• «Ich staune immer wieder, mit welcher Motivation unsere Mitarbeitenden in dieser schwierigen Situation bei der Arbeit sind und wie sie sich gegenseitig unterstützen», ist Spitaldirektor Andreas Kohli beeindruckt. · Bilder: Thomas Peter

  • «Wir haben und leben eine klar definierte Fehler-Kultur. Wir sprechen Fehler an und lernen daraus.»

  • «Wir stellen heute fest, dass in der schlimmsten Phase der Pandemie etliche Leute dem Spital ferngeblieben sind.»

  • «Wir sind uns des Stellenwertes unseres Betriebsklimas bewusst. Dieses muss funktionieren, sonst führt es irgendwann zu einer Eskalation.»

23.09.2021
Oberaargau

Andreas Kohli: «Corona hat uns an Grenzen geführt, aber auch zusammengeschweisst»

Spital Region Oberaargau (SRO) · Seit anderthalb Jahren hat uns die Corona-Krise fest im Griff, auch in unserer Region. Aber nicht nur die Krise, auch die Massnahmen, die dagegen ergriffen werden und nicht zuletzt die Situation in den Spitälern sorgt immer wieder für Aufsehen und heftige Diskussionen. Andreas Kohli, Direktor Spital Region Oberaargau AG (SRO), erläutert im Interview mit dem «Unter-Emmentaler» die Situation in seinem Unternehmen und sagt: «Corona hat uns an Grenzen geführt, aber auch zusammengeschweisst.»

Walter Ryser im Gespräch mit Andreas Kohli, Direktor Spital Region Oberaargau (SRO)

Andreas Kohli, ich könnte mir vorstellen, dass Sie mittlerweile an einem Corona-Koller leiden und langsam müde sind, über dieses Thema Auskunft zu geben?
Andreas Kohli: Ich sehe das vielmehr als Chance und Möglichkeit, unser Spital und seine Dienstleistungen in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Corona gehört mittlerweile zu unserem Alltag, die Pandemie ist ein Bestandteil unserer Arbeit. Deshalb beschäftigen wir uns täglich damit, genauso, wie dies andere Leute in ihren Unternehmungen mit bestimmten, wiederkehrenden Themen auch tun.

Doch wir kommen nicht darum herum: Wie präsentiert sich die aktuelle Corona-Lage im Spital SRO in Langenthal?
Bis vor etwa drei Wochen verzeichneten wir steigende Fallzahlen, was auch auf unseren Spitalalltag Auswirkungen hatte. In dieser Zeit hatten wir vier Corona-Patienten auf der Intensivstation, die beatmet werden mussten. Insgesamt stehen uns fünf Beatmungsplätze und total acht Intensivbetten zur Verfügung. Wie sie unschwer feststellen können, sind wir damit auf der Intensivstation an den Anschlag gekommen. Auf der normalen Bettenstation verzeichneten wir weitere zwölf Corona-Patienten. Mittlerweile hat sich die Situation etwas beruhigt, gibt es aktuell noch drei Corona-Patienten auf der Intensivstation, die beatmet werden müssen und deren sechs Patienten auf der Bettenstation.

Hat diese Situation Auswirkungen auf den übrigen Spitalbetrieb?
Nein, bislang konnten wir den Betrieb aufrecht erhalten. Wir mussten keine Operationen absagen oder an andere Spitäler übertragen. Etwa fünf Eingriffe mussten aber einige Tage hinausgeschoben werden.

Wie ist die Region Oberaargau bislang gesundheitlich durch die Corona-Krise gekommen?
In der ersten Phase hatten wir eine bizarre Situation, gab es doch Bereiche in unserem Betrieb, die komplett still- standen, während jener Teil des Spitals, der mit Corona beschäftigt war, oftmals regelrecht überfordert war. Die Situation im Oberaargau war damals schwierig und hat uns hier im SRO sehr gefordert. Die Belastung für die Mitarbeitenden war riesig und die Führungs-Crew war zusätzlich mit Aufgaben konfrontiert, die nicht alltäglich sind, beispielsweise mit der Umsetzung der sehr strengen Hygienemassnahmen für Patienten, Besuchende und Mitarbeitende oder der kurzfristige Aufbau des Screenings und später des Impfzentrums. Zudem stellen wir heute fest, dass in der schlimmsten Phase der Pandemie etliche Leute dem Spital ferngeblieben sind und sich nicht behandeln liessen.  Das lässt sich anhand von Zahlen der Notfallstation ablesen. So sind vermutlich Herzinfarkte, aber auch andere Leiden nicht oder zu spät behandelt worden.

