• Johann Schneider-Ammann: «Die wichtigste Begegnung mit Angela Merkel hatte ich im August 2016, als ich in Ulan Bator, in der Mongolei, festsass und in ihrem Privatjet zurückfliegen durfte. Das waren für mich die ertragreichsten acht Stunden während meiner Amtszeit.» · Bild: Leroy Ryser

24.05.2019
Langenthal

«Dem Land und seiner Bevölkerung zu dienen, war mein Privileg»

Seit fünf Monaten ist er eigentlich im Ruhestand, doch für Alt-Bundesrat Johann Schneider-Ammann sind die Tage nach wie vor gut gefüllt, mit diversen Arbeiten, Anfragen, Referaten und Auftritten. Dazwischen nahm sich der Langenthaler auch Zeit für ein ausführliches Gespräch mit dem «Unter-Emmentaler». Dabei blickte er auf seine neun Jahre im Bundesrat zurück und erwähnte, dass für ihn die Begegnung mit Papst Franziskus das tiefgreifendste Erlebnis während seiner Bundesratszeit gewesen sei. Zudem gab er beim Interview auch zu verstehen, was er vom vorliegenden Rahmenabkommen mit der EU hält.

Walter Ryser im Gespräch mit Johann Schneider-Ammann, Alt-Bundesrat, Langenthal

Johann Schneider-Ammann, es hat einige Anläufe gebraucht, bis wir Sie zum Interview treffen konnten. Es scheint, dass Ihr Terminkalender genauso umfangreich ist wie damals als Bundesrat?
Ja, er ist wieder gut gefüllt, aber gestaltet sich nicht mehr ganz so hektisch wie zu Zeiten als Bundesrat. Ich erledige nach wie vor einige Restanzen aus meiner Bundesratszeit, daneben mache ich Business wie eh und je. Dazu kommen x Anfragen, um irgendjemandem einen Gefallen zu tun, für 1.-August-Reden und vieles weitere. Es sind eindeutig zu viele Anfragen, aber ich will mich nicht beklagen, ich arbeite jeden Tag und gerne.

Haben Sie damit gerechnet, dass das öffentliche Interesse an Ihrer Person auch nach dem Rücktritt aus dem Bundesrat so gross sein würde?
Natürlich, ich rechnete damit, dass ein gewisses Interesse an meiner Person bestehen bleibt, dass diverse Anfragen, beispielsweise für die Übernahme von Mandaten an mich herangetragen werden. Diese lehne ich jedoch ab, ich versuche, einen gewissen Freiraum zu schaffen. Klar, ich will künftig da und dort mitmachen, aber in keinem Verwaltungsrat mehr. Dafür bin ich zu alt geworden, und ehrlich gesagt, hat man es einfach irgendwann einmal gesehen (lacht).

Aber ein paar Augenblicke der Erholung seit dem Rücktritt als Bundesrat hat es gegeben?
Was immer auch Erholung bedeutet, aber ja, ich mache jeden Tag einen Spaziergang, und ich habe meine Golf­ausrüstung wieder hervorgeholt. Nun versuche ich, wieder einen anständigen Golfschlag hinzukriegen, den ich vor neun Jahren noch hatte. Auch habe ich nun plötzlich wieder Zeit, an einem unheiligen Werktag morgens um neun Uhr mit meiner Frau einen Kaffee zu trinken. Ich versuche einfach Dinge zu tun, die mir Freude machen. Ich lasse mich jetzt nicht mehr für alles einspannen – dem sagt man dann wohl Erholung. Ich stelle einfach fest, dass ich eine gewisse Freiheit zurückerlangt habe.

