• Ein Initiativkomitee mit Bauersleuten und Ärzten setzt sich dafür, dass Nutztiere im ländlichen Dorf Aarwangen Glocken tragen dürfen. Bereits sind rund 300 Unterschriften gesammelt worden. · Bilder: Thomas Peter

  • Am offiziellen Kick-Off-Tag der Unterschriftensammlung zog das Komitee mit Glockengeläut vom Gemeindehaus (im Hintergrund) durch Aarwangen.

  • Der Neurologe Andreas Baumann (links) ist der Präsident des Initiativkomitees. Rechts neben ihm Bauer Ernst Gerber, gegen den eine Lärmbeschwerde hängig ist.

23.05.2023
Oberaargau

Ein Dorf steht auf für die Glockentradition

Eine Lärmbeschwerde gegen nächtliches Schellengeläut von weidenden Kühen in Aarwangen hat alles ins Rollen gebracht: Ein neunköpfiges Komitee mit dem Neurologen Andreas Baumann an der Spitze hat die Glockeninitiative lanciert, die bereits für Schlagzeilen sorgt. Ziel der Initiative ist es, dass die Gemeinde ein Reglement erarbeitet, das unter Einhaltung der Lärmschutzverordnung ein massvolles Nebeneinander von Kirchenglocken auch Glocken, Schellen und Treicheln bei Nutztieren ermöglicht und so der ländlichen Tradition der Gemeinde Rechnung trägt. Bereits sind rund 300 der nötigen 319 Unterschriften zusammen.

Fokus · Bauer Ernst Gerber bringt eigentlich nicht so schnell etwas aus der Fassung, doch die ganze Situation nagt an ihm und verfolgt ihn seit Monaten bis tief in die Nacht. Er führt den Hof im Mumenthal bereits in der 3. Generation, hauptberuflich ist er auf dem Bau tätig. «Seit Jahrzehnten weiden die Kühe und Rinder auf dieser Weide. Wenn ich abends vom Bau nach Hause komme, die Rinder auf der Weide sehe und das Schellengeläut höre, kann ich so richtig herunterfahren. Das ist Erholung pur für mich.» Für ihn gehört das «Bimmeln» der Kuhglocken schlicht und einfach zur Tradition der Schweiz. «Wenn die Tiere Schellen tragen, dann ist das auch ein Stück Heimat, eine Besonderheit, ja ein Identifikationsmerkmal der Schweiz.»

Von der Beschwerde überrascht
Die Lärmbeschwerde hat ihn deshalb völlig überrascht. «Dass das jemanden derart stören könnte, habe ich nicht erwartet», sagt Ernst Gerber nachdenklich. Vor allem, wenn er an die vielen positiven Reaktion von Anwohnern denkt, die das Glockengeläut als wohltuend empfinden. «Eine Anwohnerin hat mir zum Beispiel gesagt, dass es für sie nichts Schöneres gibt, als am Abend auf dem Balkon zu sitzen, ein Glas Wein zu trinken und die Kuhglocken zu hören. Das sei für sie wie Ferien im Oberland.» In all den Jahren, seit er die Rinder auf die Weide führe, habe er bis auf eine Stimme nie etwas Negatives gehört. Die Kuhglocken haben aber auch eine wichtige Funktion für den Bauern. «Die Weide grenzt an den Wald. Wenn Rehe durch den Zaun springen, kann eine Lücke entstehen, durch die die Rinder entweichen. Ohne Schellengeläut findet man die im Wald nur schwer.» Die 10 bis 15 Rinder weiden zudem zwischen Frühling und November nicht jede Nacht in der Nähe der Beschwerdeführenden im Raum Eigerweg-Brunnenstrasse, sondern rotieren. «Je nach Grasvorkommen befinden sie sich während drei Wochen auf der gleichen Parzelle und kehren erst nach sechs Wochen wieder zurück», erklärt der 59-jährige Landwirt.

