• Simon (hinten links), Barbara, Micha (vorne links) und Noel Stankowski verabschieden sich bald aus Wyssachen und wandern nach Manila aus. · Bild: zvg

02.07.2018
Oberaargau

Freuen auf ein «Leben mit weniger»

Barbara Stankowski kehrt der Wyssacher Idylle den Rücken und wandert mit ihrem Mann Simon und den Söhnen Micha und Noel nach Manila in dessen Slums aus. Die reformierte Pfarrerin freut sich auf das Loslassen und das Leben mit weniger materiellen Besitztümern. Gerade jetzt, wo der Abschied näher rückt, schwingt aber auch Wehmut mit.

Wyssachen · Was veranlasst einen Menschen – oder in diesem Fall eine Familie mit zwei Kindern – ein idyllisches Zuhause zu verlassen, um in Slums zu leben? Es ist die Frage, die aktuell auch Barbara Stankowski mehrmals beantworten muss. Seit Jahren ist sie von Asien begeistert, schon im Kindesalter plante sie eine Zeit, im Osten zu leben. Und nun, seit etwa anderthalb Jahren, weiss sie, dass sie sich diesen Traum erfüllen und in den Slums von Manila mit den Armen wohnen wird. Wahrlich ein krasser Kontrast. Auf der einen Seite das ruhige, naturnahe und «heimelige» Wyssachen, auf der anderen Seite die philippinische Hauptstadt mit mehreren darangewachsenen Städten und rund 15 Millionen Einwohnern, Armut und gerade in den Slums enorm dichter Bevölkerung. «Vermissen werden wir wohl den Platz, die Weite, die gute Luft und die Natur», sagt Barbara Stankowski deshalb passend. Weniger problematisch sei das Zurücklassen von Besitztümern. Die 38-Jährige sagt sogar, dass sie sich auf das «Leben mit weniger» freut. Viel zu besitzen könne auch eine Belastung sein, weshalb sie sich diese Veränderung wohltuend vorstellt.

Vier oder fünf Jahre sind geplant
Geplant ist es, dass die Familie Stankowski vier oder fünf Jahre inmitten der Slums von Manila lebt und danach in die Schweiz zurückkehrt. Dafür haben sie sich der Organisation «Servants für Asia’s Urban Poor» angeschlossen. Für ihren Unterhalt sind sie auf Spendengelder angewiesen. Klappt das Ganze aber nicht wie gewünscht, ist die Belastung zu hoch oder zwingt ein anderer Umstand die Familie zur Aufgabe, so sei dies ebenso möglich. «Eine Vertragsdauer besteht nicht, wir könnten auch früher heimkehren. Aber es wäre komisch, das ganze Leben hier nur für ein halbes Jahr aufzugeben», sagt die Wyssacher Pfarrerin.
Losgehen wird das Abenteuer am 20. August mit dem Flug nach Manila, dazwischen ist noch die Abschiedstour geplant, mitsamt Abschiedsgottesdienst am 8. Juli in der Kirche von Wyssachen. Daraufhin steht der Umzug an. Was nicht nach Manila mitgenommen wird, soll bei den Eltern eingestellt werden. Zuletzt wird die Familie noch eine Woche zelten gehen, um sich von den Strapazen der Vorbereitung zu erholen und dann dürften alle froh sein, wenn sie endlich das Flugzeug besteigen dürfen. «Wir wissen mittlerweile seit anderthalb Jahren, dass es so weit kommen wird. Es ist auch gut, dass es jetzt endlich losgeht», sagt Barbara Stankowski. Die Freude sei – insbesondere auch bei den Kindern – gross. «Wir gehen mit viel Dankbarkeit», erklärt die Pfarrerin und präzisiert: «Wir gehen nicht, weil uns beispielsweise die Winter zu kalt sind. Wir gehen, weil wir mit ärmeren Menschen unsere Zeit teilen und ihnen helfen wollen.» Dahinter stehe nicht zuletzt auch ihre Gesinnung, immerhin habe Jesus Christus auch viel Zeit mit den Menschen am Rand der Gesellschaft verbracht. Seinen Spuren will die Familie deshalb folgen. Etwas in dieser Art erleben zu dürfen, sei ein Privileg.

