• Die Schweiz verfügt über das dichteste Strassennetz weltweit. Unsere Strassen sind gebaut, jetzt geht es in erster Linie darum, diese künftig besser und cleverer zu nutzen. · Bilder: Thomas Peter

  • Der Schutz der Natur und unserer Umwelt rückt je länger desto mehr ins Bewusstsein der Bevölkerung.

  • «Es ist meine Vision, dass es uns gelingt, einen Weg zu finden, die Verkehrsströme besser und cleverer zu lenken, ohne dafür zusätzliches Land zu beanspruchen.»

  • Fredy Lindegger: «Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich die aktuellen Verkehrsprobleme in unserer Region mit einer Umfahrung lösen lassen. Stau und unhaltbare Verkehrszustände werden dafür an anderen Orten entstehen.»

28.06.2022
Oberaargau

Fredy Lindegger: «Verkehrsprobleme lassen sich mit einer Umfahrung nicht lösen»

Für den neuen Oberaargauer Grossrat Fredy Lind­egger hatte es die Sessions-Premiere in sich: Mit der Erteilung eines Kredites von 98 Millionen Franken für die Umfahrung Aarwangen wurde ein Thema behandelt, das beim 57-jährigen Roggwiler zu einer Herzensangelegenheit geworden ist. Der grüne Grossrat ist überzeugt, dass sich mit der geplanten Umfahrung die Verkehrsprobleme in und um Aarwangen nicht lösen lassen. Deshalb will er den Entscheid des Grossen Rates mit einem Referendum und einer anschliessenden Volksabstimmung bekämpfen. «Wir haben enorm viel Kulturland verbaut, jetzt ist genug. Die Strassen sind gebaut, nun geht es darum, diese besser und cleverer zu nutzen», sagt Lindegger dem Umfahrungs-Projekt den Kampf an.

Walter Ryser im Gespräch mit Fredy Lindegger, neuer Oberaargauer Grossrat (Grüne) aus Roggwil.

Fredy Lindegger, die erste Session als neuer Bernischer Grossrat ist überstanden. Wie hat sich die Premiere angefühlt?
Sehr spannend. Für mich war einiges neu, weil ich über keine Parlamentserfahrung verfüge. Vieles funktioniert hier komplett anders als beispielsweise im Gemeinderat. Das begann bereits mit der Fraktionssitzung vor der ersten Session, an der 20 Personen beteiligt waren. Das war für mich sehr interessant, zu sehen, wie dieses Gremium funktioniert. Ich habe mich aber schnell wohl gefühlt und gemerkt: Das passt, hier wollte ich hin. Auch die Atmosphäre unter den Parlamentariern behagte mir, diese war angenehm und ich habe viele sympathische Leute kennengelernt. Dazu wurde ich dann noch per Losentscheid als Stimmenzähler gewählt. Dadurch sitze ich im Rat ganz vorne, weg von meinen «Partei-Gspänli», was zum Start in mein neues Amt eine Herausforderung darstellte. Doch mittlerweile ha-be ich mich bereits daran gewöhnt.

Was hat Sie überrascht, was beeindruckt und was eventuell gestört?
Überrascht war ich vom Umfang der Unterlagen, die ich zur Vorbereitung auf die Session erhalten habe. Mehr als 1400 Seiten wurden mir zugestellt. Vieles davon blieb ungelesen, ich habe mich auf einige wenige Geschäfte fokussiert, die für uns relevant waren. Überrascht war ich auch, dass der Parlamentsbetrieb vollkommen papierlos abgewickelt wird. Erstaunt hat mich zudem, dass der gesamte Ratsbetrieb öffentlich ist. Alle Dokumente sind einsehbar und die Debatte im Rat kann via Audio-Übertragung verfolgt werden. Wer sich also für die Arbeit des Grossen Rates interessiert, kann diese sehr nah und detailliert mitverfolgen. Erfreut war ich, dass die Zweisprachigkeit auch im Parlament gelebt wird, das finde ich sehr wichtig. Die technischen Probleme bei der Übersetzung empfand ich dagegen als störend. Doch ansonsten kann ich keine negativen Punkte erwähnen, für mich war es ein gelungener Start in meine erste Amtszeit als Grossrat.

