• Elena und Mariia fühlen sich sicher in Huttwil. Die Schweiz sei sehr schön und sauber. Insbesondere Elena vermisst Kiew und ihr Zuhause aber trotzdem. · Bild: Leroy Ryser

24.03.2022
Huttwil

Ein neues Leben inmitten von Gegensätzen

Mutter Elena (48) und Tochter Mariia (19) sind gemeinsam wegen dem Krieg aus der Ukraine geflüchtet und haben in Huttwil im Hotel Kleiner Prinz vorerst mit weiteren ukrainischen Flüchtlingen ein Zuhause gefunden. Ihren ersten Aufenthalt haben sie sich zwar anders vorgestellt, froh sind sie dennoch, dass sie hier sind. Gegenüber dem «Unter-Emmentaler» erzählen die beiden Ukrainerinnen von ihren traumatischen Erlebnissen. Sie sprechen über eine ungewisse Zukunft und über Dankbarkeit und Hoffnung.

Huttwil · Jeder Mensch kennt das: Manchmal ist es schwierig, seine Gefühle in Worte zu fassen. Insbesondere dann, wenn man dies nicht in der Muttersprache tun kann. Diese Erfahrung macht gerade auch Elena (Name der Redaktion bekannt). Die 48-jährige Ukrainerin sitzt im Hotel Kleiner Prinz und stellt sich den Fragen des «Unter-Emmentaler». Nach längerem Überlegen fallen dann unterschiedliche Schlagworte in Englisch, viele sind gegensätzlich und scheinen im ersten Moment unvereinbar, für ihre Situation könnten sie aber dennoch kaum passender sein. Elena spricht von Traurigkeit und Hoffnung, sie spricht von Dankbarkeit und Bestürzung, und sie spricht davon, nach mehreren Tagen der Unsicherheit nun wieder Sicherheit zu spüren.

Träume auf den Kopf gestellt
Elena ist mit ihrer Tochter Mariia, 19, kurz nach dem Ausbruch des Krieges aus der Ukraine geflüchtet. «Wäre ich alleine gewesen, wäre ich geblieben. Mit Mariia konnte ich aber nicht bleiben», erzählt sie. Mariia ist im Rollstuhl gefangen und leidet an einer Art der zerebralen Kinderlähmung. Auch wenn ihr das fliessende Sprechen Mühe bereitet, wird rasch klar, dass sie geistig gesund ist, spricht sie doch beinahe besser Englisch als ihre Mutter, die sie zwischendurch gerne korrigiert, wenn es um grammatikalische Finessen geht. «Ich will einmal Lehrerin werden», sagt Mariia. Noch vor dem Krieg habe sie davon geträumt, nach dem Abschluss ihrer Schule irgendwo in Europa zu unterrichten. Die Ukraine habe sie eigentlich immer schon mal verlassen wollen, das sei ein Traum gewesen. Dass sie das Land früher als geplant verlassen hat, weil sie dies tun musste, bestürzt sie jedoch. Von einem auf den anderen Tag sei alles anders gewesen, erzählt die Mutter, damit habe niemand gerechnet. «Am Tag vor dem ersten Angriff der Russen war ich noch in meinem Sportclub. Wir, ich und meine Freunde, machen dort «TRX», eine Art Fitness. Und als wir uns verabschiedeten, gingen wir davon aus, dass wir uns einen Tag später wieder sehen würden.» Rückblickend habe sie sich schon in diesem Moment mulmig gefühlt, sagt sie, wieso wisse sie nicht und könne es kaum beschreiben. Es könnte eine Art Vorahnung gewesen sein, meint sie, wie ein Stein, der auf ihrem Herzen gelegen habe. «Wir hatten an diesem 23. Februar noch einen sowjetischen Feiertag (Anmerkung der Redaktion: Der Tag des Verteidigers des Vaterlandes), ich habe noch Kerzen und Essen eingekauft. Trotz dem mulmigen Gefühl schien eigentlich alles normal.» Tags darauf war von Normalität aber nicht mehr viel zu spüren.