Der Winter steht vor der Tür und damit droht sich die Corona-Krise erneut zu verschärfen. Wie wappnet man sich beim SRO auf dieses Szenario?
Leider weiss niemand, wie sich die Pandemie weiterentwickeln wird. Wir pflegen deshalb einen engen Kontakt mit den kantonalen Stellen und den Gesundheitsämtern, mit denen wöchentlich Koordinationssitzungen stattfinden. Zudem finden bei uns intern tägliche Covid-Sitzungen statt. Aufgrund dieser Sitzungen und Gespräche analysieren wir die Situation und richten unseren Betrieb bestmöglich darauf aus, damit wir in der Lage sind, flexibel zu reagieren. In diesen Prozess müssen wir jeden einzelnen Mitarbeitenden miteinbeziehen und anschauen, wie sich seine Lage präsentiert: Ist er noch einsatzfähig, wie-steht es um seine mentale Belastung? Diese Situation ist sehr belastend für uns alle.

Welche Auswirkungen hatte Corona auf den Spitalalltag und die Angestellten?
Wir haben vor allem zwei Effekte gespürt: Einerseits wurde bei vielen Mitarbeitenden die Belastungsgrenze erreicht, gleichzeitig hat die Krise die Leute aber auch zusammengeschweisst, es ist ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entstanden. Ich staune immer wieder, mit welcher Motivation unsere Mitarbeitenden in dieser schwierigen Situation bei der Arbeit sind und wie sie sich gegenseitig unterstützen. Diese Solidarität und das übermässige Engagement kann man nicht genug hervorheben und würdigen, es ist wirklich phänomenal.

Wie gingen und gehen die Verantwortlichen der SRO mit dieser Krise um, hat man im Umgang mit den Mitarbeitenden den Führungsstil entsprechend angepasst oder neue Führungs-Instrumente installiert?
Natürlich mussten wir unseren Führungsstil anpassen. Vor allem bei der Kommunikation fand ein rasanter Wandel statt. Diese ist im Eilzugstempo digitalisiert worden. Live-Streams, Videokonferenzen und Chats bestimmen auch bei uns den Arbeitsalltag. Dazu kommt, dass nun seit fast zwei Jahren kaum noch Personalfeste stattgefunden haben. Welchen Wert diese Anlässe haben, merkt man erst, wenn sie nicht mehr durchgeführt werden, das darf man nicht unterschätzen. Denn dadurch gehen Nähe und Verständnis verloren, zwischenmenschliche Faktoren, die digital nicht entstehen können. Deshalb legen wir momentan besonderen Wert darauf, wie wir miteinander umgehen.

Hat Corona den Spitalalltag generell verändert?
Zweifellos, das kann man sagen. Gewisse Sachen, die sich mit Corona verändert haben, werden bleiben, gerade im Bereich der Digitalisierung. Ich denke, dass wir in Zukunft für gewisse Veranstaltungen, Workshops oder Schulungen nicht mehr immer nach Bern oder Zürich reisen werden. Mit Corona ist auch die technische Entwicklung rascher vorangeschritten, was wir durchaus begrüssen.

Im Zusammenhang mit der Pandemie war und ist immer wieder vom Mangel an Pflegepersonal zu lesen. Wie steht es diesbezüglich beim SRO?
Für die spezialisierte Pflege waren wir bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie unterdotiert. Erstaunlicherweise ist es uns während der Pandemie gelungen, für die Intensivpflege neues Personal zu rekrutieren. So gesehen sieht der Stellenplan bei uns nicht so düster aus, bleibt aber angespannt.

Worauf führen Sie denn diese überraschenden Zugänge zurück, hat Corona in der Bevölkerung zu einem Helfer-Syndrom geführt?
Mit Corona hat dies nichts zu tun. Vielmehr spielen andere Faktoren eine entscheidende Rolle, das Arbeitsumfeld, der Umgang miteinander im Spital, Verlässlichkeit seitens des Arbeitgebers, Arbeits- und Rahmenbedingungen sowie die vorhandene In­frastruktur.