Weshalb haben Sie sich eigentlich entschieden, den Schritt auf das kantonale politische Parkett zu wagen?
Ich war Mitglied des Roggwiler Gemeinderates, doch in dieser Funktion kann man nicht gross politisieren. Später, als ich den Grünen beigetreten bin, habe ich rasch gemerkt, dass mir die politische Arbeit gefällt und ich diese gerne auch auf Kantonaler Ebene ausüben möchte.

Gleich in der ersten Session ging es um ein Thema, das mittlerweile für Sie zu einer Herzensangelegenheit geworden ist – die Umfahrung Aarwangen. Die Abstimmung, bei der die Räte mit 81 gegen 64 Stimmen einem Kredit von 98 Millionen Franken zum Bau der Umfahrungsstrasse zugestimmt haben, fiel allerdings nicht so aus, wie Sie sich das vorgestellt haben. Was stört Sie an diesem Projekt?
Was mich hier hauptsächlich stört, ist die Abwägung zwischen einem geplanten Eingriff in die Natur und dem daraus resultierenden Nutzen. Eine solche Abwägung ist gerade bei Verkehrsprojekten enorm schwierig vorzunehmen. Meiner Meinung nach ist das bei der Umfahrung Aarwangen nicht gut gemacht worden. Die vielen Einsprachen sind eine Folge dieses Versäumnisses. Wir sind deshalb der Meinung, dass eine solche Abwägung von anderer, neutraler Stelle hätte vorgenommen werden sollen. Bei diesem Projekt wurde zwar eine Mitwirkung durchgeführt, aber leider hat man nicht richtig hingehört. Der politische Wille fehlte, eine saubere Abwägung vorzunehmen.

Aber, Sie sind sich bewusst, dass die Situation in Aarwangen unhaltbar geworden ist?
Klar doch, die Situation in Aarwangen ist absolut unbefriedigend, nicht zuletzt auch deshalb, weil niemand etwas unternimmt. Stattdessen warten nun einfach alle auf das Projekt der Umfahrung. Dabei hätte man schon lange prüfen müssen, welche Sofortmassnahmen zu ergreifen sind. Denn Aarwangen braucht jetzt Lösungen und nicht erst in zehn Jahren, denn so lange dürfte es noch gehen, sollte die Umfahrung realisiert werden. Aus diesem Grunde haben wir im Grossen Rat eine Motion eingereicht, die fordert, die Sicherheit der Bevölkerung in Aarwangen mit Sofortmassnahmen zu erhöhen. Tempo 30, Sicherung von wichtigen Strassenüberquerungen durch Über- und Unterführungen, vorgezogene Massnahmen für den Lan-gsamverkehr oder Rückversetzung von Mauern sind nur einige Stichworte dazu. Viele Sachen, die möglich wären, sind jedoch nie diskutiert worden, stattdessen setzt man einfach auf die Umfahrung.

Die Grünen sprechen immer wieder von der Umwelt und der Natur. Was ist mit den Menschen, die gehören doch auch dazu. Viele Menschen in Aarwangen leiden unter der täglichen Verkehrslawine. Was sagen Sie diesen Leuten, weshalb Sie vielleicht – bei einer Annahme des Referendums – noch weitere 20 bis 30 Jahre unter diesen Bedingungen weiterleben müssen?
Diese Frage ist in der Tat nicht einfach zu beantworten. Aber schauen Sie, Verkehr werden wir auch in Zukunft haben. Es geht in erster Linie darum, diesen möglichst verträglich abzuwickeln. Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich die aktuellen Verkehrsprobleme in unserer Region mit einer Umfahrung lösen lassen. Stau und unhaltbare Verkehrszustände werden dafür an anderen Orten entstehen, die bisher vielleicht noch kaum belastet sind. Ich frage mich deshalb manchmal, ob es nicht besser wäre, den Verkehr einfach dort zu belassen, wo er bereits ist, weil sich die Leute damit arrangiert haben.

