• In der Hausarztpraxis in Huttwil herrscht weniger Betrieb als vor der Corona-Zeit. Wartezeiten wurden verringert. · Bild: Leroy Ryser

09.04.2020
Region

Der Ansturm auf die Praxen flacht ab

Auch in den Gruppenpraxen der Region ist die Arbeitsauslastung kleiner als vor dem Ausbruch des Coronavirus. Das­s Kunden bei Bagatellfällen auf einen Arztbesuch verzichten ist keine schlechte Entwicklung, birgt aber auch Risiken, verrät Damian Meli von der Huttwiler Hausarztpraxis.

Huttwil/Madiswil · Der Madiswiler Hausarzt Dr. Christoph Hug kann aus eigener Erfahrung sprechen: «Am 23. März habe ich am Vormittag Telefondienst verrichtet. Gegen 40 Telefonate habe ich selbst entgegengenommen, bei welchen Fragen über das Coronavirus gestellt oder Ängste über eine Ansteckung geäussert wurden.» Anfang bis Mitte März sei es mehrmals vorgekommen, dass täglich in der Gruppenpraxis «Zelgli» gegen 100 Telefonate entgegengenommen wurden, die sich um dieses Thema drehten. Mittlerweile aber sind es deutlich weniger, weiss Christoph Hug, «wir haben den Eindruck, dass es merklich abflacht.» Auch habe die Gruppenpraxis «Zelgli» zu Beginn noch selbst Test-Abstriche vorgenommen, weil die Infrastruktur und die Räumlichkeiten dies ermöglichen, mittlerweile werden aber alle Corona-Verdachtsfälle direkt im Spital Langenthal behandelt. Anders gesagt: Das Coronavirus ist in Madiswil bereits weniger Thema als noch in den ersten Wochen nach dem Ausbruch.
Und dennoch: Der Virus ist und bleibt präsent, auch im «Zelgli» wurden wirtschaftliche und gesundheitliche Massnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie ergriffen. «Wir haben uns aufgeteilt und zwei Gruppen gebildet. Am Morgen arbeiten zwei Ärzte mit ihren medizinischen Praxisassistenten und am Nachmittag zwei andere Ärzte mit ihrem Team. Sollten wir also einen Ansteckungsfall haben, können wir ein Team isolieren, während das andere unbedenklich übernehmen kann.» Ausserdem seien die Besuche von Patienten um die Hälfte zurückgegangen, sodass auch deutlich weniger Arbeit vorhanden ist. «Dass Patienten nicht mehr wegen Bagatellfällen den Arzt aufsuchen, ist auch für die Zukunft wünschenswert. Ich gehe aber davon aus, dass sich dies rasch wieder einpendeln wird», sagt Christoph Hug und schätzt, dass sich die vorher bekannte Normalität innert sechs Monaten wieder herstellt. «Trotzdem ist es eine interessante Erfahrung. Menschen überlegen sich bewusster, ob sie wirklich krank sind.» Zudem wurden auch im «Zelgli», wie vom Bund vorgegeben, Besuche verschoben, die eine tiefe Dringlichkeitsstufe haben.