Man hat in den Medien immer wieder über Ihren Gesundheitszustand spekuliert. Hat Sie die Aufgabe als Bundesrat an Ihre körperlichen und psychischen Grenzen gebracht?
Als Bundesrat habe ich keinen einzigen Tag im Amt gefehlt. Aber wie jeder andere auch hatte ich ab und zu Halsweh, und im Präsidialjahr plagte mich während längerer Zeit ein hartnäckiger Husten. Aber an etwas Ernsthaftem litt ich nie. Ich habe das Gefühl, dass ich das Amt ohne grössere Probleme und gut überstanden habe. Ich bin mit wenig Schlaf ausgekommen, was ich bereits von meiner Zeit als Unternehmer gewohnt war. Aber ich gebe zu, dass mich das Amt punktuell ans Limit geführt hat, beispielsweise wenn Gemeinheiten grassiert haben, damit meine ich Situationen, in denen Sachen ins Spiel kamen, bei denen ich ganz genau wusste, dass dies ein absoluter ‹Chabis› war. In solchen Situationen geht es stets um die Frage, wie man damit umgeht. In solchen Momenten habe ich ab und zu gelitten.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie manchmal auch unfair behandelt wurden?
Ach, dieses Gefühl hat wohl jeder Politiker hin und wieder. Ich war mir immer wieder bewusst, dass im Fussball der Schiedsrichter den VAR konsultieren und danach entscheiden kann, während dies in der Politik nicht möglich ist. Aber ich versichere Ihnen, das politische Gezänk, das manchmal entstand, hat mich relativ unbeirrt gelassen. Das gehört einfach dazu. Mehr Mühe hatte ich dagegen, wenn sich ein Journalist vom Berichterstatter zum Gerichtsvollstrecker berufen fühlte. Dabei wurden Urteile abgegeben, die nachweislich auf falschen Grundlagen basierten. Doch letztendlich sind die Journalisten und ich in einem respektablen Einvernehmen auseinander gegangen.

Waren Sie überrascht, dass heute in den Medien ein Bundesrat nicht bloss über den politischen Inhalt und nach seiner Leistung bewertet wird, sondern auch sein Aussehen, sein Verhalten und sein Auftreten ein Thema ist?
Das war ich mir durchaus bewusst. Aber persönlich habe ich mich stets auf die politische Substanz konzentriert. Mit Bundesratskollege Ueli Maurer habe ich etwa darüber gescherzt, dass wir zwei ältere Herren seien, mit wenig Haaren und deutlich weniger Flausen im Kopf als früher. Damit waren wir für die Medien nicht mehr ganz zeitgemäss oder manchmal zu wenig interessant, und deshalb wurde das eine oder andere Verhalten zum Medienthema (lacht erneut).

Wie spricht man Sie eigentlich an, Herr Alt-Bundesrat oder mit Ihrem bürgerlichen Namen?
Es gibt alles, wie ich angesprochen werde. Letzte Woche, als ich mit Diplomaten im Gespräch war, wurde ich mit Herr Präsident, werter Herr Schneider-Ammann angeredet. Wenn Sie mich aber so fragen, dann heisse ich einfach Schneider-Ammann, basta. Ich bin mir aber bewusst, dass ich bis zu meinem Lebensende als Magistratsperson wahrgenommen werde. Das persönliche Vorbild muss aber jederzeit Bestand haben.

Wie weit weg ist für Sie die Zeit als Bundesrat bereits?
Aus der Verantwortung habe ich mich völlig gelöst, das geschah am 31. Dezember 2018. Aber mit Bundesrat Guy Parmelin beispielsweise habe ich nach wie vor Kontakt. Was ich jedoch feststelle ist die Tatsache, dass ich bei politischen Themen heute genauer hinschaue und hinhöre, weil ich über vieles Bescheid weiss und ganz nah dran war. Das verschafft einem eine ganz andere Optik und Einsicht.