Die Grünen werden das Referendum gegen den Entscheid des Grossen Rates ergreifen. Rechnen Sie sich gute Chancen aus, bei einer erneuten Volksabstimmung zu reüssieren und die geplante Umfahrung verhindern zu können?
Ja, in der Tat rechnen wir uns bessere Chancen aus, weil die Zeit für uns arbeitet. Der Schutz der Natur und unserer Umwelt rückt je  länger desto mehr ins Bewusstsein der Bevölkerung. In der Schweiz wurde schon so viel Land verbaut, dass wir an einem Punkt angelangt sind, wo es einfach nicht mehr weiter geht, wir können nicht endlos von diesem Land konsumieren, weil dadurch auch immer wieder Teile der produzierenden Landwirtschaft verloren gehen. Die Schweiz verfügt über das dichteste Strassennetz weltweit. Unsere Strassen sind gebaut, jetzt geht es in erster Linie darum, diese künftig besser und cleverer zu nutzen.

Eine überwältigende Mehrheit der Aarwanger und ein Grossteil der Ober-aargauer Bevölkerung hat sich in einer ersten Volksabstimmung für die Umfahrung Aarwangen ausgesprochen. Als einer von der Oberaargauer Bevölkerung gewählter Grossrat stellen Sie sich mit Ihrem Vorgehen gegen die Umfahrung Aarwangen gegen die eigene Bevölkerung. Dieses Verhalten müssen Sie den Oberaargauerinnen und Oberaargauern erklären.
Das kann ich Ihnen sehr gut erklären, denn diese Überlegungen habe ich mir im Vorfeld meiner Kandidatur als Grossrat auch gemacht. Ich bin zwar von den Oberaargauerinnen und Oberaargauern gewählt worden, aber in erster Linie von den Grünen, die mir ihre Stimme gegeben haben, weil sie sich von mir erhofft haben, dadurch eine zusätzliche Stimme in Bern zu erhalten, die sich gegen das Projekt einer Umfahrung in Aarwangen einsetzt. Ich weiss aber auch, dass es mittlerweile sogar in der SVP Grossräte gibt, die dem Projekt sehr kritisch gegenüberstehen, sich aber nicht öffentlich gegen ihre Partei stellen.

Und, sollten Sie bei einer Volksabstimmung Erfolg haben, was schlagen Sie als Alternative zur Umfahrung vor?
Ich bin der Meinung, dass im Vorfeld nicht alle zur Verfügung stehenden Alternativen seriös geprüft worden sind. Ich bin jedoch realistisch, bei einem Nein zur Umfahrung gibt es keine grossen Würfe mehr, die sich realisieren lassen. Aber mit der Variante «null-plus» steht eine Lösung zur Verfügung, die sich in einem vernünftigen Zeitrahmen umsetzen lässt. Diese Variante sieht vor, die ASM-Bahn durch Aarwangen als Trambetrieb zu betreiben, beidseitig der Strasse. Mit dieser Variante wird zusätzlicher Platz geschaffen, der für Fussgänger und Velofahrer bessere Lösungen ermöglicht. Ich bin mir bewusst, dass dadurch kein Auto weniger durch Aarwangen fahren wird, aber der Verkehr würde mit dieser Variante deutlich flüssiger und damit verträglicher abgewickelt. Ich möchte ganz explizit darauf hinweisen, dass die ASM in Solothurn genau ein solches Projekt plant, einen Trambetrieb mitten in der Stadt über eine Strecke von 900 Metern.

Ist es nicht einfach etwas blauäugig, zu glauben, dass man in einem derart dichtbesiedelten Gebiet wie der Schweiz Verkehrsprobleme lösen kann, ohne dass dabei Natur und Umwelt tangiert oder beansprucht werden?
Ja, das kann man durchaus so sehen. Aber genau dies ist meine Vision, dass es uns gelingt, einen Weg zu finden, die Verkehrsströme besser und cleverer zu lenken, ohne dafür zusätzliches Land zu beanspruchen. Rein raumplanerisch betrachtet vertrete ich die Meinung, dass wir am richtigen Ort das Richtige bauen sollten, denn damit ermöglichen wir umweltverträgliche Lösungen.

