• «Dort, wo man lebt, soll man sich auch engagieren, lautet mein Credo», begründet Erich Stamm seine oftmals kritischen Fragen, die kaum an einer Gemeindeversammlung fehlen. · Bild: Thomas Peter

  • «Ich würde vom Gemeinderat teilweise mehr fachliches Engagement erwarten.» · Bild: Thomas Peter

  • «Es ist gefährlich, wenn Gemeindebürger anfangen, bei politischen Geschäften das Denken auszuschalten.»

  • «Ich gebe durchaus zu, dass meinerseits auch eine gewisse Sturheit mitspielt.» · Bild: Thomas Peter

29.12.2021
Huttwil

Erich Stamm: «Es ist noch nicht Zeit, dass der Stamm aufhört zu politisieren»

Er zählt zu den Fixpunkten einer Huttwiler Gemeindeversammlung. Der 74-jährige Erich Stamm meldet sich praktisch an jeder Versammlung mit kritischen Anmerkungen zu Wort. Der «Unter-Emmentaler» wollte vom ehemaligen Gemeinderat wissen, weshalb er sich der Rolle des ewigen «Nörglers» und Kritikers verschrieben hat und was ihn antreibt, dem aktuellen Gemeinderat mit Argusaugen auf die Finger zu schauen.

Huttwil · Erich Stamm, was haben Sie gegen den Gemeinderat von Huttwil, dass Sie die Arbeit des Gremiums bei den Gemeindeversammlungen immer wieder kritisieren, wie zuletzt an der Budget-Gemeindeversammlung vom 1. Dezember?
Erich Stamm:
Gute Frage, ja, warum bin ich eigentlich so, wie ich bin (macht ein nachdenkliches Gesicht)? Ist meine Haltung auf genetische Veranlagung, auf meine Herkunft zurückzuführen oder weil ich ein Alt-68er bin? Man sagte mir, auch mein Grossvater hätte in der Gemeinde oft das Wort ergriffen ... Ich denke, es ist ein Gesamtpaket. Ich möchte aber gleich zu Beginn festhalten, dass ich nichts gegen den aktuellen Gemeinderat habe, aber ich reagiere, wenn ich das Gefühl habe, dass eine gewählte Person ein öffentliches Amt nicht so ausübt, wie dies meiner Meinung nach erforderlich wäre. Dann melde ich mich zu Wort. Zudem gab es auch Jahre, in denen ich den Gemeinderat sogar in seinen Aktivitäten und Beschlüssen unterstützt oder verteidigt habe.

Trotzdem, schauen wir doch gleich auf Ihren Hauptkritikpunkt bei der letzten Gemeindeversammlung: Beim Budget 2022 mit einem Defizit von 666 398 Franken hat Ihrer Meinung nach der Gemeinderat dem Huttwiler Stimmbürger nur die «halbe Wahrheit» erzählt.
In der Tat, denn Rechnung und Budget enthalten Zahlen, die nichts mit der realen Geldwirtschaft zu tun haben. So führen beispielsweise die höher bewerteten Liegenschaften im Gemeindebesitz zu einem besseren Ergebnis. Aber die höheren Liegenschaftswerte finden lediglich auf dem Papier statt, davon hat die Gemeinde rein gar nichts, mit diesem Mehrwert können weder Schulden abgebaut noch Investitionen getätigt werden, einzig und alleine die Rechnung sieht dadurch besser aus. Und diese Verbesserung benützt der Gemeinderat, um die aktuelle Situation als nicht so schlecht zu beurteilen. Schauen Sie, seit Jahren schon erzählt der Gemeinderat an den Versammlungen, dass bei der nächsten Klausur-Sitzung die Gemeindefinanzen ein Kernthema sein werden. Doch substanziell geschieht nichts. Bei den Gemeindefinanzen wird nach dem Prinzip Hoffnung politisiert. Rückblick:1993, als ich in den Gemeinderat kam und das Ressort Finanzen übernahm, habe ich mein Amt mit einem an der Urne abgelehnten Budget angetreten. Mit laufenden, transparenten und plausiblen Informationen gelang es uns, nebst einschneidenden Massnahmen, sogar zwei Steuererhöhungen beim Stimmvolk durchzubringen. Ich habe das Erstellen eines Finanzplanes ohne politische Scheuklappen stets wie ein chemisches Experiment betrachtet. Wenn das Ergebnis nicht stimmt, muss man immer wieder etwas ändern und alles neu durchrechnen, bis das Resultat akzeptabel ist.