Für Aufsehen gesorgt haben Sie auch mit der Ankündigung, auf das Ihnen als ehemaliger Bundesrat zustehende Pensionsgeld zu verzichten.
Ich bin seit vielen Jahren finanziell völlig unabhängig und verfüge damit über einen hohen Freiheitsgrad, den ich sehr schätze. Zur Präzisierung halte ich fest, dass ich die Pensionsgelder nicht dem Bund überlasse, diese kommen zu mir, und ich bestimme, wofür diese eingesetzt werden. So habe ich beispielsweise in diesen Tagen einem Heim für schwerstbeeinträchtigte Menschen ein Therapiepferd geschenkt. In Zukunft möchte ich auf diesem Weg weitere Goodwill-Projekte unterstützen, weil es auch in unserem Land viele Menschen gibt, die Unterstützung nötig haben.

Wenn Sie nun aus der Distanz zurückblicken, was bleibt in Erinnerung, was vermissen Sie, was haben Sie gerne hinter sich gelassen?
Wenn man wie ich die Chance erhält, in der Landesregierung mitzuwirken, dann ist das ein grosses Privileg. Es gab zweifellos Dossiers, die ich lieber hatte und solche, mit denen ich mich weniger gerne beschäftigte. Bei einigen musste man mehr Zeit und Engagement investieren als bei andern, weil man hier mit der Materie vertraut war. Ich habe dies aber nie hinterfragt, sondern einfach akzeptiert. Die internationalen Verhandlungen betrachte ich für mich persönlich als Verlust, das habe ich immer gerne gemacht. Wir haben in dieser Zeit 15 Freihandelsabkommen abgeschlossen, weil ich bestrebt war, das Maximum für die Schweiz herauszuholen, damit wir bestmögliche Marktzugänge haben. Wollen wir auch in Zukunft über Vollbeschäftigung verfügen, benötigen wir den Zugang zu den internationalen Märkten. Als Wermutstropfen meiner Amtszeit empfinde ich, dass ich am Ende einen Gewerkschaftspräsidenten am Diskussionstisch hatte, der offenbar vergass, wie wertvoll die Zusammenarbeit in dieser Zeit zugunsten der Arbeitnehmer war.

Sie trafen die wichtigsten Männer und Frauen dieser Welt. Welche Begegnungen und welche Persönlichkeiten haben Sie am meisten beeindruckt?
Wie lange haben wir Zeit, um diese Frage zu beantworten? (lacht herzhaft). Die tiefgreifendste Begegnung in meiner Amtszeit war zweifellos jene mit Papst Franziskus. Vorgesehen war eine achtminütige Audienz. Er hat mir aber gleich zu Beginn zu verstehen gegeben, dass er deutsch spreche. Dadurch benötigten wir keine Übersetzer, und wir konnten uns ungestört unterhalten. Daraus sind 45 Minuten geworden, in denen wir über Fussball, die Migration und die Jugendarbeitslosigkeit diskutiert haben. Beim Papst habe ich gelernt, dass wir mit Weitsicht, Demut und Engagement einen Beitrag zu einer befriedeten Welt leisten können. Diese 45 Minuten würde ich mir nie nehmen lassen. Aber einen hat mein Gespräch mit dem Papst in Rage versetzt, das war der Aussenminister des Vatikans. Er zeigte sich über unsere ausführliche Audienz gar nicht begeistert, weil wir ihm damit das gesamte Protokoll durcheinandergebracht haben. Eindrücklich war auch der Besuch im Weissen Haus, obwohl dieser nicht lustig war für mich, weil er gleich im Anschluss an meinen verunglückten Fernsehauftritt beim Tag der Kranken stattfand. Doch Barack Obama und seine Frau Michelle hatten Freude an mir, und dabei sprang zwischen uns ein Funke über, den man nur spürt, wenn man es selbst erlebt hat. Erwähnenswert sind natürlich auch die Begegnungen mit Angela Merkel, der stärksten Frau dieses Planeten. Sie hat mir einmal wichtige Schützenhilfe geleistet, während einer Debatte über das Verhältnis Grossbritanniens und der Schweiz zur EU. Dabei betonte sie, dass die EU auf der einen Seite Grossbritannien mit dem Brexit habe und auf der anderen Seite die Schweiz. Doch der Schweizer Fall liege erfreulicherweise komplett anders, sei nicht so problembehaftet und deshalb auch nicht gleich zu behandeln. Die wichtigste Begegnung mit ihr hatte ich jedoch im August 2016, als ich in Ulan Bator, in der Mongolei festsass und in ihrem Privatjet zurückfliegen durfte. Das waren für mich die ertragreichsten acht Stunden während meiner Amtszeit.

