Da auch er ein Motorrad fährt, fuhr Erika Tiefenbach immer gerne mit ihm mit. Das letzte Mal sass sie noch mit 98 Jahren auf dem Sozius. Oft hat sie ihren Sohn auch in die Türkei begleitet, als er dort in einer Mission arbeitete. «Einmal waren wir sogar in Syrien zusammen», erzählt Hanspeter Tiefenbach und blickt dabei liebevoll zu seiner Mutter. «Dort hat es mir gar nicht gefallen», gab die Rentnerin prompt zur Antwort. Reisen ist etwas, das Erika Tiefenbach noch immer gerne macht. Erst kürzlich war sie bei einem Ausflug auf dem Chasseral.

Küchlein zum Geburtstag
Seit 11 Jahren wohnt Erika Tiefenbach nun in Affoltern. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter hatten sie zu sich geholt. Davor lebte sie etwa 20 Jahre in Spiez, in der Nähe ihrer Schwester. «Ich hatte eine schöne Wohnung mit Blick auf den Thunersee», schwärmt die Rentnerin. In diesem Moment läutet es an der Tür. Eine gute Bekannte mit ihren Kindern kommt vorbei, um zu gratulieren. Mit dabei haben sie ein grosses Paket, darin 100 selbstgebackene und liebevoll verzierte Küchlein. «Nei, auso nei, das hät doch ztüe gäh», ruft Erika Tiefenbacher erfreut. «Geits dir guet?», fragt die Bekannte. «Es chönnt nid besser go», gibt die Jubilarin strahlend zur Antwort.
Auf die Bemerkung hin, dass sie nun die älteste Bürgerin von Affoltern sei, antwortete sie: «Ich kann nicht sagen wie, aber die Jahre sind schnell vorbeigegangen, es waren gute Jahre.» Auf die Frage, ob sie einen guten Rat hätte, wie man so alt werden könne, antwortete die 100-Jährige mit einem leichten Schulterzucken: «Ich weiss nicht, wie so etwas geht. Ich habe sehr einfach gelebt, mit drei Buben war es für mich allein sehr schwer, obwohl ich immer viele gute Leute um mich herum hatte.» Die Tage verbringt sie mit Lesen oder dem Stricken von Kinderpullovern und sie sieht sich im Fernseher gerne alte Schweizer Filme und Tiersendungen an. Auch Gesellschaftsspielen ist sie nicht abgeneigt und freut sich, wenn sie gewinnt. Noch jeden Tag macht sie mit dem Rollator ihre kleinen Runden an der frischen Luft ums Haus herum. Und noch immer geht sie einmal im Monat zur Bibelstunde vom Evangelischen Gemeinschaftswerk in Weier. «Nur mit dem Singen klappts nicht mehr so, es ist mehr nur noch ein Krächzen», gesteht sie lachend.

Von Marion Heiniger