Aber es sind ja nicht bloss die Hutt­wiler Finanzen, die Ihnen missfallen, Sie melden sich ja auch bei vielen anderen Themen immer wieder mit kritischen Worten. Verstehen Sie mich recht, dass ist Ihr gutes, demokratisches Recht und trotzdem fragt man sich, weshalb sich der Stamm immer wieder dermassen enerviert?
Dort wo man lebt, soll man sich auch engagieren, lautet mein Credo. Der aktuelle Gemeinderat besteht durch­wegs aus sympathischen Leuten, mir geht es einzig und alleine um die Amtsausübung. Hier spüre ich eine gewisse Selbstzufriedenheit. Ich würde jedoch von diesem Gremium teilweise ein bisschen mehr fachliches Engagement erwarten. Ich kann dazu ein Beispiel nennen: Haben wir in Huttwil schon je einmal vom Gemeinderat einen Vorschlag gehört, wie er gedenkt, als 100-Prozent-Eigner der IBH eine Aktionärs-Strategie zu formulieren und zum Beispiel den Solarstrom in der Gemeinde besser zu fördern? Ich könnte hier noch viele weitere Themen auflisten, bei denen es sich lohnen würde, wenn der Gemeinderat aktiver würde. Wenn dies aber nicht der Fall ist, sollte man dies auch ansprechen dürfen. Und ja, das tönt jetzt etwas gar hart, aber ich habe das Gefühl, dass der aktuelle Gemeinderat seine Aufgabe nicht in allen Teilen so wahrnimmt und ausübt, wie man dies als Bürger erwarten dürfte.

Böse Zungen in Huttwil behaupten, der Erich Stamm habe die Rolle des legendären Hans Vetter übernommen, der praktisch aus jeder Gemeindeversammlung ein persönliches Streitgespräch mit dem Gemeinderat machte.
Diese Formulierung ist übertrieben, aber darüber habe ich mir tatsächlich auch schon Gedanken gemacht, und ja, darauf kann man durchaus kommen. Nur, Hans Vetter hatte einen Umgangston, der viel mehr aneckte als meiner. Aber, im Grundsatz hatte er mit vielem recht, was er thematisierte, das wird heute von vielen so beurteilt. Ich möchte zudem festhalten, dass es nicht nur der Stamm ist, der kritisiert oder nicht einverstanden ist mit dem Gemeinderat. Bei der letzten Gemeindeversammlung beispielsweise hat immerhin ein Drittel der Anwesenden das vorliegende Budget 2022 abgelehnt und sich meiner Meinung angeschlossen und vor einem Jahr wurde meine Petition betreffend Fuss­gän­gerstreifen einstimmig angenommen.

Können Sie nachvollziehen, dass das ständige Kritisieren und «Nörgeln» auch als Misstrauens-Votum gegenüber dem Gemeinderat aufgefasst werden könnte, im Sinne, dass diesem Gremium nicht zu trauen ist und dass dadurch ein Klima des Misstrauens in der Gemeinde entsteht, das ein konstruktives Miteinander zwischen Behörden und Bevölkerung hemmt.
Ja, ein Stück weit stimmt diese Aussage. Aber ich stelle Fragen und mache Vorschläge. Es kommt halt auch auf die Qualität des Gemeinderates an. Das Prinzip Hoffnung, wie es der Gemeinderat scheinbar bei den Finanzen anwendet, ist für mich fachlich einfach ungenügende Arbeit. Aus diesem Grunde braucht es einzelne Bürger mit dem nötigen Sachverstand, die auf Unterlassungen in diesem Bereich aufmerksam machen. Ich verfüge über eine gewisse Sachkenntnis und erlaube mir deshalb, etwas zu sagen, weil es keine Schaumschlägerei ist. So selbstsicher bin ich heute und es spielt mir keine Rolle, was Leute darüber denken, die sich nicht mit der Materie beschäftigen. Ja, und darin kann letztendlich ein gewisses Misstrauen gegenüber der Arbeit des Gemeinderates gesehen werden.