Sollten Sie mit Ihrem Referendum Erfolg haben, wird das Thema Verkehrssanierung Aarwangen vorerst vom Tisch sein und vermutlich für lange Zeit von der politischen Agenda des Kantons Bern verschwinden. Die Probleme allerdings bleiben und werden sich weiter verschärften. Das nehmen Sie und Ihre Partei ganz bewusst in Kauf?
Genau das wollen wir vermeiden, deshalb verlangen wir auch mittels unserer Motion Sofortmassnahmen, wie ich bereits erwähnt habe. Wir streben in Aarwangen rasch Verbesserungen an. Ich bin zudem überzeugt, dass sich eine Variante «null-plus» selbst zum jetzigen Zeitpunkt noch schneller realisieren liesse als die Umfahrung, weil dafür keine aufwändigen Bauten erstellt werden müssen.

Mit Ihrer Haltung gegen die Umfahrung Aarwangen exponieren Sie sich stark und werden da und dort mit Kritik an Ihrem Vorgehen und an Ihrer Personen rechnen müssen. Wie gehen Sie damit um?
Zum Teil bekomme ich das zu spüren, wenn Leute, die mir begegnen, die Strassenseite wechseln (lacht). Ich muss lernen, gewisse Kritik und das Verhalten anderer Leute mir gegenüber wegzustecken. Bislang hielt sich die Kritik an meiner Person aber noch in Grenzen. Zudem muss man in meiner Lage auch ein gewisses Mass an Kritik ertragen und aushalten können.

Es gibt aber ganz bestimmt noch andere Themen, die Sie beschäftigen und für die Sie sich nun in Ihrem neuen Amt einsetzen werden?
Natürlich, so werde ich mich logischerweise auch im Bereich der Finanzpolitik engagieren, auch bei der Raumplanung, bei Verkehrsfragen, im Bereich Energie und Biodiversität.

Politik ist nur das halbe Leben. Was tun Sie, wenn Sie sich nicht mit Finanzen oder Strassen beschäftigen?
Ich habe einen Job und noch weitere Engagements, die mir am Herzen liegen. So betreue ich beispielsweise beim Schachklub Langenthal im Rahmen des freiwilligen Schulsports eine Anzahl Junioren. Ich bin seit 1980 Mitglied im Klub und spiele leidenschaftlich gerne am Brett, von Angesicht zu Angesicht mit meinem Gegner und nicht nur online. Das Engagement mit den Jugendlichen und das Spielen im Klub möchte ich weiter pflegen. Daneben bin ich auch ein Bewegungsmensch, fahre gerne Velo und bin im Winter gerne mit den Langlaufskis unterwegs.

Gibt es Wünsche oder Träume, die Sie gerne noch verwirklichen würden?
Eigentlich habe ich schon längere Zeit ein Sabbatical geplant. Doch das liegt nun nach meiner Wahl in den Grossen Rat vorerst nicht drin. Aber generell figuriert auf meiner Wunschliste keine grosse Australien-Reise, vielmehr sind es kleine Dinge, die ich gerne noch machen würde, beispielsweise einmal eine Tour-de-Suisse-Etappe mit dem Fahrrad nachfahren, das habe ich mir schon lange vorgenommen.

Was schätzen Sie an unserer Region ganz besonders?
Ein spannender Mix zeichnet unsere Region aus und eine überaus hohe Lebensqualität. Wir verfügen über viele Naturperlen und Erholungsräume, die es uns erlauben, auch einmal kräftig durchzuatmen.

Und zum Schluss noch diese Frage: Werden Sie später einmal auf dem Weg ins Berner Rathaus die Umfahrung Aarwangen benutzen?
(Lacht herzhaft) Das wird so nicht stattfinden. Für längere Strecken benutze ich den öffentlichen Verkehr, gelegentlich mache ich kürzere Auto-Fahrten via Car Sharing.