Von Explosion erwacht
Frühmorgens sind Mariia und Elena in ihrer Kiewer Wohnung aufgrund einer Explosion aus dem Schlaf gerissen worden. «Uns war sofort klar, dass das kein herkömmliches Feuerwerk war», erzählt Elena. Ratlos sei sie gewesen, bald auch ängstlich und irgendwie hilflos. Was sie in diesem Moment tun sollten, wussten sie beide nicht. «Wir waren völlig unvorbereitet», sagt Mariia, man hätte nicht im Traum damit gerechnet, von Russland angegriffen zu werden. «Wir sprechen die gleiche Sprache, Russisch war in der Schule meine erste Fremdsprache, wir leben nebeneinander und zum Teil miteinander», beklagt sich Elena. Für sie ergebe dies überhaupt keinen Sinn.
Mariia geht es nach dem Kriegsausbruch schlecht. Sie weiss um ihre besondere Situation, dass sich diese auch noch erschwert, weil sie im 14. Stock eines Hochgebäudes auf einer Anhöhe in Kiew wohnt, machte ihr Angst. «Ich hatte Panikattacken. Ich war nahe dran, durchzudrehen», sagt die Tochter, die Mutter lacht gequält und nickt. «Wir waren auf den Lift angewiesen und mussten irgendwie nach unten kommen. Ich habe in Eile ein paar Kleider zusammengepackt, ihren Laptop, den sie für ihr Studium braucht, habe ich liegengelassen. Damit sind wir dann in unsere Autogarage ‹umgezogen›.» Vier Tage und Nächte haben sie dort verbracht, erinnert sie sich. Nach oben getraute sie sich nicht mehr. Auch wegen Mariia, die sich zumeist an ihren Arm klammerte, und auch nicht, weil sie nicht wusste, ob es dafür überhaupt genügend sicher war. «Es gab vereinzelt Nachbarn, die kamen nur nachts zu uns runter, weil dann jeweils die Bomben einschlugen. Mit Mariia war ich aber derart auf den Lift angewiesen, dass ich kein Risiko eingehen wollte und mit ihr unten blieb.» Gemeinsam mit ihren Nachbarn seien sie für kurze Zeit zu einer Familie zusammengewachsen. Alle hätten einander geholfen, alle seien sehr nett gewesen. Obwohl man sich zumeist kaum kannte, habe man sich füreinander engagiert und versucht, sich gegenseitig aufzubauen. «Einer hatte eine Backmaschine dabei, ein anderer einen Mixer, alle haben den anderen mit Geräten ausgeholfen, die einzelne mitgenommen haben.» Gemeinsam habe man dann gekocht und gelebt – und dies bei kalten zehn Grad, erzählt Elena.

In einem Zugwaggon nach Polen
Der angenehmen Gesellschaft zum Trotz wurde die Situation zunehmend ungemütlicher, insbesondere wegen Mariia. «Sie war dort ein anderer Mensch», erinnert sich Elena. Als sich dann jemand von einer Stiftung für gelähmte Kinder meldete, welcher Mariia angehört, ging es schnell. «Sie haben uns abgeholt und in einen Zugwaggon gebracht. Mit fast 70 Men­-
schen haben wir dann Kiew verlassen.» Unterwegs hätten sie Militärposten passiert, dort wurden ihre Ausweise kontrolliert. Irgendwann sind sie schliesslich in Polen in einem Auffangcamp für Flüchtlinge angekommen. «Dieses lag hoch oben in den Bergen. Das war für mich nicht so ideal.» Die Aussicht sei schön gewesen, die Natur toll, die Menschen freundlich, lacht Mariia rückblickend. «Aber es hat an vielen Dingen gefehlt. Auch an Platz», sagt Elena. Polen habe sehr viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, das habe das Land an Grenzen gebracht, die Situation sei schwierig gewesen, berichtet Elena. Sie sei sehr dankbar für das Asyl gewesen, habe sich aber auch ständig von der Bevölkerung abgeschnitten gefühlt.
Vor Ort lernte sie aber eine ukrainische Berühmtheit kennen, deren Namen Elena nicht nennen wollte. Auch sie habe eine Tochter mit einer Lähmung und zeigte deshalb Verständnis. «Sie liess dann ihre Kontakte spielen und es gelang ihr, einen Schweizer Botschafter oder Beamten zu kontaktieren, der uns eine Reise in die Schweiz ermöglichte», erinnert sich die Mutter. Dieser Mann habe sie am Flughafen in Krakau abgeholt und mit einem Flugzeug in die Schweiz gebracht. «Es war eine sehr komfortable Reise und eine wirklich sehr freundliche Begrüssung», erinnert sie sich weiter und zeigt erstmals im Rückblick ihrer Reise ein Lachen im Gesicht.