Selbstverständlich gehört Kritik zum politischen Alltag, darf die Arbeit von Gemeindevertretern kritisch hinterfragt werden. Auf der anderen Seite darf ein demokratisch gewählter Amtsinhaber auch davon ausgehen, dass die Bevölkerung ihm ein gewisses Mass an Vertrauen entgegenbringt, dass er seine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen und zum Wohle der Allgemeinheit verrichtet, was bedeutet, dass man als Bürger nicht zu allen Arbeiten des Gemeinderates seinen «Senf» dazugeben muss, sondern gewisse Aufgaben und Arbeiten einfach «g'sorget gäh cha».
Das ist es ja genau, was mich so stört, dass viele einfach wegschauen und denken, die da machen das schon recht. Weil wir in Huttwil kein Parlament haben, das die Arbeit des Gemeinderates kritisch hinterfragt, braucht es einzelne Bürger, die diese Rolle übernehmen. Es ist gefährlich, wenn Gemeindebürger damit anfangen, bei politischen Geschäften das Denken auszuschalten. Wenn ich finde, dass ein Thema nicht oder ungenügend bearbeitet wird, spreche ich das an. Ich gebe aber durchaus zu, dass meinerseits, als Sternzeichen Stier, auch eine gewisse Sturheit mitspielt. Aber, wenn etwas besser gemacht werden könnte, sollte man es nicht einfach mit dem Hinweis bewenden lassen, dass der Gemeinderat schon wisse, was er tue.

Sie selber engagieren sich seit vielen Jahren in verschiedener Form für die Gemeinde Huttwil. Wie würden Sie reagieren, wenn Ihre Arbeit ständig von jemanden hinterfragt und kritisch betrachtet würde?
Ach wissen Sie, wenn man in der Öffentlichkeit steht, muss man mit Kritik rechnen und diese auch aushalten können, sonst darf man kein öffentliches Amt bekleiden. Ich bin schon oft kritisiert worden und einmal hat man mir auch vorgeworfen, dass ich undemokratisch vorgegangen sei. Aber, es ist schon so, dass die Kritik, die heute auf einzelne Amtsträger einprasselt mit ein Grund dafür ist, dass sich kaum noch Leute für ein öffentliches Amt zur Verfügung stellen.

Was ist denn eigentlich Ihre Motivation, dass Sie sich nach wie vor um Huttwil Sorgen, für die Gemeinde engagieren und die künftige Entwicklung der Gemeinde im Auge behalten?
Solange ich geistig noch fit bin und hier wohne, engagiere ich mich, weil es mich interessiert, was in meiner Gemeinde geschieht. Auch bin ich der Meinung, dass man bei problematischen Entwicklungen rechtzeitig reagieren sollte, ansonsten werden später drastischere Massnahmen nötig sein, dies gilt auch bei der Klimaveränderung. Deshalb ist es von Vorteil, frühzeitig und offen zu informieren. Es ist aber nicht so, dass die anderen immer alles falsch machen und der Stamm alles besser weiss und richtig macht. Mir geht es einfach darum, rechtzeitig auf mögliche Probleme aufmerksam zu machen, damit entsprechende Lösungen ebenfalls rechtzeitig erarbeitet werden können.

Dann werden Sie weiterhin dem Gemeinderat kritisch auf die Finger schauen?
Es ist noch nicht Zeit, dass der Stamm aufhört zu politisieren.

Sie waren selber im Gemeinderat tätig. Was glauben Sie, hat sich seither in der politischen Arbeit, aber auch in der Entwicklung der Gemeinde verändert, positiv wie negativ?
Mit dem Erhalt der Onyx-Millionen wurde dem Gemeinderat viel Druck weggenommen. Die Finanzlage der Gemeinde hat sich auf einen Schlag dramatisch verbessert. Damals, zu meiner Zeit als Gemeinderat, waren wir noch viel mehr operativ tätig, als es eigentlich angebracht gewesen wäre. In der Zwischenzeit wurden Kommissionen abgebaut und vieles vermehrt auf die Verwaltungsebene verschoben. Die Gemeindepolitik ist verwaltungslastiger geworden. Auch versuchen Gremien heute, sich mehrfach nach allen Richtungen abzusichern, statt einmal Entscheide zu fällen und eine gewisse Verantwortung zu übernehmen.