Dafür war zu hören, dass diverse Fachärzte das SRO verlassen und zum Teil eigene Praxen eröffnet haben. Was sind die Gründe für diese Abgänge?
Bei dieser Frage bewegen wir uns in einem heiklen Bereich. Ja, wir verzeichnen Abgänge, das kann ich bestätigen. Sie betreffen zwei Fachbereiche, die Urologie sowie die Handchirurgie. Sehen Sie, auch in einem Spital findet eine gewisse Fluktuation statt, wie in anderen Betrieben auch. Ein Spital bietet Fachärzten oft auch eine ideale Plattform, um sich zu präsentieren, um dann später in die private Praxis zu gehen.

Dennoch, solche Abgänge sorgen für Aufsehen in der Öffentlichkeit und beflügeln Spekulationen.
Das verstehe ich durchaus, ist doch das Interesse der Öffentlichkeit an einem Spital deutlich grösser als an anderen Unternehmungen, weshalb Wechsel in Kaderpositionen anders, stärker wahrgenommen und diskutiert werden. Wir haben und leben eine klar definierte Fehler-Kultur. Wir sprechen Fehler an und lernen daraus. Wie das geschieht ist auch eine Frage der persönlichen Haltung, bei der gewisse Sachen aber nicht toleriert werden.

Bei gehäuften Abgängen in Grosskonzernen, Verwaltungen oder im Gesundheitswesen wird in der Öffentlichkeit rasch spekuliert, dass diese auch im Zusammenhang mit einem entsprechenden Betriebsklima stehen könnten. Wie steht es diesbezüglich beim SRO?
Wir sind uns des Stellenwertes unseres Betriebsklimas bewusst. Dieses muss funktionieren, sonst führt es irgendwann zu einer Eskalation, weil im Spitalbetrieb die Drucksituationen oftmals sehr hoch sind. Deshalb ist es wichtig, dass wir über ein gutes Betriebsklima verfügen, bei dem sich aber alle an gewisse Spielregeln halten.

Wie wollen Sie die entstandenen Lücken innert nützlicher Frist schliessen?
Die Abgänge in der Urologie konnten bereits mit qualifizierten Leuten ersetzt werden. Im Bereich der Handchirurgie wird uns dies ebenfalls gelingen.

Welche Auswirkungen auf den Spitalalltag haben diese Abgänge?
Die Abgänge sind zweifellos spürbar, aber nicht so, dass wir nun Patienten abweisen oder umplatzieren müssten. Dieses Szenario versuchen wir zu vermeiden. Beide Bereiche sind übrigens sehr notfalllastig, wenn sie als Spital also diese Bereiche nicht mehr anbieten können, müssen sie Patienten weiterreichen, was nicht ideal ist. Doch so weit kommt es glücklicherweise nicht.

Was unternehmen Sie, damit gehäufte Abgänge innert kurzer Zeit in Zukunft nicht mehr vorkommen?
Gute Frage, das weiss ich nicht. Wir versuchen bei der Rekrutierung des Personals immer unser Bestes zu geben, aber erst im Verlaufe der Zeit sieht man, ob es mit dem rekrutierten Personal auch funktioniert. Da unterscheiden wir uns nicht von anderen Betrieben, die ebenfalls Abgänge im Kader zu verzeichnen haben und diese nach bestem Wissen und Gewissen ersetzen.

Das SRO hat in den letzten Jahren enorm viel in den Ausbau der Infrastruktur und die medizinische Versorgung investiert und ist dadurch eine hochmoderne Spital-Unternehmung geworden. Eigentlich erstklassige Voraussetzungen für einen reibungslosen Betrieb und eine Top-Adresse als Arbeitgeber.
Das ist zweifellos so, deshalb finden wir auch das entsprechende Personal, gerade auch in den zuvor angesprochenen Spezialbereichen, weil wir ein attraktiver Arbeitgeber sind, der über eine moderne Infrastruktur verfügt. Wer heute im Gesundheitswesen einen Stellenwechsel in Betracht zieht, der überlegt sich sehr gut, wohin er gehen möchte. Da muss so ziemlich alles stimmen und da spielt eine gute Infrastruktur mit guten Arbeitsbedingungen eine entscheidende Rolle. Hier verfügen wir sicher über einige Pluspunkte, die wir gegenüber den Stellensuchenden ins Feld führen können. Mit unserer früheren Infrastruktur wäre dies nicht möglich und würde es uns deutlich schwerer fallen, geeignete Fachkräfte zu rekrutieren.