Sie waren der erste Oberaargauer Bundesrat. Erfüllt das Sie rückblickend auch ein wenig mit Stolz?
Bundesrat zu sein, ist zweifellos eine Anerkennung, doch der Oberaargau spielte dabei eine untergeordnete Rolle, weil man in diesem Amt keine Politik für eine Region betreiben kann. Dass ich der erste Bundesrat aus dem Oberaargau war, hat prestigemässig für mich nie eine Rolle gespielt.

Stolz dürfen Sie aber über Ihren Leistungsausweis sein. Obwohl Sie viel Kritik einstecken mussten, haben sich zum Schluss die Medien, aber auch viele Politiker aller Parteien sehr lobend über Ihre Arbeit geäus­sert.
Ich habe immer gewusst, was ich geleistet habe, auch meine Bundesratskolleginnen und -kollegen sowie mein ganzes Team. Aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dieser Abgang sei keine Genugtuung für mich. Es war ganz klar ein schöner Abgang, auf alle Fälle viel besser, als wenn ich ein Chaos hinterlassen hätte, das zu Diskussionen und negativen Schlagzeilen geführt hätte. Aber in erster Linie waren die lobenden Worte zu meinem Abschied eine grosse Befreiung für meine Frau. Sie hat oft gelitten, wenn ich in der Kritik stand. Am 15. Dezember 2018 ist in der NZZ ein Artikel von Charles Lewinsky zu meinem Abgang aus dem Bundesrat erschienen, der den Titel trug: «Zum Glück haben wir in der Schweiz langweilige Politiker». Diesen Artikel empfand meine Frau als grosse Erlösung.

Wie frei sind Sie heute eigentlich, aus dem ‹Nähkästchen› des Bundesrates plaudern zu dürfen, gibt es lustige, ärgerliche oder denkwürdige Episoden, über die Sie reden dürfen?
Bei dieser Frage stehen wir vermutlich vor einem Generationenproblem, weil ich gewisse Werte vertrete, die vielleicht etwas aus der Mode gekommen sind. Schauen Sie, ich fühle mich heute nicht anders als damals, als ich noch Bundesrat war. Mein Charakter, meine Einstellung und meine Haltung gegenüber dem Bundesrat ist nach wie vor genauso, als wäre ich noch heute im Amt eines Magistraten, und dies verbietet es mir, über gewisse Dinge frei zu sprechen.

Nun sind Sie in der komfortablen Lage, das politische Geschehen im In- und Ausland aus der Distanz zu beobachten. Uns interessiert natürlich, wie Sie heute zum vorliegenden Rahmenabkommen mit der EU stehen, das schon während Ihrer Zeit als Bundesrat auf dem Tisch lag?
Dieses Abkommen, so wie es auf dem Tisch liegt, ist für unser Land noch zu ungünstig. Es könnte unsere Souveränität gefährden.

Lässt sich dieses Rahmenabkommen durch Nachverhandlungen und Anpassungen retten?
Ein Rettungsversuch ist schon länger pendent. Die Verhandlungen sind enorm schwierig. Ich bleibe dabei: Wir brauchen ein Abkommen. Im Wesentlichen für den Handel. Und ich wiederhole mich: Die Unabhängigkeit und Souveränität unseres Landes dürfen nie zur Disposition gestellt werden.