Blicken wir doch noch weiter zurück: Wann und wo sind Sie politisiert worden, ist Ihr Interesse an der Lokalpolitik geweckt worden?
Ich habe schon im Alter von 20 Jahren an Gemeindeversammlungen teilgenommen und mich politisch engagiert. Auch habe ich bereits in diesem Alter eine Vormundschaft übernommen. Ich habe mich also schon früh für Benachteiligte eingesetzt oder mich gewehrt, wenn ich das Gefühl hatte, dass etwas nicht so laufe, wie es sein sollte. In der Zeit nach 1968 bin ich politisiert worden. Aber auch bei meinem späteren Arbeitgeber, der Ciba Geigy in Basel, habe ich kritische Fragen gestellt, weil ich hier viel Ungereimtes festgestellt habe. Ich hatte damals das Gefühl, dass die mich schon im ersten Jahr entlassen werden. Am Ende war ich 20 Jahre lang in diesem Unternehmen tätig.

Wir bieten Ihnen hier eine Plattform: Sagen Sie uns, was sich in Huttwil künftig ändern, wie sich die Gemeinde entwickeln muss, damit sich auch kommende Generationen im «Städtli» heimisch und sorgenfrei fühlen.
Hoppla, auf diese Frage war ich nicht gefasst und ehrlich gesagt, habe ich mir das noch gar nicht überlegt (denkt kurz nach). Vieles hat sich in Huttwil in den letzten Jahren verändert und verbessert. Aber nach wie vor ist in der Bevölkerung eine konservative Grundhaltung spürbar. Ich wünschte mir deshalb, dass sich Huttwil und seine Bürger noch mehr öffnen würden. In diesem Bereich besteht ein grosses Entwicklungspotenzial. Man sollte auch offen dafür sein, wenn jemand von aussen kommt und neue Ideen hineinbringt. Was mich zudem stört, ist die Haltung vieler Gemeindebürger, dass sie sich bloss dann für das Gemeinwesen interessieren, wenn es das eigene Portemonnaie betrifft. Dabei wäre es angebracht, wenn sich jeder Bürger vermehrt um das Allgemeinwohl kümmern würde.

Was macht Erich Stamm, wenn er sich nicht gerade um Huttwil kümmert?
Seit zwölf Jahren haben wir mehrere Tageskinder, die wir betreuen. Mit ihnen machen wir Ausflüge und besuchen Spielplätze. Es ist für mich immer wieder interessant zu sehen, wo genau und wie lange sich Kinder auf einem Spielplatz aufhalten. Seit 20 Jahren organisiere ich auch Kulturaustauschprojekte mit lettischen Musikgruppen und  besuche immer wieder lettische Sängerfeste in Riga. Auch singe ich noch in zwei Chören mit. Daneben widme ich mich gerne dem biologischen Garten- und Rebbau.

Und wie fühlt sich Erich Stamm nach diesem Interview?
Einerseits: Ein Interview ist eine Momentaufnahme mit Spontancharakter. Hinterher denke ich oft, dieses hätte ich anders sagen sollen, jenes weglassen oder mit mehr Gewicht versehen sollen – aber gefragt ist gefragt und gesagt ist gesagt. Andererseits: Ich fühle mich gut, denn wir leben in einem Politsystem, wo wir unsere Meinung frei äussern können. Diejenigen, die in dieser speziellen Zeit von einer Diktatur Schweiz reden, sollten sich der Bedeutung dieses Wortes bewusst werden. Wäre die Schweiz eine Diktatur – ich würde schon morgen von der Bildfläche verschwinden. He Leute, wir können unsere Gegenwart und Zukunft beeinflussen und mitgestalten – macht mit, nehmt teil …

Walter Ryser im Gespräch mit Erich Stamm, Einwohner von Huttwil und ehemaliger Gemeinderat