Ein zentrales Thema ist aktuell auch die Impfbereitschaft der Bevölkerung, die äusserst kontrovers und zunehmend gehässiger diskutiert wird. Welche Erfahrungen machen sie diesbezüglich im SRO?
Unsere Impfquote im Spital SRO ist ebenfalls zu tief und liegt ungefähr bei 70 Prozent. Damit ist unser Spital bloss ein Abbild der gesamten Gesellschaft. Unser Wunschziel liegt bei einer Impfquote von 85 Prozent, was ich persönlich als sinnvoll erachte, wenn wir schnellstmöglich aus dieser Pandemie raus wollen.

Was unternehmen Sie, um die Impfquote im SRO zu erhöhen?
Wir geben laufend Empfehlungen ab und weisen unser Personal auf die Impfung, deren Schutz und Vorteile hin. Aber letztendlich müssen auch bei uns die Leute selber entscheiden und ich stelle fest, dass viele diesbezüglich eine klare Haltung haben und es schwer ist, jemanden vom Gegenteil zu überzeugen. Dennoch möchte ich festhalten, dass sich unser gesamtes Personal bislang vorbildlich verhalten hat, was die Hygiene- und Schutzmassnahmen betrifft. Diese sind bei uns rigoros eingehalten worden, was auch zeigt, dass wir intern nur wenige Fälle zu verzeichnen hatten. Wir liefen nie Gefahr, gewisse Abteilungen schliessen zu müssen, weil wir wegen Corona-Fällen zu wenig Personal gehabt hätten. Diesbezüglich haben sich unsere Mitarbeitenden stets mit einer bewundernswerten Disziplin an die Vorgaben gehalten.

Wie erklären Sie sich als Spitaldirektor die erstaunlich tiefe Impfquote in der Schweiz – fehlt das Vertrauen in unser Gesundheitssystem?
Das ist eben das Wesen des freiheitsliebenden Schweizers, mit seiner angeborenen Skepsis gegenüber der Obrigkeit und der Ablehnung gegenüber Behörden und politischen Institutionen. Mit fehlendem Vertrauen in das Gesundheitswesen hat das gar nichts zu tun, im Gegenteil, unser ganzes Gesundheitssystem geniesst in unserem Land ein überaus hohes Ansehen und Vertrauen. Die Qualität unserer Gesundheits-Dienstleistungen wird von den Leuten sehr hoch eingeschätzt, gilt zugleich aber auch als sehr teuer.

Wie lassen sich Leute aus ihrer Sicht von der Notwendigkeit einer Impfung zur Bekämpfung der Pandemie überzeugen?
Ich persönlich versuche niemanden umzustimmen, ich weiche solchen Diskussionen eher aus, weil ich der Auffassung bin, dass die Meinungen in unserem Land gemacht sind. Deshalb verzichte ich diesbezüglich auch auf irgendwelche missionarischen Aktivitäten.

Wie haben Sie persönlich die Corona-Krise bislang erlebt?
Ich habe die ganze Krise bislang gut überstanden, weil ich von meiner Arbeit her privilegiert bin. Unser Betrieb war nie geschlossen, wie andere Unternehmungen. Ich durfte immer arbeiten. Dabei war ich aber stets sehr vorsichtig unterwegs, auch im privaten Bereich, und ging kaum Risiken ein. So bin ich auch gesundheitlich gut durch die Krise gekommen.

Was hat Sie in den letzten anderthalb Jahren am meisten gestört, was am meisten gefreut?
Was uns Spitälern zu schaffen macht, ist die Tarifstruktur, die dazu führt, dass wir vor allem im ambulanten Bereich eine erhebliche Unterdeckung der Kosten haben. Die Herausforderung in diesem Bereich ist riesig. Wir verfügen zwar über eine gute Eigenkapitaldecke, aber dennoch müssen in diesem Bereich grundlegende Fragen geklärt werden. Gefreut habe ich mich in dieser Zeit über die Tatsache, dass ich mit so vielen tollen Leuten zusammenarbeiten darf und eine sehr sinnhafte Tätigkeit ausüben kann, die letztendlich sehr befriedigend ist.

Was tun Sie, um dem Corona-Hamsterrad einmal für einige Zeit zu entfliehen?
Meine sportlichen Aktivitäten wieder vermehrt pflegen und damit für einen guten Ausgleich zu meiner Arbeit sorgen. Ich halte mich oft draussen auf – mache nichts Weltbewegendes, alles in einem überschaubaren Rahmen, aber mit einem wohltuenden Abstand zum Arbeitsalltag.