Ein Stück Heimat
Ernst Gerber betont, er habe sich im ganzen Verfahren auch kompromissbereit gezeigt, anerboten, dass nur noch jedes zweite Rind Schellen trägt, doch das Angebot habe den Beschwerdeführenden nicht genügt. Als Massnahme wird weiterhin verlangt, dass die Rinder im Zeitraum von 22 bis 7 Uhr keine Schellen tragen dürfen. Die Lärmbeschwerde ist noch hängig, weshalb sich Ernst Gerber dazu öffentlich nicht weiter äussern will. Bis am 12. Mai hatte er Zeit, zur Beschwerde und einem Lärmgutachten schriftlich Stellung zu nehmen. Was würde das aber für ihn bedeuten, sollte die Beschwerde gutgeheissen werden? «Wenn es so weit kommen sollte, werde ich mich fügen müssen. Aber es wäre natürlich sehr, sehr schade, wenn die vielen ansässigen Einwohner von Aarwangen auf etwas verzichten müssten, was sie Jahre, wenn nicht Jahrzehnte lang so geschätzt haben an ihrem Dorf. Ihnen wird ein Stück Heimat genommen.»

Andreas Baumann lanciert Initiative
Als der Neurologe und einstige Bauernsohn Andreas Baumann von der ganzen Sache erfuhr, konnte er das kaum glauben.
«Der Bauer fühlt sich der landwirtschaftlichen Tradition verpflichtet und will diese weiterführen. Die Kühe haben auf dieser Weide schon immer Schellen getragen.» Durch die Bautätigkeit und den Zuzug nicht Ortsansässiger gerate diese identitätsstiftende Tradition mehr und mehr unter Beschuss. Und diese Tradition solle nun enden, weil neu Hinzugezogene das so wünschen? «Aar­wangen ist ein ländliches Dorf und da gehört Kuhglockengeläut dazu.»
So entstand die Idee zur Initiative. Die Gemeinde soll ein Reglement erarbeiten, das unter Einhaltung der Lärmschutzverordnung ein massvolles Nebeneinander von Glocken der Kirche, aber auch Glocken, Schellen und Treicheln bei Nutztieren ermöglicht und so der ländlichen Tradition der Gemeinde Rechnung trägt. «Damit wollen wir auch jenen eine Stimme verschaffen, die traditionelle Glockenklänge als wohltuend empfinden, während sonst vor allem Gegner sich zu Wort melden», betont Andreas Baumann. Der Initiativtext wurde bewusst offen gehalten, damit ein Reglement erarbeitet kann, das dem Wunsch nach Ruhe und Erholung ebenso Rechnung trägt, wie der ländlichen Tradition der Gemeinde. «Für uns ist es wichtig, dass es ein Miteinander und kein Gegeneinander gibt», betont Andreas Baumann. Über das Reglement muss dann an einer Gemeindeversammlung abgestimmt werden. «Vordergründig geht es hier bei dieser Initiative um Glocken an Kühen und der Kirche.
Letztendlich geht es aber um vielmehr. Es geht darum, wie wir als Schweizerinnen und Schweizer mit unserem kulturellen Erbe leben möchten. Möchten wir es nur noch in Museen anschauen oder wollen wir, dass es gelebt,  belebt und bewahrt wird? Das Initiativ-Komitee setzt sich dafür ein, dass unser kulturelles Erbe in Bezug auf die Glocken in Aarwangen in bewährter Tradition weiter gelebt werden kann», unterstreicht Andreas Baumann.

Bereits rund 300 Unterschriften
Am vergangenen Samstag, 20. Mai, wurde mit einem symbolischen Kick-off-Anlass der Start der Unterschriftensammlung eingeläutet. Bereits jetzt sind rund 300 Unterschriften beim neunköpfigen Komitee eingetroffen. Die Sammelfrist läuft noch bis am 25. Oktober 2023. Für das Zustandekommen der Initiative müssen mindestens 319 beglaubigte Unterschriften eingereicht werden. «Ich bin sicher, dass wir diese Zahl schon in wenigen Wochen erreichen werden», ist Andreas Baumann zuversichtlich, dass sogar 600 und mehr Unterschriften erreicht werden könnten, da er bereits jetzt sehr viele positive Reaktionen erhalten hat. So auch von Kirchenseite, die nicht direkt an der Initiative beteiligt sei, doch habe man ihm signalisiert, «dass der gesamte Kirchenrat der Kirchgemeinde Aar­wan­gen einstimmig hinter der Initiative zur Pflege des Glockengeläutes in Aar­wangen steht», ist Andreas Baumann hocherfreut.

Von Thomas Peter