• In ihrem grossen Garten schöpft Annerös Jordi die Kraft für ihren weiteren Lebensweg. Denn die Hände in den Schoss legen möchte sie noch lange nicht. · Bild: Marion Heiniger

05.10.2020
Oberaargau

Die Arbeit ist ihre Leidenschaft

Nach 22 Jahren geht Pfarrerin Annerös Jordi in Pension. Sie hat ihren Beruf gelebt und geliebt und kann auf eine bewegende Zeit zurückblicken. Doch zur Ruhe setzen möchte sie sich noch lange nicht. Bis August 2021 springt sie in Eriswil als Verweserin ein.

Bleienbach/Eriswil · Es war bereits kurz nach halb zehn, doch der Besucherstrom wollte noch immer nicht enden. Die Kirche in Bleienbach war am diesjährigen Buss- und Bettag bis auf den letzten Platz besetzt. Pfarrerin Annerös Jordi schritt durch den Mittelgang, schaute mal nach rechts, mal nach links und versuchte die Besucher unter den Masken zu erkennen. Die Freude, dass so viele Menschen zu ihrem Abschiedsgottesdienst erschienen sind, stand der 65-jährigen Pfarrerin ins Gesicht geschrieben. «Es ist mein Abschied nach 22 Jahren», sagt Annerös Jordi in ihrer Eröffnungsrede sichtlich gerührt. Auf viele schöne, bereichernde und spontane Begegnungen könne sie zurückblicken, liess sie die Besucher wissen. Ebenfalls am Buss- und Bettag wurde Annerös Jordi 1998 als Pfarrerin in der Kirchgemeinde Bleienbach eingesetzt. 22 Jahre ist sie mit ihrer Familie geblieben.
Es war kein Zufall, dass beide feierlichen Anlässe, die Installation sowie der Abschied, am Buss- und Bettag stattfanden. Annerös Jordi hatte ihren letzten Gottesdienst bewusst an diesem Tag geplant, denn eigentlich hätte sie bereits im Januar in Pension gehen können. Doch zur Ruhe setzten möchte sich Annerös Jordi auch jetzt noch nicht. Ab Oktober bis Ende August 2021 wird sie als Verweserin in der Kirchgemeinde Eriswil ihren geliebten Beruf weiterhin ausüben können. Auch danach möchte sie ihre Hände noch lange nicht in den Schoss legen. «Meine Arbeit ist meine Leidenschaft, ich lebe und liebe meinen Beruf, aufhören möchte ich auf gar keinen Fall», erzählt die im Herzen jung gebliebene Pfarrerin. So hofft sie, dass sie auch weiterhin als Stellvertreterin in verschiedenen Kirchgemeinden arbeiten darf. Doch einige Vorteile an ihrer Pensionierung kann Annerös Jordi doch noch erkennen. «Die administrativen Aufgaben werde ich nicht vermissen», sagt sie lachend. Auch, dass sie nun mehr Zeit zum Wandern oder Lesen hat, freut sie sehr.

Sie lebt und liebt ihre Arbeit
Aufgewachsen ist Annerös Jordi in Auswil auf einem Bauernhof. Die Ausbildung zur Lehrerin brachte sie nach Chalberhöni, einem Seitental des Saanenlandes, wo sie knapp zwölf Jahre lang in einer kleinen Gesamtschule Kinder von der ersten bis zur neunten Klasse unterrichtete. «Es war immer sehr spannend, die Entwicklung der Kinder mitzuerleben», erinnert sich Annerös Jordi.
Das Theologiestudium begann sie noch während ihrer Lehrtätigkeit. Mit 36 Jahren schloss sie das Staatsexamen ab und konnte in Zweisimmen ihr Vikariat absolvieren, wo sie noch weitere sechs Jahre in Teilzeit blieb, bis sie 1998 nach Bleienbach kam. Pfarrerin zu sein war und ist für Annerös Jordi nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung. «Mit allen Generationen Kontakt zu haben, sie zu begleiten, sie zu besuchen und mit ihnen im Gespräch zu sein, das habe ich geliebt», erzählt sie. Besonders die Arbeit mit den Kindern lag ihr am Herzen.
So hat sie in Bleienbach den KUW-Unterricht, der zuvor nur von der siebten bis zur neunten Klasse angeboten wurde, auch ab der dritten Klasse eingeführt und das Angebot «Fiire mit de Chliine» aufgebaut. Dabei war ihr immer sehr wichtig, dass die Kinder christlich und kirchlich sozialisiert werden und auch die Eltern zu Hause die Kinder dazu ermutigen und ihnen im Glauben ein Vorbild sind. «Die christlichen Feiertage laden uns ja dazu ein, den Weg mit Christus zu feiern. Nur was man kennenlernt und einem immer wieder begegnet, kann einem lieb und vertraut werden», zeigt sich Annerös Jordi überzeugt.

Eine Predigt, die nie ausfällt
So sieht sie die Kirche auch als einen Ort der Begegnung, wo sich Generationen immer wieder treffen und unter die Gnade und die Liebe von Gott stellen. Diese Begegnungen hatten ihr während des Corona-Lockdowns besonders gefehlt. «Während dieser Zeit habe ich mehr als 70 Telefongespräche geführt, weit über 100 Briefe verschickt und für die Kinder ein Osterbuch gestaltet. So konnte ich bei den Menschen bleiben», erzählt Annerös Jordi. Da auch sie nicht mehr in der Kirche vor der Gemeinde predigen durfte, schrieb sie «Eine Predigt, die nie ausfällt». Darin beschreibt sie die drei kunstvoll und inhaltsreich gestalteten Christusfenster der Kirche Bleienbach. Noch bis Ende September war Annerös Jordi in der Kirchgemeinde Bleienbach tätig. Ihre Zelte hatte sie dort bereits Ende August abgebrochen und ist zusammen mit ihrem Mann nach Huttwil gezogen. Hier, in der hellen und gemütlich eingerichteten Stube mit Sicht auf den grossen Garten, wird sie die Kraft für ihren weiteren Lebensweg schöpfen können.

Von Marion Heiniger