Umdenken bei den Arbeitgebern?
Diese neue Ausgangslage birgt aber auch Risiken, betont derweil Dr. Damian Meli von der Huttwiler Hausarztpraxis. «Es gibt Menschen, die mittlerweile beinahe Angst haben, sich beim Arzt zu melden, obwohl sie ein tatsächlich gravierendes Problem haben. Das kann sich negativ auf die Gesundheit auswirken.» So habe er Kenntnis, dass ein Patient mit Bauchschmerzen zu lange daheim geblieben ist. Dabei sei sein Blinddarm geplatzt, weshalb er letztlich eingewiesen wurde. «Wenn man wegen einer Grippe nicht gleich den Arzt aufsucht, ist das nicht falsch. Mit der Forderung, grundsätzlich zu Hause zu bleiben, drohen aber solche Kollateralschäden. Wir begehen damit eine Gratwanderung.» Auf ein positives Umdenken hofft Damian Meli hingegen bei den Arbeitgebern, um Bagatell-Besuche zu vermindern: «Aktuell stellen wir Arztzeugnisse bei Krankheiten rascher aus als zuvor. Vorher haben wir uns jeden Patienten einzeln angeschaut. Mehr Vertrauen in die Arbeitnehmer, vielleicht auch mit dem Verzicht auf ein Zeugnis bei kleineren Fällen, würde den Aufwand deutlich verringern».
Dass der aktuell vorhandene Rückgang an Patienten aber zeigt, dass der Gang zum Arzt nicht immer gleich dringend und nötig ist, ist aber auch Meli klar. Er betont jedoch: «Wir sind bereits jetzt rund 20 Prozent günstiger als der Schnitt der Berner Hausarztpraxen, weil wir seit jeher darauf achten, Sprechstunden nicht künstlich zu füllen oder Patienten nur zu behandeln, wenn es vernünftig und nötig ist.» Aktuell sei der Rückgang jedoch auf das Verschieben nicht dringlicher Fälle – beispielsweise Jahreskontrollen – zurückzuführen. Meli geht davon aus, dass auf die Hausarztpraxen nach der Normalisierung der Situation ein etwas strengerer Sommer wartet, wo sonst eher Flaute herrscht.

Wohl keine Kurzarbeit nötig
Dafür ist der Frühling, der sonst als arbeitssame Phase bekannt ist, dieses Jahr verständlicherweise ruhig. In Huttwil ging der Umsatz um 25 Prozent zurück, in der Langenthaler Bahnhofpraxis sogar um 40 Prozent. «Normalerweise empfangen wir die Patienten im Viertelstundentakt, jetzt haben wir auf 30 Minuten umgestellt», erklärt Meli. Das vermindere Wartezeiten, zudem sei weiterhin Arbeit vorhanden, sodass es bisher nicht nötig war, Kurzarbeitsbeiträge zu beziehen. «Im Nachhinein anmelden kann man nicht, deshalb haben wir uns sicherheitshalber zu 30 Prozent angemeldet. Wir werden mit grosser Wahrscheinlichkeit aber auf Beiträge vom Bund verzichten können», so Meli weiter. Beispielsweise ein sechswöchiger Umsatzeinbruch aufgrund der bundesrätlichen Massnahmen erachte er für seine Praxis als zumutbar.

Spitäler unterstützen ist möglich
Und letztlich verfehlen diese Massnahmen auch ihre Wirkung nicht: Sollte nämlich in den Spitälern der Aufwand  plötzlich drastisch ansteigen, wären derzeit Kapazitäten vorhanden, um einzuspringen, bestätigen Meli und Hug gleichermassen. «Wir haben bereits vorbereitende Anfragen erhalten», erklärt der in Huttwil praktizierende Damian Meli, «nötig war eine Aushilfe aber noch nicht, weil die Spitäler die Schwankungen selbst abfedern.» Zwar seien auch in der Region Corona-Ansteckungen bekannt, zudem hätte es in Langenthal bisher ein Todesopfer gegeben, so Meli weiter, aufgrund der eher ländlichen Demografie seien aber auch künftig keine groben Anstiege der Fälle vorauszusehen. «Es ist ein Unterschied, ob 100 Personen dem SC Huttwil zuschauen oder 80 000 Menschen in Dortmund ein Fussballspiel besuchen. Das Verbreitungsrisiko ist wesentlich kleiner.» Sollte die Welle aber auch im Oberaargau noch überschwappen, wären freie Kapazitäten immerhin vorhanden, um beispielsweise die beiden Regionalspitäler zu unterstützen. «Natürlich müssen wir auch unseren eigenen Betrieb weiterhin aufrechterhalten können», sagt der in Madiswil praktizierende Christoph Hug, «es wäre aber möglich, Hilfe anzubieten.» Weil die Kurve von Neuansteckungen aber schweizweit abflacht, scheint die Normalität derzeit greifbarer als ein Ausnahmezustand, der auch die Region heimsucht.

Von Leroy Ryser