«Wir fühlen uns hier sicher»
Diese ungewollte Reise nahm schliesslich vor gut einer Woche vorerst ihr Ende in Huttwil. Unter der Betreuung der Stiftung Zugang B, die auch für die Betreuung der Flüchtlinge im Campus Perspektiven verantwortlich ist, sind derzeit gleich mehrere Familien mit Kindern mit körperlichen oder geistigen Behinderungen im Hotel kleiner Prinz untergebracht. «Auch hier sind alle so freundlich», sagt Elena begeistert. «Wir fühlen uns sicher. Wir sind wirklich dankbar», betont sie. Ab und zu würden auch Nachbarn zu Besuch kommen und Geschenke mitbringen, solche Besuche freuen sie besonders. Meistens müssen dann Elena und Mariia übersetzen, weil sie die einzigen Bewohner sind, die fliessend Englisch sprechen. «Aber wir alle spüren, dass die Menschen hier wirklich freundlich zu uns sind und uns helfen wollen.»

Die blinde Mutter zurückgelassen
Ein fader Beigeschmack bleibt beim ersten Besuch von Elena und Mariia in der zuvor völlig unbekannten Schweiz aber dennoch. Viele Menschen mussten die beiden Ukrainerinnen zurücklassen, darunter auch ihre 83-jährige Mutter. «Sie ist blind und wollte und konnte nicht mit uns mitkommen. Ich bin froh, dass ein guter Freund sich um sie kümmert. Wir telefonieren täglich, aber natürlich mache ich mir dennoch grosse Sorgen.» Erst vor wenigen Tagen sei ein Einkaufszentrum in der Nähe ihres Wohnblocks bombardiert worden, dass unschuldige, friedliche Menschen in solchen Momenten sterben, bestürzt sie. «Bisher sind all meine Freunde noch am Leben. Ich rufe täglich bei ihnen an, um sicher zu sein, dass es ihnen allen gut geht», sagt Elena. Ein ungutes Gefühl, welches sie nachts kaum schlafen lässt, bleibt aber. «Mariia geht es hier besser. Sie kann auch wieder schlafen und fühlt sich sehr wohl. Ich habe aber jeden Abend Mühe, einzuschlafen.» Es ist genau das eingangs beschriebene Gefühlschaos, welches sie nachts kaum schlafen lässt.

Beste Notlösung bleibt eine Notlösung
Eines ist Elena aber wichtig und dies betont sie: «Das hat nichts mit der Schweiz zu tun. Ferien könnte ich mir hier wirklich gut vorstellen», sagt sie. Und Mariia gefalle es sogar so gut, dass sie gerne hier bleiben möchte. «In der Schweiz ist vieles besser ausgebaut und fast barrierefrei für Mariia, alles hat seinen Platz, es ist sauber, die Landschaft ist wunderschön. Ich wünschte mir, die Ukraine wäre auch so. Aber ganz am Schluss ist es eben doch nicht mein Zuhause», sagt die 48-Jährige. Entsprechend wolle sie, sobald der Krieg beendet und die Russen nach Hause gegangen sind, auch wieder nach Hause, obwohl ihr bewusst ist, dass es kaum mehr sein wird wie zuvor.
Bis dahin hofft sie, sich auch in der Schweiz nützlich machen zu können. «Ich fühle mich machtlos. Ich möchte arbeiten, helfen, die Menschen unterstützen, die mir jetzt helfen», sagt sie. Am liebsten würde sie das Hotel und das Restaurant, in dem sie zurzeit lebt, wiedereröffnen und den Besitzern mit ihrer Hilfe ihre Dankbarkeit zeigen. Aktuell aber ist sie machtlos, sagt sie. «Zu Hause bin ich Physiotherapeutin. Ich habe sogar meine Liege hier. Wenn ein Schweizer eine Behandlung braucht – ich würde sofort helfen», erklärt sie. Das sagt sie auch, weil es finanziell schwierig ist für sie. Mariia brauche professionelle Hilfe für ihre Rehabilitation, die sie sich hier ohne Job nicht leisten kann. Und nicht zuletzt fehle ihr auch die Freiheit, die ohne ihre eigenen finanziellen Mittel in dieser ungewohnten Situation ebenso eingeschränkt ist.
Und so schliesst das Gespräch, wie es begonnen hat: Elena spricht einmal mehr von Traurigkeit und Hoffnung, sie spricht von Dankbarkeit und Hilflosigkeit. Und ab und zu lacht sie, als wäre der Schmerz, der mit ihren jüngsten Erlebnissen verbunden ist, bereits weit weg. Jetzt ist sie in Sicherheit, und dennoch prägt die Unsicherheit über die Zukunft ihre Gegenwart. Es sind krasse Gegensätze, von welchen sie hofft, dass sie sich bald in positive Gefühle auflösen werden.
«Für mich ergibt dieser Krieg keinen Sinn», wiederholt sie, ehe sie ergänzt: «Und deshalb hoffe ich, dass er bald vorbei ist.»

Von Leroy Ryser