Zuerst die Sprache lernen
Spuren hinterlassen will auch die Familie Stankowski. Bis es aber so weit kommt, dauert es. Zuerst wollen sich Barbara und Simon mit ihren Kindern Micha und Noel anpassen, die Sprache lernen und die Kultur verstehen. «Das ist zentral. Um einen Dialog auf Augenhöhe führen zu können, muss man ihre Sprache sprechen. Erst danach kann man die Menschen dort richtig verstehen.» Erst in einem zweiten Schritt wollen die Stankowskis etwas bewegen. Und was das sein wird, wissen sie aktuell noch gar nicht. «Wir wollen zuerst die Bedürfnisse dieser Menschen kennen lernen. Ein Mensch in Not denkt vielleicht anders, als wir es erwarten.»
Grundsätzlich ist es nicht die Idee, Geld zu bringen, sondern gemeinsam mit den Armen und dem «Servants»-Team vor Ort die Lebensumstände der Slumbewohner zu verändern und zu verbessern. Es gehe darum, Zeit mit diesen Menschen zu verbringen und Beziehungen zu knüpfen. Und erst dann werde deutlich, welche Projekte auch nachhaltig etwas bewirken können.

Nur bedingt krasser Wechsel
Prägen wird die Zeit in Manila auch die beiden Jungs Micha und Noel. Bei einem Besuch im letzten Sommer reagierten sie aber mühelos auf den Ort, auch Gefahren hatten beim Entscheid für dieses Abenteuer nicht zu hoch gewogen. «Ich bin eigentlich eher ein ängstlicher Mensch», sagt Barbara Stankowski und hängt an, dass sie mehr Respekt vor dem Verkehr als vor der Kriminalität hat. «Unsere Organisation sendet seit 30 Jahren Menschen in die Slums von Manila, darunter auch Familien, und Probleme sind uns nicht bekannt», erklärt sie. Ausserdem sei die Vorstellung Unbeteiligter manchmal auch zu forsch. «Wir haben fliessendes Wasser, Strom und vielleicht sogar Internetverbindung. Und auch Handys sind ebenso verbreitet wie in der Schweiz», verrät Barbara Stankowski. Auch wenn sich das Leben verändern wird, so wolle man nicht etwa mit dem Ziel zu leiden nach Manila gehen. «Wir wollen so einfach wie möglich leben, zugleich muss es uns als ganze Familie dabei auch wohl sein.» Deshalb hat Barbara Stankowski derzeit keine Bedenken, wenn sie daran denkt, sich an eine andere Umgebung anzupassen.
Geplant ist übrigens auch, im Falle eines Aufenthalts von vier bis fünf Jahren zumindest einen Kurzaufenthalt von zwei bis vier Monaten in der Schweiz einzuschieben. Ein mehrmaliges Hin- und Her zwischen den beiden Ländern wird aber nicht angestrebt, obwohl gerade für die Gross-eltern die lange Trennung eine sehr harte und emotionale Zeit sein wird. «Nach 10 Jahren in Wyssachen ist der Abschied in mehreren Bereichen hart. Aber das ist auch gut so. Sonst hätten wir etwas falsch gemacht», sagt Barbara Stankowski. Sobald diese Zeit der zahlreichen Verabschiedungen aber beendet ist, gilt der Blick nach vorne auf ein Abenteuer, das sich zuerst vielleicht ein bisschen wie Ferien anfühlen wird, bald aber einmal zu einem neuen Alltag wird. «Wir freuen uns wirklich sehr darauf», sagt Barbara Stankowski. Auch wenn es schwer fällt dem idyllischen Wyssachen den Rücken zuzuwenden.

Von Leroy Ryser